Ran ans große Geld

USA Joe Biden muss den Reichtum umverteilen, sonst bereitet er dem nächsten Autokraten den Weg – und der wird klüger sein als Trump
Ausgabe 47/2020
Wenn der neue US-Präsident die Bürger nicht gegen die Oligarchen und Kleptokraten vereint, bleibt das Land gespalten
Wenn der neue US-Präsident die Bürger nicht gegen die Oligarchen und Kleptokraten vereint, bleibt das Land gespalten

Foto: Luke Sharrett/Bloomberg/Getty Images

Es trieb einem eine Träne ins Auge und die Hand ans Herz. In der Rede, in der Joe Biden seine Wahl zum nächsten US-Präsidenten akzeptierte, rief er zu Einheit und Heilung auf. Er werde alles daransetzen, „das Vertrauen der gesamten Nation zu gewinnen“. Ich hoffe nur, dass er das nicht wirklich gemeint hat. Wenn doch, dann haben die Liberalen nichts dazugelernt, seit Barack Obama 2008 die gleiche Rede hielt.

Inzwischen wurde es schon oft gesagt und geschrieben, aber wahr bleibt es dennoch: Die Vereinigten Staaten von Amerika sind fundamental gespalten. Sie sind gespalten zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, Unterdrückern und Unterdrückten. Mit Kleptokraten und Oligarchen lässt sich keine Einigkeit herstellen. Jeder Versuch, so zu tun, als wäre das möglich, ist zum Scheitern verurteilt. Heilung wird so nicht erreicht, sondern nur eine verschobene Polarisierung. Werden die Bürger nicht den Plutokraten – also den herrschenden Reichen – gegenübergestellt, dann kommt es stattdessen zu einer weiteren Polarisierung der Bürger.

Ich verstehe, dass in einer sentimentalen Nation solche Gemeinplätze wie die von Joe Biden für notwendig gehalten werden können. Aber ich fürchte, der Mann glaubt tatsächlich, was er sagt. Als er im vergangenen Jahr im Carlyle-Hotel in Manhattan mit reichen Wahlkampfsponsoren sprach, erklärte er nicht nur, dass „sich nichts grundlegend ändern wird“, sondern auch, dass „man in unserem System in der Lage sein muss, einen Konsens zu erreichen“. In diesem Zusammenhang wirkt der beschworene Konsens wie Beschwichtigung.

Obamas Versuch, unversöhnliche Kräfte zu versöhnen und Risse zu übertünchen, öffnete Donald Trump die Tür. Anstatt auf Konfrontationskurs gegenüber den Banken zu gehen, deren rücksichtslose Gier die Finanzkrise verursacht hatte, erlaubte Obama seinem Finanzminister Timothy Geithner, sie „in letzter Minute vor einer Katastrophe zu retten“, indem er zuließ, dass zehn Millionen Familien ihre Häuser verloren. Sein Justizministerium und der Generalstaatsanwalt blockierten Bemühungen, offensichtliches Fehlverhalten der Finanziers zu verfolgen.

Obama trieb Handelsabkommen voran, die die Rechte der Arbeitnehmer und die Umweltstandards untergruben. Zudem beförderte er die Entwicklung hin zu größerer Ungleichheit und wachsender Konzentration des Reichtums, den Trend zur Gelegenheitsarbeit sowie Fusionen und Übernahmen in Rekordhöhe. Mit anderen Worten: Es gelang ihm nicht, den Konsens zu brechen, der sich um die vorherrschende Ideologie unserer Zeit herum herausgebildet hat, den Neoliberalismus.

Politik ohne Zauberkraft

Der Politikwissenschaftler William Davies beschrieb den Neoliberalismus treffend als „Entzauberung der Politik durch Ökonomie“. Was gesellschaftliche Verbesserungen angeht, hält der Neoliberalismus die Politik für ein untaugliches oder unzulässiges Mittel. Entscheidungen sollen auf „den Markt“ übertragen werden, was in diesem Fall nichts anderes ist als ein Euphemismus für die Macht des Geldes. Durch Kaufen und Verkaufen schaffen wir demnach eine natürliche Hierarchie von Gewinnern und Verlierern. Jeder Versuch, sich in die Feststellung dieser natürlichen Ordnung einzumischen – wie Besteuerung der Reichen, Umverteilung des Reichtums und Regulierung der Wirtschaft – hemme den gesellschaftlichen Fortschritt.

Der Neoliberalismus nimmt der Politik die Zauberkraft, indem er den Wählerstimmen ihre Macht entzieht. Wenn Regierungen den Anspruch aufgeben, gesellschaftliche Gegebenheiten zu verändern oder soziale Gerechtigkeit zu erreichen, wird Politik für das Leben der Menschen irrelevant. Sie wird als das Geschwätz einer weit entfernten Elite wahrgenommen. Entzauberung bedeutet dann eine Entmachtung.

Bevor der Neoliberalismus den Finanzcrash 2008 auslöste, wurden seine Doktrinen von einem breiten politischen Spektrum als nicht hinterfragbar akzeptiert. Obama hatte die Chance, aus diesem Käfig auszubrechen. Er hätte gegen die Kräfte, die „der Markt“ verschleiert, ebenso angehen können wie gegen die daraus entstehende gesellschaftliche Spaltung. Doch er hat die Chance nicht ergriffen. Guter Wille und Anständigkeit allein können strukturelle Ungerechtigkeit nicht besiegen.

