Was vom Hause übrig blieb

Afghanistan Tausende Familien fliehen vor den Kämpfen zwischen Regierungstruppen und den Taliban bei Kandahar
Ausgabe 11/2021
Vielen ist egal, wer an der Macht ist, sie wollen einfach nur ein Ende des Kriegs
Vielen ist egal, wer an der Macht ist, sie wollen einfach nur ein Ende des Kriegs

Foto: Marcus Yam/Los Angeles Times/Getty Images

Ständigem Beschuss ausgesetzt, hatten sich die Bewohner des südafghanischen Dorfes Spairwan zwei Tage und zwei Nächte lang in ihren Häusern verschanzt. Dann plötzlich tauchten die Taliban auf und verlangten von ihnen, sie müssten ihr Zuhause, ja das gesamte Gebiet ringsherum, umgehend verlassen. Babrak Qayoom und seine Familie gehören seither zu den gut zehntausend Familien, die seit Anfang des Jahres aus ihren Häusern in der Provinz Kandahar vertrieben wurden. Dazu kam es besonders Ende Januar und Anfang Februar, als Truppen der Nationalarmee und die Taliban um diese Region im Süden Afghanistans mit einer Verbissenheit kämpften wie seit Jahren nicht mehr.

Babrak Qayooms Unterkunft besteht nun aus ein paar großen, über kalter, nackter Erde gespannten, von Seilen gehaltenen Tüchern. Eine Art Schutzzelt, wie sie die Regel sind in diesem Camp für Binnenvertriebene (IDP) am Rand der Provinzhauptstadt Kandahar. Nicht im Geringsten hält das Provisorium den eisigen Windstößen eines kalten Winters mit ständigen Nachtfrösten stand, wenn die Temperaturen auch am Tag unter dem Gefrierpunkt liegen. „Innerhalb von wenigen Stunden befand sich unser Dorf praktisch genau auf der Frontlinie, an der sich die Soldaten und die Taliban gegenüberstanden“, erzählt der Vater von fünf Kindern erregt. „Wir konnten unsere Häuser nicht verlassen. Wer nur einen Fuß vor die Tür setzte, musste damit rechnen, von beiden Seiten her beschossen zu werden. Nicht einmal mit frischem Wasser konnten wir uns versorgen. Dann nahmen die Taliban das Dorf ein und gaben ihre Befehle. Sie hörten niemanden lange an, der darum bat, doch Gnade walten zu lassen. Dabei waren wir weder ihre Feinde, noch hatten wir uns irgendwie an den Gefechten beteiligt – wir wollten einfach nur weiterhin dort leben, wo wir hingehörten, aber sie wiesen uns ab und setzten durch, was sie wollten.“

Alles geplündert

Seit September 2020 erfassen die Kämpfe ein stetig wachsendes Territorium in der Provinz Kandahar, ausgelöst wurden sie vermutlich durch den Beginn von Friedensgesprächen zwischen den Aufständischen und einer afghanischen Regierungsabordnung in Doha. Längst sind die Verhandlungen dort ins Stocken geraten, kamen sie doch bisher über den gemeinsamen Beschluss zu einer Themenagenda nicht hinaus.

Seit mehr als einem Jahrzehnt standen Kampfverbände der Taliban nicht mehr so unmittelbar davor, die Provinzhauptstadt in ihrem früheren Kernland einzunehmen. Bisher half die Luftunterstützung der Air Force der afghanischen Armee, die Stadt zu halten. Doch angesichts der Ungewissheit über die Entscheidung der USA, ob sie ihr Restkontingent von 2.500 Soldaten bis zum 30. April vollständig abziehen oder nur einen Teil davon oder dieses Korps vorübergehend sogar aufstocken, besteht die begründete Annahme, dass die Taliban verstärkt US- und NATO-Truppen angreifen werden. Sie bestehen darauf, dass es keine Abstriche an dem im Februar vergangenen Jahres mit den USA unterzeichneten Friedensabkommen gibt. Das heißt, es soll beim vereinbarten völligen Abzug bleiben, Deadline bekannt.

