Ein kandierter Apfel und die Frage: Hätte das Geld nicht ein Kind retten können?
Illustration: Bratislav Milenkovic/The Guardian
Viele Jahre fragte sich Julia Wise, ob sie jemals einen anderen Menschen treffen würde, der so denkt wie sie. Alle, die sie kannte, hielten ihre Vorstellungen von Moral für befremdlich. Einige räumten ein, sie könne vielleicht recht haben, aber sie waren selbst nicht bereit, die Opfer zu bringen, die Julia brachte. Andere fanden ihre Ansichten fehlgeleitet oder schlicht falsch. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass alle anderen danebenlagen und nur sie allein recht hatte? Gleichzeitig war Julia diese Frage aber auch suspekt: Schließlich wäre es für sie sehr bequem, falsch zu liegen – sie müsste dann nämlich nicht mehr so viel abgeben.
Weil jeder Mensch gleich viel wert ist, glaubt Julia, sie habe kein Recht, sich mehr um sich zu k&
n Recht, sich mehr um sich zu kümmern als um irgendeinen anderen Menschen. Sie fühlt sich daher verpflichtet, einen Großteil ihres Lebens zum Wohle anderer zu arbeiten. Das ist der Kerngedanke, aus dem sich alles andere ableitet. Als Julia älter wurde, arbeitetete sie die Implikationen dieses Prinzips detaillierter heraus.Während sie aufs College ging, dachte sie noch, sie würde einmal irgendwo im Ausland als Entwicklungshelferin arbeiten. Doch dann wurde ihr klar, dass sie anderen viel nützlicher sein konnte, wenn sie in den USA blieb, dort arbeitete und ihr Geld NGOs zukommen ließ. Diese könnten damit Leute vor Ort bezahlen, die besser als sie wüssten, was die Menschen in den jeweiligen Ländern brauchen. Sie reduzierte ihre Ausgaben auf das absolute Minimum, so dass sie die Hälfte ihres Gehalts spenden konnte. Sie spendete immer derjenigen Wohltätigkeitsorganisation, die sie für die effizienteste hielt, die mit den geringsten Mitteln die größte Not linderte.Eine gewisse RigiditätJulia ist jung, 30 Jahre alt. Sie ist aber nicht so jung, dass man ihre Jugend für ihre Ansichten verantwortlich machen könnte. Trotz ihrer Genügsamkeit ist sie keine Asketin. Sie liebt Feuerwerke und Eiscreme. Sie kocht gerne, näht gern und bastelt aus Stoffresten altmodische Hüte. Geld zu spenden verschafft ihr hingegen keine Befriedigung. Es ist für sie eine reine Pflicht.Julia ist keine jener Teilzeit-Altruisten, die sich in ihrem Brotjob oder in ihrer Freizeit ein wenig für andere engagieren, danach aber wieder in ihr gewöhnliches Familienleben zurückkehren. Sie will so moralisch leben wie nur irgend möglich und investiert dafür mehr, als vielen anderen vernünftig erscheint.Altruisten besitzen ein starkes Pflichtgefühl. Es ist so stark ausgeprägt, dass es ihnen ermöglicht, die meisten ihrer eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken, um das zu tun, was sie für richtig halten. Das verleiht ihrem Leben eine gewisse Rigidität und Fokussiertheit. Im Vergleich mit ihnen kann die Existenz ihrer Mitmenschen leicht schlaff und planlos erscheinen. Die Sorge um Fremde, eine gewisse Distanz zur eigenen Familie, um sich um die Fremden kümmern zu können, Gleichgültigkeit gegenüber einfachen Genüssen – all das kann schnell abgehoben wirken und den Altruisten von seinen Mitmenschen trennen.Für gewöhnlich tut man Gutes, indem man denjenigen hilft, die einem nahestehen: Ein Mensch wächst an einem bestimmten Ort auf, merkt, dass dort etwas schiefläuft und versucht, die Dinge in Ordnung zu bringen. Oder die Arbeit eines Menschen verlangt von ihm plötzlich einen gewissen Heroismus. Es gibt aber auch noch eine andere Sorte Menschen, bei denen es mit etwas Abstrakterem beginnt – dem Gefühl, dass es in der Welt nicht gerecht zugeht, und eine Sehnsucht nach dem Guten als solchem.Diese Menschen