Trump eroberte das politische Vakuum im Sturm. Chaotisch und skrupellos griff er einerseits den neoliberalen Konsens an, indem er Handelsabkommen aufkündigte, stärkte ihn aber gleichzeitig an anderer Stelle. Entscheidend ist: Er war ein Monster, das dieser Konsens geschaffen hatte. Sein Erfolg war ein Produkt der Fake-Einigkeit und Fake-Heilung durch die politische Übereinkunft der Elite. Als die Mainstream-Politik nichts weiter anbot als Demütigung und Frustration, wandten sich die Menschen einer aggressiven demagogischen Antipolitik zu.

Seit seiner Zeit als Obamas Vizepräsident ist Biden nach links gerückt. Sein Programm enthält einige starke politische Positionen. Aber es zeugt auch von dem Unwillen, sich gegen die Geldgeberklasse zu stellen. Seine „Saubere-Energie-Revolution“ – massive Investitionen in erneuerbare Energien und eine umweltfreundlichere Infrastruktur – macht bei der Verhinderung eines Klimakollapses auf halber Strecke Halt. Ohne ein Konzept, das schmutziger Infrastruktur ein Ende setzt und fossile Brennstoffe im Boden belässt – mit anderen Worten, ohne die direkte Konfrontation mit dem fossilen Kapital –, wird sein Programm weniger wirksam sein, als er erwartet oder uns glauben macht.

Bidens Unterstützungspläne für kleinere Unternehmen sind positiv, aber sie bedeuten nicht viel, wenn er nicht gleichzeitig die großen Konzerne zerschlägt, angefangen mit den größten US-Technologie-Unternehmen (Big Tech). Biden hat versprochen, die Reichen stärker zu besteuern. Doch die Plutokraten werden ihn auslachen, solange er den Steueroasen und der Verschwiegenheitspolitik nicht wirklich den Kampf ansagt, beginnend in seinem Heimat-Bundesstaat Delaware. Wenn der neue Präsident die Bürger nicht gegen die Oligarchen vereint, die die Nation beherrschen, werden die USA gespalten bleiben und die Menschen sich weiterhin gegeneinander wenden.

Die Umstände legen Biden Fesseln an. Schaffen es die Demokraten nicht, bei der Stichwahl am 5. Januar beide Senatssitze in Georgia zu gewinnen, steht Biden einem ablehnenden Oberhaus gegenüber. Trumps Ernennungen sorgen außerdem dafür, dass nicht nur der Oberste Gerichtshof, sondern auch viele Bundesrichter versuchen werden, progressive Maßnahmen zu vereiteln. Zudem muss Biden einen Großteil seiner Zeit auf die Bekämpfung der Pandemie und der durch sie verursachten wirtschaftlichen und sozialen Krisen verwenden.

Der Möchtegerndiktator

Die USA haben mit Donald Trump noch Glück gehabt. Diese Aussage mag verwundern. Aber in gewisser Weise ist etwas dran: Trump ist machtbesessen und besitzt weder Gewissen noch Einfühlungsvermögen, gleichzeitig ist er impulsiv und inkompetent. Und er hat es versäumt, ein klares Programm zu verfolgen. Kurz: Er war ein hoffnungsloser Möchtegerndiktator. Und glücklos dazu: Ohne die Pandemie hätte er vielleicht wieder gewonnen. Dennoch hat er den Weg markiert, möglicherweise für jemanden, der effektiver ist als er; jemanden, der wie Trump keine moralischen Grenzen kennt, aber ein klares Programm und einen kühlen, strategischen Kopf besitzt.

Wenn es Biden nicht gelingt, den neoliberalen Konsens zu brechen, könnte das 2024 einem kompetenten Autokraten die Tür öffnen. In der Politik-Zeitschrift The Atlantic nennt Zeynep Tufekci einige plausible und erschreckende Kandidaten: Josh Hawley, Senator Tom Cotton oder auch die QAnon nahestehende Lauren Boebert. Bevor wir Lösungen suchen, müssen wir uns der Möglichkeit stellen, dass die US-Politik nicht zu retten ist. Das politische System ist per Verfassung mit einem Schloss versehen; es ist der Macht des Geldes verpflichtet, verstärkt noch durch die katastrophale Citizens-United-Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die die Deckelung politischer Spenden durch Lobbyisten aufhob. Vielleicht ist das System unheilbar verwirrt, seine Protagonisten verängstigt und wütend. Falls es eine Lösung gibt, dann muss sie der Politik auf jeden Fall wieder Zauber einhauchen.

Wie könnte das aussehen? Denkbar wäre ein lautstarker, radikaler Linkspopulismus, der gegen Milliardäre, das große Geld in der Politik, den Abbau des Sozialsystems, gegen Wirtschaftskriminalität und für eine radikale Umverteilung von Reichtum und politischer Macht kämpft. Dieser müsste sich an einem hinderlichen Senat und Obersten Gerichtshof vorbei direkt an die Bevölkerungsmehrheit wenden. Zudem gilt es, eine gesellschaftliche Bewegung aufzubauen, die breiter ist als die Demokratische Partei und ihre Basis nicht nur nutzt, um Wahlen zu gewinnen, sondern um politischen Wandel durchzusetzen.

Auch wenn Biden ein politisches Chamäleon ist und ich die Hoffnung nicht zu schnell aufgeben möchte, fällt es doch schwer, ihn diese Rolle übernehmen zu sehen. Es mag pessimistisch klingen, aber ich fürchte, dass seine Präsidentschaft nur ein Interregnum sein wird zwischen etwas Schrecklichem und etwas noch viel Schlimmerem.

George Monbiot ist Kolumnist des Guardian

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

George Monbiot | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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