Sein Dorf wegen der Kämpfe verlassen zu müssen, war für den 40-jährigen Babrak Qayoom und seine Familie traumatisch. „Die Hauptzufahrtstraße war blockiert, kein Weg schien mehr sicher“, erinnert er sich. „Wir alle hatten in diesem Augenblick große Angst.“ Mit wenig mehr als den Kleidern, die sie auf dem Leib trugen, ohne einen Vorrat an Lebensmitteln, schafften sie es, sich in Sicherheit zu bringen. Jetzt lebt die Familie unter extrem entbehrungsreichen Bedingungen und muss darum bangen, versorgt zu sein. „Ich bin deshalb noch einmal in mein Dorf zurückgegangen“, erzählt Qayoom, „weil wir so viel von unseren Sachen zurücklassen mussten. Vor allem wollte ich Essensvorräte aus dem Haus ins Lager schaffen. Aber ich fand nichts mehr, alles war geplündert. Ich besaß dort eigenes Farmland und kann nur hoffen, es bald wieder bestellen zu können. Nur wann? Es ist uns egal, wer an der Macht ist. Wir wollen nur, dass der Krieg um uns herum endlich aufhört.“ Als er sich erhebt und davongeht, fällt sein schwerer, schleppender Gang auf, als wüsste er nicht, wohin er noch gehen soll.

Versteckte Sprengsätze

Wie Dost Mohammad Nayab, der Leiter von Kandahars Flüchtlings- und Rücksiedlungsbehörde, berichtet, haben von den gut zehntausend vertriebenen Familien in der Provinz bisher nur etwa 5.500 Hilfe erhalten. Familienvater Najibullah, der im selben Camp gestrandet ist wie Babrak Qayoom, schildert, wie seine jüngste Tochter, fünf Jahre alt, in seinen Armen starb, als er das Dorf Sangsar im Bezirk Zhari verlassen musste. „Ich weiß nicht, woran genau das Kind gestorben ist. Vielleicht blieb das Herz stehen. Die Kleine hat sich nicht mehr bewegt. Was passierte, war einfach zu viel.“ Er wischt sich die Augen.

Gemeinsam mit seiner Frau Khatima begrub er die Tochter am Straßenrand statt in einem Familiengrab. Neben seiner Trauer muss Najibullah jetzt mit den harten Bedingungen in einem annähernd 4.000 Quadratmeter großen Camp klarkommen, in dem mehr als 250 Familien untergebracht sind – keine leichte Aufgabe, hier fünf Kinder warm und satt zu bekommen. Nur ein kleiner Wassertank, oft tagelang nicht aufgefüllt, versorgt das gesamte Lager.

Die 25-jährige Gulsima, geflohen aus der Gemeinde Spairwan, muss hier ein erst sechs Monate altes Kind durchbringen. Sie erzählt: „Die Kämpfe begannen morgens und dauerten bis zum Nachmittag, dann hatten alle das Dorf verlassen. Wir hörten die Geräusche von Schießereien und die Geschütze dröhnten, als wir flohen und es nur noch schnell gehen musste. Alles, was wir besaßen, haben wir zurückgelassen. Hier bekamen wir Säcke mit Weizen, damit wir unser Brot backen können, aber selbst Weizen gibt es nicht genug.“