fühlen sich verpflichtet, gegen das Unrecht zu kämpfen und Leiden zu lindern, ihnen ist aber nicht von vornherein klar, wie sie das anstellen sollen. Sie haben nicht das Gefühl, erst den Menschen in ihrer Umgebung helfen zu müssen. Sie werden nicht durch ein Gefühl der Zugehörigkeit getrieben, sondern von dem Drang, so viel Gutes zu tun wie möglich. Das sind die extremen Altruisten, von denen hier die Rede sein soll. Sie sind nicht besser oder schlechter als die erste Sorte, aber sie sind seltener – und schwerer zu verstehen.Altruisten werden oft in verächtlich machender Absicht Gutmenschen genannt. Doch selbst wenn man unter einem Gutmenschen einfach nur einen Menschen versteht, der Gutes tut, steckt noch immer etwas Skepsis und Ablehnung in dem Begriff. Ein Grund dafür könnte sein, dass man sich im Angesicht des Altruisten schuldig fühlt: Niemand wird gern an den eigenen Egoismus erinnert. Und niemand will sich sagen lassen, noch nicht einmal indirekt, wie er sein Leben führen sollte.Aber das ist noch nicht alles. Die Ambivalenz gegenüber altruistischen Menschen erwächst auch aus einer tiefen Unsicherheit darüber, wie man denn leben soll. Ist es richtig, ein möglichst moralisches Leben führen zu wollen – das Leben eines Heiligen? Oder fehlt da nicht etwas ganz elementar Menschliches? Ist es richtig, sich auf Kosten seiner eigenen Familie um Fremde zu kümmern?Wie jeder Mensch hat auch der extreme Altruist eine Familie. Wenn er selbst keine Kinder hat, so hat er doch Eltern. Doch seine moralischen Ansprüche sind so groß, dass sie ihn irgendwann mit seiner Sorge um die Familie in Konflikt bringen. Dann muss er sich entscheiden: Der Altruist glaubt nicht, dass seine Familie mehr Aufmerksamkeit verdient als irgendjemand sonst. Er liebt sie zwar mehr, aber er weiß, dass andere ihre Familien ebenso lieben. Für einen radikalen Altruisten ist es ein moralisches Feigenblatt, sich um seine Familie zu kümmern – etwas, das aussieht wie Selbstlosigkeit, aber in Wirklichkeit nur eine Verlängerung des eigenen Egos ist.Schwierig als PartnerSchon sehr früh wird Julia klar, dass es die Hölle sein würde, mit ihr verheiratet zu sein. Sie will in moralischen Fragen keine Kompromisse eingehen. Das bedeutet, dass sie nicht bereit ist, Geld für Dinge auszugeben, für die Paare für gewöhnlich Geld ausgeben. Als sie sich aber doch verliebt, macht sie ihrem Freund Jeff Kaufman einen Antrag. Sie verloben sich. Jeff weiß von Beginn an von Julias Grundsätzen, aber solange sie beide noch aufs College gehen, spielen Geldfragen keine große Rolle.An einem sonnigen Septembertag ein Jahr nach ihrem Uni-Abschluss besuchen sie gemeinsam eine Obstplantage vor den Toren Bostons. Es gibt kandierte Äpfel, und Julia würde gern einen haben. Normalerweise würde sie sich sagen, dass sie es nicht rechtfertigen könne, ihr Geld für so etwas auszugeben, aber Jeff sagt, wenn sie etwas wolle, kauft er es ihr von seinem Geld. Er hat einen Job als Computer-Programmierer gefunden. Julia ist noch auf der Jobsuche und hat keine Ersparnisse, weil sie alles, was sie den Sommer über beim Jobben verdient hat, an Oxfam gespendet hat.In der darauffolgenden Nacht sprechen sie im Bett über Geld. Jeff sagt Julia, auch er überlege, einen Teil seines Gehalts zu spenden. Da kommt Julia ein schrecklicher Gedanke: Wenn auch er spenden will, hat sie dann mit dem Kauf des Apfels nicht Geld verschwendet, das andernfalls für ein Malaria-Netz oder ein Medikament gespendet worden wäre, das einem Kind das Leben hätte retten können? Je mehr sie über die Sache nachdenkt, desto unerträglicher wird ihr die Vorstellung. Sie fängt an zu weinen.Placeholder image-2Nach einer schwierigen Nacht wird dem Paar klar, dass Julia