Wir sind hier nicht in Irland

Griechenland Die zurückhaltenden Beschlüsse des EU-Gipfels zum Staatsbankrott von Athen haben auch etwas mit der explosiven Stimmung zu tun, die sich in Griechenland ausbreitet

Die Menschen, die Tag für Tag in langen Demonstrationszügen durch die Straßen Griechenlands marschieren, bezeichnen sich als „Strom der Entrüstung“. Ihre Empörung entzündet sich daran, dass die Regierung die EU-Auflagen und das nationale Haushaltsdesaster auf die Bevölkerung abwälzt – ihre Wut entlädt sich in Graffiti, wenn in Athen bei Einbruch der Dunkelheit Schlachtrufe an die Fassaden von Banken, Geschäften und Regierungsgebäuden gesprüht werden. Inzwischen ist daraus eine „Widerstandsbewegung“ geworden: militante Linke, Gewerkschafter und streikende Angestellte des öffentlichen Dienstes gehen gemeinsam auf die Straße, um ihrem Unmut über die Sparmaßnahmen Luft zu machen, von denen die Regierung sagt, sie seien alternativlos – anders könne man der seit Jahrzehnten schlimmsten Wirtschaftskrise Griechenlands nicht beikommen.

Rasanter Kahlschlag

„Wir führen Krieg gegen die Regierung, denn sie führt ganz offensichtlich Krieg gegen uns“, sagt der frühere kommunistische Abgeordnete Dimos Koumbounis. „Die Arbeiterklasse wird immer schärfer reagieren, um diese asoziale Politik rückgängig zu machen.“ Die Finanzmärkte und der Brüsseler EU-Gipfel setzen den sozialdemokratischen Premier George Papandreou so sehr unter Druck, dass der unablässig wiederholt, er habe keine andere Wahl, als diese „schmerzhaften, aber notwendigen“ Schritte einzuleiten. Es sollen die Löhne eingefroren werden, es gilt ein totaler Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst, das Rentenalter wird angehoben – im Orkus landen Steuervergünstigungen und Abschreibungsmöglichkeiten, die sich für Beschäftigte im öffentlichen Dienst auf bis zu zehn, für Akademiker auf bis zu 40 Prozent ihres Einkommens belaufen können. Auch die Gehälter der Minister sollen sofort um zehn Prozent gekürzt werden. Die erst jüngst in Regierungsverantwortung gewählten Sozialisten wollen das 300 Milliarden Euro schwere Haushaltsdefizit bis 2012 von heute 12,7 auf die von der EU erlaubten drei Prozent zurückzuschrauben.

Sollten noch Zweifel daran bestanden haben, ob dieses Programm auf massiven Widerstand der Bevölkerung stößt, so wurden sie in dieser Woche endgültig ausgeräumt. Demonstranten schrieen „Wir sind hier nicht in Irland, wir werden uns wehren“ und stellten landesweite Streiks als Gegenoffensive zur Abwehr eines anti-sozialen „Tsunamis“ in Aussicht. „Diejenigen, die für die Krise verantwortlich sind, sollten auch für sie bezahlen: die Banker, die Industriellen, die Schiffseigner und großen Kaufleute – die Oligarchie dieses Landes“, ruft der Gewerkschaftsführer Vasiillis Stamoulis der Menege von einem Podium aus zu, das vor dem aus Sandstein gebauten Parlamentsgebäude in Athen errichtet wurde.

Warum immer wir?

„Es ist nicht unsere Schuld, dass die öffentlichen Finanzen unseres Landes dermaßen in Schieflage geraten sind“, sagte Spyros Papadopoulos, der in einem Krankenhaus arbeitet. „Warum sind es immer die Geringverdiener, die bezahlen müssen? Sie versuchen, hart erkämpften Rechte wie den Acht-Stunden-Tag oder eine angemessene Rente nach einem Leben voll harter Arbeit zu kippen. Diese Krise wird die Armen noch ärmer und die Reichen noch reicher machen. Das ist absolut ungerecht.“

Die mit einem riesigen Regenschirm ausgestattete Übersetzerin Angela Drossou stimmte im Brustton der Überzeugung zu. Es sei überhaupt das erste Mal, dass sie sich an einer Demonstration beteilige, aber die Umstände hätten ihr wirklich keine andere Wahl gelassen. „Wir spüren es jeden Tag und nicht nur an unseren Löhnen. Wir leben in permanenter Furcht, unsere Arbeitsplätze zu verlieren. Ich bin jetzt 41 und habe große Angst davor, eines Tages ohne Job dazustehen. Vielleicht finde ich dann noch etwas, um vier Stunden am Tag für ein Trinkgeld zu arbeiten. In solchen Zeiten steigen die Profite von Banken und Unternehmen, während uns immer weniger bleibt, bis wir im wahrsten Sinne des Wortes keinen Pfennig mehr in der Tasche haben.“

Viele Demonstranten sagen, sie würden ein Beispiel setzen, dem andere in Europa folgen sollten. „Die Mobilisierung antikapitalistischer Kräfte hierzulande strahlt auf andere Teile Südeuropas aus und wird auch noch weitere Kreise ziehen“, sagte Koumbounis. „Wir werden unseren Kampf nicht ohne weiteres aufgeben.“

Die Aussicht weiterer Demonstrationen und Streiks schürt die Angst vor erneuten sozialen Unruhen in einem Land, in dem es im gesamten Verlauf der vergangenen Jahre wahrlich keinen sozialen Burgfrieden gab.

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Helena Smith | The Guardian

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