Sanderista aus San Juan

Porträt Carmen Yulín Cruz ist Bürgermeisterin der Hauptstadt Puerto Ricos und macht Donald Trump eine Ansage
Ausgabe 40/2017
Carmen Yulín Cruz wirft der US-Regierung vor, sich bei ihrer Nothilfe zu lange mit Bürokratie aufzuhalten
Carmen Yulín Cruz wirft der US-Regierung vor, sich bei ihrer Nothilfe zu lange mit Bürokratie aufzuhalten

Foto: Joe Raedle/Getty Images

Ihre Stadt liegt in Trümmern, da hat San Juans Bürgermeisterin Carmen Yulín Cruz eigentlich keine Zeit für einen persönlichen Streit mit Donald Trump. „Meine Zeit gehört allein den Menschen, die Hilfe brauchen“, sagte sie dem Nachrichtensender MSNBC am vergangenen Freitag. „Hier geht es nicht um mich oder um irgendjemanden. Hier geht es um Menschen, die ihr Leben verlieren. Das ist eine Zeit, in der jeder sein wahres Gesicht zeigt.“

Trump zeigte seines am Tag darauf, als er auf Cruz zu schimpfen begann, nachdem sie die Ineffizienz Washingtons bei der Wiederaufbauhilfe nach zwei Wirbelstürmen scharf kritisiert hatte. „Führungsschwäche“ und „Undankbarkeit“ warf Trump ihr vor, Cruz sei „fies“ und lasse sich politisch instrumentalisieren. Politiker auf Puerto Rico würden erwarten, dass andere alles für sie erledigten.

Cruz selbst hingegen zeige das Gesicht, das man von ihr gewohnt sei, berichten Leute, die sie kennen. „Sie ist sehr direkt und verlangt von niemandem etwas, wozu sie selbst nicht ebenfalls bereit wäre“, sagt Luis Vega, der im Abgeordnetenhaus von Puerto Rico sitzt. „Sie ist zu ungeduldig, um sich lange mit Bürokratie aufzuhalten, und das ist genau, was wir im Augenblick brauchen.“

Die bereits einmal wiedergewählte Bürgermeisterin der Hauptstadt ist nun vielleicht zur lautesten und sichtbarsten Stimme des US-Außengebietes Puerto Ricos geworden, das nach den Hurrikans Irma und Maria mit gewaltigen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Die Wirbelstürme haben die Insel verwüstet und dafür gesorgt, dass praktisch die gesamte Bevölkerung von der Elektrizitäts- und Trinkwasserversorgung abgeschnitten ist. „Was wir erleben werden, wird nah an einen Genozid heranreichen“, sagte Cruz über die in den Augen vieler unangemessene Reaktion auf die humanitäre Krise im Land. „Mr Trump, ich flehe Sie an, das Kommando zu übernehmen und Leben zu retten“, fügte sie hinzu, um adäquate Hilfe von Seiten der Bundesregierung in Washington, D. C., einzufordern.

Obwohl Cruz 2012 erst recht spät und eher überraschend für die Oberbürgermeister-Wahlen kandidierte, gewann sie mühelos gegen den langjährigen Amtsinhaber und wurde San Juans dritte Frau an der Rathausspitze. Cruz hatte sich vor ihrer Kandidatur bereits 20 Jahre lang in der puerto-ricanischen Politik engagiert. Sie begann 1992 als Beraterin von San Juans damaligem Bürgermeister.

Selbst war sie 2012 mit einem Programm angetreten, das fortschrittliche Gesellschaftspolitik verspricht, Rechte für LGBT und Menschen mit Behinderungen, Geschlechtergerechtigkeit und eine umfassende öffentliche Gesundheitsversorgung. Bürgerbeteiligung steht im Zentrum ihrer Amtszeit. Seit sie im Rathaus sitzt, testet die Stadt das Modell eines Bürgerhaushaltes. Cruz gehört der Mitte-links verorteten Partido Popular Democrático an, die dafür eintritt, dass der Freistaat den gegenwärtigen Assoziierungsstatus mit dem US-amerikanischen Festland beibehält, während andere Parteien sich für eine vollständige Unabhängigkeit starkmachen. 2016 widmete Cruz ihren Wahlsieg Oscar López Rivera, der wegen seiner Mitgliedschaft in der radikalen puerto-ricanischen Unabhängigkeitsbewegung, die in den 1970ern auf dem US-Festland Anschläge verübte, umstritten ist.

Die von Bernie Sanders ins Leben gerufene US-Lobbygruppe Our Revolution beschrieb Cruz’ Wahl als „Ergebnis der Bemühungen von Basisorganisationen, die in einer noch nie da gewesenen Allianz aus verschiedenen Gruppen resultiert, die traditionell vom demokratischen Prozess ausgeschlossen waren“. Der Abgeordnete Vega sagt: „Sie ist eine resolute Person. Ich bin ihr Freund und Verbündeter. Wir hatten auch schon Streit miteinander, denn wir sind beide sehr eigensinnig. Aber noch nie war ich stolzer auf sie als heute.“

1963 in San Juan geboren, war Cruz bereits in ihrer Schulzeit eine Führungsfigur und eine streitbare Persönlichkeit, sie machte sich als Vorsitzende der Schülervertretung und hervorragende Leichtathletin einen Namen, bevor sie in den 1980ern aufs US-amerikanische Festland kam, um dort das College zu besuchen. Zwölf Jahre lebte Cruz dort, die meiste Zeit studierte sie Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Boston University und am Heinz College of Information Systems and Public Policy der Carnegie Mellon University. In ihrer Zeit dort war sie die erste Studentin, die den „Spirit Award“ gewann, der mittlerweile jährlich an den Studenten oder die Studentin mit „dem größten positiven Einfluss auf die Lebensqualität“ Mitstudierender geht. „Sie ist eine Naturgewalt“, erklärte der Vize-Dekan der Fakultät gegenüber der Pittsburgh Gazette. „Wahrscheinlich nicht viel größer als 1,50 Meter, aber ein unglaubliches Energiebündel und sehr charismatisch. Sie hat Führungsqualität.“

Ein bisschen etwas davon war im Roberto Clemente Coliseum in San Juan zu sehen, wo vergangenen Freitag Rettungs- und Wiederaufbauarbeiten koordiniert wurden. Mit Tränen in den Augen begrüßte Cruz die Anwesenden und machte zugleich keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung darüber, wie die Hilfen bislang gelaufen sind. Zu Mittag hatte sie erst um halb vier nachmittags gegessen, kurz vor der Rede, die Trumps Unmut erregte.

Es besteht wenig Grund zu der Annahme, dass Trumps Äußerungen Cruz daran hindern werden, weiter offen ihre Meinung zu sagen. „Ich habe genug davon, höflich zu sein“, kündigte sie selbst an. „Und ich habe genug davon, politisch korrekt zu sein. Ich bin stinksauer und bitte die Pressevertreter, einen Notruf um die Welt zu schicken.“

Jamiles Lartey und Amanda Holpuch arbeiten als USA-Reporter für den Guardian

Übersetzung: Holger Hutt

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Geschrieben von

Jamiles Lartey, Amanda Holpuch | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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