irgendwann verrückt wird, wenn sie bei jedem Kauf überlegt, wie viele Malaria-Netze man mit dem ausgegebenen Geld hätte kaufen können. In langen Diskussionen einigen sie sich auf ein praktikables System. Zukünftig betrachten sie Jeffs und Julias Geld als völlig getrennt. Jeff beschließt, 50 Prozent seines Gehalts zu spenden. Von den anderen 50 Prozent will er gemeinsam mit Julia leben – was übrig bleibt, spart er. Julia will ihr Gehalt zu 100 Prozent spenden. Von Jeffs Gehalt erlauben sich beide je 38 US-Dollar (circa 34 Euro) pro Woche. Damit wollen sie alles bezahlen, außer der Miete und dem Essen – Dinge wie Kleider, Schuhe, Fahrkarten, kandierte Äpfel. Jeff verfügt, dass dieses Geld für diese Dinge ausgegeben werden muss. Es darf nicht gespendet oder gespart werden.Nachdem sie ihr System ausgearbeitet haben, halten sie sich rigoros daran. Sie führen über jede noch so winzige Anschaffung Buch. Nach einem Jahr stellen sie aber fest, dass sie es sich gar nicht leisten können, die Hälfte von Jeffs Einkünften und Julias komplettes Gehalt zu spenden: Sie haben vergessen, die Steuern miteinzukalkulieren. Also senken sie den Spendenanteil von Jeffs Gehalt auf 30 Prozent.Sie sehen sich mehrere Organisationen an und suchen nach derjenigen, die am effizientesten Not lindert. Sie wissen, dass Entwicklungshilfe allein nur begrenzt etwas verändern kann und im schlimmsten Fall sogar schädlich ist. Ohne politisches Handeln kann sich nicht wirklich etwas grundlegend ändern. Aber sie finden, wenn sie einzelne Menschen vor dem Tod durch Unterernährung oder vermeidbaren Krankheiten retten können, dann sind sie dazu verpflichtet, auch wenn größere, systemische Übel weiterbestehen.Spenden ist eine recht langweilige Form, seinen Altruismus auszuleben. Online-Überweisungen zu tätigen ist nicht so aufregend, wie als Entwicklungshelfer im Ausland zu arbeiten. Alles hinzuschmeißen und irgendwohin zu gehen, wo es gefährlich ist, um zu helfen, besitzt einen moralischen Glamour, der für viele Entbehrungen entschädigt. Sich einzuschränken, um das Geld, das man verdient, spenden zu können, hat nichts Glamouröses. Und doch wissen Julia und Jeff, wie viel von diesem Geld abhängt.Julia wuchs in einem Vorort von Richmond, Virginia auf. Ihr Vater war Immobilienverwalter, ihre Mutter unterrichtete in einer Vorschule. Als Kind steckte sie ihr Taschengeld in der Kirche in den Klingelbeutel, weil sie dachte, das Geld gehe an die Armen. Eines Tages wird ihr klar, dass es auf der Welt noch andere Konfessionen gibt, deren Anhänger ebenso an ihre heilige Bücher glauben, wie sie an die Bibel glaubt. Welchen Grund hat sie also zu glauben, dass ihr Glaube der richtige ist? Sie hat noch nie irgendeinen Nachweis von Gottes Existenz gesehen oder gespürt. Recht unvermittelt verliert sie ihren Glauben.Danach hört Julia auf, ihr Geld in die Kirche zu tragen – ein paar Jahre lang gibt sie ihr Taschengeld einfach für sich selbst aus. Wenn Gott nicht existiert, schuldet sie es niemandem. Dann erfährt sie von der Armut in der Welt und ihr wird bewusst, wie reich sie im Vergleich zu anderen ist. Mit 13 fängt sie wieder an, ihr Taschengeld zu spenden. Etwa zu der Zeit wird ein Junge, der dieselbe Kirche besucht wie ihre Familie, schwer krank und muss operiert werden. Seine Familie ist für diese Operation nicht versichert. Die Kirche sammelt für sie und Julias Mutter sagt ihrer Tochter, es gebe da jemanden, den sie kenne, und dem sie helfen könne. Julia erwidert: „Warum ist das Leben eines Menschen, den ich kenne, mehr wert als die Leben so vieler Menschen, die ich nicht kenne, denen ich mit dem Geld aber genauso helfen könnte?