Ein Patient des Mirwais-Krankenhauses im Zentrum der Stadt Kandahar ist der 19-jährige Ehsanullah, die Hände mit dicken weißen Bandagen umwickelt. Die Finger des jungen Mannes wurden von einem Sprengsatz abgerissen, als er in Tarinkot – der Ort liegt in der Nachbarprovinz Uruzgan – in den Trümmern des Hauses seiner Familie nach Habseligkeiten suchte. Er ist überzeugt, dass die Taliban die Sprengfalle hinterlassen haben. „Als unser Dorf angegriffen wurde, flohen wir in einen anderen Bezirk. Aber wir fanden in dieser Gegend als Flüchtlinge kein Auskommen. Wir hatten schlichtweg kein Geld, um die Miete für das uns zugewiesene Zimmer bezahlen zu können. Daher haben wir versucht, nach Hause zurückzukehren“, erklärt Ehsanullah seine Situation. „Bevor unser Haus bei einem Luftangriff getroffen wurde, hatten wir sechs Zimmer. Bei unserer Rückkehr standen noch zwei davon.“ Jetzt muss die Familie mit dem auskommen, was vom Hause übrig blieb.

Mohammad Ismail ist Vorsitzender eines Rats von Dorfvorstehern, der sich täglich trifft. Man habe die Regierung dringend aufgefordert, vertriebene Familien in großer Not zu unterstützen. Sie sollten nicht das Gefühl haben, sich selbst überlassen zu bleiben. „Die Taliban nutzen das aus, und sie nutzen die Häuser der Leute als Checkpoints, als Büros oder Herberge.“ Sie würden das tun, damit die Regierungstruppen sie nicht gezielt angreifen, glaubt Ismail. Sowohl afghanische als auch amerikanische Soldaten würden bereits für den Tod von Zivilisten verantwortlich gemacht. Sie müssten vorsichtig sein.

Ismail glaubt gezielte Zerstörungsakte der Taliban-Kämpfer zu erkennen, die sich gegen Häuser, Schulen, Märkte, Brücken und Straßen richten. Außerdem würden sie in den von ihnen eroberten Gebieten improvisierte Sprengsätze verstecken, um einen möglichen Vormarsch der Regierungstruppen zu bremsen. Eine Aussage, wie sie von vielen Zivilisten bestätigt wird.

„Ein Mann aus meinem Dorf wurde durch eine Sprengfalle auf seinem Feld getötet. Das passiert überall in Kandahar“, meint Ismail. „Sobald die Taliban ein Dorf erobert haben, können die Menschen unmöglich dort wohnen bleiben. Acht Familien, die aus ihrem Heimatort vertrieben wurden, leben jetzt hier sogar in einer Moschee.“ Eine schwangere Frau, die sich vor einem Angriff auf ihr Dorf in Sicherheit brachte, habe dort ihr Kind geboren. Der Dorfvorsteher hat keinen Zweifel: „Wenn die Amerikaner abziehen, dann bricht das Land zusammen. Es wird jemandem in die Hände fallen, der nur darauf wartet, die Macht an sich zu reißen.“

Abzug besiegelt

Vertrag Am 1. März 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban in Doha ein „Abkommen über die Rückkehr zum Frieden in Afghanistan“.

Die USA verpflichteten sich:
Binnen 135 Tagen werden 13.000 US-Soldaten auf 8.600 verringert, proportional dazu die Verbände anderer NATO-Staaten reduziert. Bis 30. Juni 2020 sind fünf Militärbasen komplett zu räumen, bis zum 30. April 2021 sämtliche ausländischen Truppen abzuziehen.

Die Taliban verpflichteten sich:
Zu garantieren, dass von Afghanistan keine Gefahr für die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten mehr ausgeht, dafür zu sorgen, dass es im Land nie wieder Basen für terroristische Gruppen geben wird und diese daran gehindert werden, Kämpfer zu rekrutieren und auszubilden.

Beide Seiten erklärten:
Zweierlei bleibt innerafghanischen Verhandlungen vorbehalten – ein Waffenstillstand und eine Regelung über die künftige Verteilung der politischen Macht in Afghanistan.

Charlie Faulkner ist freie Journalistin und Fotografin, sie lebt derzeit in Afghanistan. Abdul Matin Amiri hat sie bei ihren Recherchen in Kandahar unterstützt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Charlie Faulkner, Abdul Matin Amiri | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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