“In ihrem letzten Jahr im College lernt Julia dann Jeff kennen. Im Sommer nach ihrem Abschluss arbeiten sie in einem Ferienlager. Jeff spült das Geschirr, Julia kocht. Zusammen sparen sie etwa 5.000 Dollar und spenden sie an Oxfam. Während sie in dem Camp arbeiten, haben sie das Gefühl, dies sei eine gute Art, den Sommer zu verbringen: Sie leben einfach, geben nichts aus, helfen anderen mit harter Arbeit und sparen das Geld, das sie verdienen, um es spenden zu können. Aber als der Sommer vorüber ist und Jeff das Geld überweist, kommt ihm der Gedanke, dass sie mit einer anderen Arbeit wesentlich mehr hätten verdienen können. Sind sie nachlässig und selbstgefällig gewesen? Haben sie das Recht, drei Monate ihres Lebens damit zu verbringen, am Meer das einfache Leben zu genießen, nachdem sie eine lange und teure Ausbildung genossen haben?Nur nicht verkrampft wirkenRichtig drängend werden diese Fragen, als Julia sich entscheiden muss, in welcher Branche sie arbeiten will. Jahrelang wollte sie Sozialarbeiterin werden. Aber inwieweit steht es ihr überhaupt zu, ihr eigenes Glück mit in Betracht zu ziehen? Nicht in die Branchen zu gehen, wo sie am meisten verdienen würde, kann sie mit dem Argument rechtfertigen, dass sie in der Finanzbranche oder als Juristin so unglücklich wäre, dass sie nach ein paar Jahren gewiss einen Zusammenbruch hätte. Das Geld für ihre Ausbildung wäre dann verschwendet gewesen. Aber natürlich gibt es genügend Berufe, in denen man zwar weniger verdient als in der Finanzbrache, aber mehr als als Sozialarbeiterin. Wie kann sie es rechtfertigen, in einen Bereich zu gehen, in dem man so wenig verdient?Julia und Jeff sprechen kaum mit anderen über ihre Spenden. Es wird schnell unangenehm und peinlich. Die Leute reden grundsätzlich nicht gern über Geld, aber noch weniger wollen sie das Gefühl haben, man verurteile sie, weil sie so viel ihres Geldes für sich selbst behalten. Wenn Julia versucht, mit anderen darüber zu reden, sagt man ihr, sie sei verrückt. Oder man macht sich über sie lustig. Julia lässt das ratlos zurück. Einerseits ist sie der Überzeugung, dass eines der nützlichsten Dinge, die sie tun kann, darin besteht, andere davon zu überzeugen, ebenfalls mehr zu spenden. Auf der anderen Seite weiß sie aber auch, dass es der Sache nicht dient, wenn sie andere vergrault. Und wenn es etwas gibt, was die Leute vergrault, dann ist das, wenn man ihnen Vorträge hält und sie zu bekehren versucht. Oder ist das nur wieder ihre Art zu rationalisieren, was ihr in den Kram passt? Sie ist sich nicht sicher.Ihr ist klar, dass es wichtig ist, nicht zu puritanisch oder verkrampft zu wirken: Die Leute denken sonst, sie habe eine Art Märtyrer-Komplex – oder dass sie unglücklich sei, weil sie einen Großteil ihres Geldes weggebe. Dabei findet Julia es meistens ziemlich leicht, das Leben zu genießen, ohne viel Geld auszugeben.Das Gefühl der sozialen Isolation aber bleibt. Bis Julia und Jeff auf Giving What We Can stoßen. Eine Organisation, die von den Oxforder Moralphilosophen Toby Ord und William MacAskill gegründet wurde. Und die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Idee zu verbreiten, dass jeder Einzelne mehr geben kann, um denen zu helfen, denen es am schlechtesten geht. Julia und Jeff haben sich nie recht getraut, mit anderen übers Spenden zu sprechen. Ord und Mac-Askill hingegen haben damit überhaupt kein Problem. In kürzester Zeit haben sie eine öffentliche Debatte angestoßen. Journalisten hören von der Organisation und ein Stapel von Artikeln über sie erscheint. Studenten gründen an den Unis Ableger, andere finden über das Internet zu der Gruppe. Ein oder zwei Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 2009 ist Giving What We Can zu einem Zentrum für die Bewegung des Effektiven Altruismus geworden. Sechs Jahre nach ihrer Gründung hat sie über 1.000 Mitglieder.Toby Ord ist dünn und blass, seine Haut spannt sich eng über seinen Schädel. Er macht einen beharrlichen Eindruck. Er ist in Melbourne aufgewachsen. Als er als Student nach Großbritannien kam, sah er dort Plakate mit hungernden Kindern und dachte: „Dagegen sollte ich etwas unternehmen.“ Damals beliefen sich seine jährlichen Einnahmen auf 8.000 britische Pfund aus einem Stipendium. Damit kam er hervorragend klar. Also dachte er sich, es wäre recht einfach, später mit dem Gehalt eines Professors alles über 18.000 Pfund zu spenden. Er setzte sich hin und überlegte, wie viel er im Laufe seines Lebens wohl verdienen würde. Er kam auf ungefähr 1,5 Millionen Pfund, von denen er an die 500.000 für sich selbst ausgeben müsste – einschließlich des Kredits für ein kleines Haus und etwas Geld für akute Notfälle. Es blieb also eine Million übrig, die er spenden konnte. Was für eine Menge Geld! Er rechnete weiter und kam zu dem Ergebnis, dass er mit der Summe 100.000 Jahre gesundes Leben retten konnte. Das war ein wirklich aufregender Gedanke!Als Ord Giving What We Can gründete, ging er davon aus, dass es schwer werden würde, die Leute dazu zu bringen, mehr zu geben, denn das bedeutete Opfer. Sie davon zu überzeugen, das Geld, das sie spendeten, an effizientere Organisationen zu geben, erschien ihm dagegen recht einfach. Wer würde nicht wollen, dass mit seinem Geld mehr Gutes getan wird? Es stellte sich aber heraus, dass Menschen nicht so rational handeln. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Es ist recht einfach, Menschen davon zu überzeugen, mehr zu geben, wenn man sie emotional berührt. Sie aber davon zu überzeugen, ihre Unterstützung für Projekte aufzugeben, an die sie jahrelang geglaubt haben, ist äußerst schwer. Es ist einfacher, logische Typen zu überzeugen, die zuvor noch nie viel über Wohltätigkeit nachgedacht haben, als die Vorstellungen altgedienter Altruisten zu verändern. Wenn Ord in der Öffentlichkeit über seine Ideen spricht, versucht er, den Leuten keine Schuldgefühle zu machen – das führt zu nichts. Stattdessen erzählt er, wie aufregend es sei, Geld zu spenden. „Wir blicken auf Menschen wie Oskar Schindler, der 1.200 Menschen das Leben gerettet hat, und bewundern seinen moralischen Heroismus. Aber wir können mit viel geringeren Opfern viel mehr Leben retten.“Manchmal kommen Leute zu Ord und sagten zu ihm, es sei zu viel verlangt, zu fordern, man solle den Großteil seines Geldes spenden. „Ich halte das für ein schwaches Argument“, sagt er. „Die Moral kann viel verlangen. Wenn wir tausend Leben retten können und es nicht tun, dann muss man behaupten, es sei zulässig, sich selbst für tausendmal wertvoller zu halten als andere. Ist das überzeugend? Für mich nicht.“Während die Bewegung des Effektiven Altruismus wuchs, gründete der Philosoph und Giving-What-We-Can-Mitbegründer William MacAskill die Organisation 80.000 Hours. Sie will altruistisch Gesinnten beim Nachdenken darüber helfen, wie sie mit ihrer Arbeitszeit am meisten Gutes bewirken könnten. MacAskill geht es darum, die Idee zu verbreiten, dass ein altruistischer Mensch nicht notwendigerweise dem Weg der traditionellen Weltenretter folgen und als Entwicklungshelfer oder als Ärztin in einem Entwicklungsland arbeiten muss. Er sollte darüber nachdenken, ob er nicht vielmehr einen lukrativen Beruf ergreifen will, um viel Geld zu verdienen, das er dann spenden kann. Die Idee verfängt. Nachdem sie von 80.000 Hours beraten worden sind, planen Dutzende Akademiker, ihre Karrieren nach dem Verdienst auszurichten, um möglichst viel spenden zu können. Einige Beispiele kann MacAskill schon vorweisen.Placeholder link-1Zurück zu Julia. Sie wünschte sich immer Kinder. Doch dann fing sie an, den Wunsch zu hinterfragen. Ihr hatten schon viele Leute gesagt, man würde die Welt anders sehen, wenn man Kinder habe. Es war seltsam, darüber nachzudenken – eine Entscheidung zu treffen, von der sie wusste, dass sie sie so grundlegend verändern würde, dass möglicherweise auch ihre Überzeugungen in Bezug auf ihre Verpflichtungen gegenüber Fremden tangiert würden.Karriereplan: Geld machenAls Julia sich der Vorstellung öffnete, dass Kinder doch nicht unbedingt notwendig seien, setzte ihr üblicher Gedankengang ein: Was nicht notwendig ist, ist unnötig – und Kinder waren vielleicht der größte Luxus, den sie sich je leisten könnte. Wenn sie ein eigenes Kind hätte, würde sie damit indirekt die Kinder anderer Leute töten?Jeff gab zu bedenken, dass ein Kind, das bei ihnen aufwuchs, irgendwann sicherlich ähnlich denken würde wie sie – vielleicht nicht ganz so extrem, aber doch ähnlich. Und wenn es später um die zehn Prozent seines Einkommens Bedürftigen zukommen lassen würde, dann wäre das Geld, das sie zwischenzeitlich wegen des Kindes nicht spenden konnten, schon fast wieder reingeholt. Nach vielen Diskussionen und Zweifeln fasste Julia kurz vor ihrem 28. Geburtstag den Entschluss, dass sie versuchen wollte, schwanger zu werden. Im Frühjahr 2014 kam Lily zur Welt. Der Gedanke, Lily in die Krippe zu geben, um schnell wieder arbeiten zu können, missfiel Julia, aber sie musste wieder Geld verdienen. Schließlich gab es Menschen, die ihr Geld ebenso dringend brauchten wie Lily ihre Anwesenheit.Kurz bevor Julia schwanger wurde, erhielt Jeffs Mutter, Suzie, die Diagnose Gebärmutterkrebs. Als sie davon erfuhr, war Julia so traurig und bestürzt, als wäre es ihre eigene Mutter. Sie lebten seit über zwei Jahren mit Suzie in ihrem Haus zusammen. Ihre Ansichten über die Bedürftigkeit von Fremden und Bekannten änderten sich aber dadurch nicht. „Ich liebe Suzie und ich hasse es, dass sie krank ist. Andere Leute lieben ihre Mütter ebenfalls und hassen es, wenn sie krank werden. Wenn ich vor die Wahl gestellt werden würde, zehn Familien die Erfahrung zu ersparen oder einer, würde ich mich aber immer für die zehn entscheiden, selbst wenn die eine meine eigene wäre. Ich will das nicht durchmachen, aber andere wollen das auch nicht.“Wie würde die Welt aussehen, wenn alle denken würden wie diese extremen Altruisten? Was, wenn jeder die Haltung hätte, seine eigene Familie sei nicht wichtiger als irgendeine andere? Ein derart ausgeprägtes Pflichtgefühl erscheint manchen krankhaft. Ein masochistisches Bedürfnis nach Selbstbestrafung vielleicht? Oder eine Art Depression, die dem, der an ihr leidet, das Gefühl gibt, er habe es nicht verdient, so etwas wie Genuss zu empfinden?Manche extremen Altruisten sind glücklich, andere nicht. Die glücklichen sind aus denselben Gründen glücklich wie alle anderen Menschen auch – Liebe, Arbeit, Ziele, die man sich gesteckt hat. Die Gründe, die sie unglücklich machen, unterscheiden Altruisten von den anderen: Bei ihnen ist Unglück keine Reaktion auf mangelnde Anerkennung oder ein Mangel an Liebe, sondern sie sind unglücklich, weil sie um die Not und das Elend in der Welt wissen, um das sich außer ihnen kaum jemand kümmert. Extremen Altruisten fehlt es an Unschuld. Sie zwingen sich, der Ungleichheit und Ungerechtigkeit ins Auge zu sehen. Sie wissen, dass alles, was sie tun, auch das Leben anderer beeinflusst. Und dass ihre Freude manchmal, wenn auch nicht immer, mit dem Leid anderer erkauft wird.Placeholder authorbio-1Placeholder link-5Placeholder link-2Placeholder link-3Placeholder link-4
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