Zu Beginn der Covid-19-Pandemie gingen Apple-Ingenieure eine seltene Zusammenarbeit mit Google ein. Ziel war die Entwicklung eines Systems, mit dem sich die individuellen Interaktionen einer ganzen Bevölkerung nachverfolgen lassen, um so frühzeitig potenziell ansteckende Überträger zu isolieren. Das in halsbrecherischer Geschwindigkeit entwickelte Tool wird inzwischen in vielen Covid-19-Apps weltweit verwendet, etwa vom britischen Gesundheitssystem NHS. Die Apps wurden aus verschiedenen Gründen kritisiert: Dafür, dass sie auf alten Handys nicht funktionieren oder dass sie sich stark auf die Akkulaufzeit auswirken. Eine Kritik wurde dabei jedoch nicht laut: Was passiert, wenn man ohne sein Handy aus dem Haus geht? Denn: Wer macht das schon? Die grundlegende Annahme, dass wir die Bewegung von Leuten verfolgen, indem wir ihre Telefone verfolgen, ist inzwischen Fakt.
Durch die Welle globaler Lockdowns werden wir abhängiger denn je von unseren Tech-Geräten, und die Branche boomt. Der Umsatz von Apple bricht weiter Rekorde – und das, obwohl es eine der ersten großen Firmen war, die ernsthaft von Corona beeinträchtigt wurden. Fabrikschließungen in China brachten die Lieferkette so in Verzug, dass das iPhone 12 mit einem Monat Verspätung auf den Markt kam. Dennoch bleibt Apple mit Abstand das größte börsennotierte Unternehmen der Welt: Dieses Jahr wuchs sein Wert um 50 Prozent auf zwei Billionen US-Dollar, 334 Milliarden mehr als die Nummer zwei, Microsoft.
Es fallen einem nur wenige Produkte ein, die uns im täglichen Leben rein physisch näher sind als das Smartphone. Brillen, Kontaktlinsen und implantierte medizinische Geräte etwa. Ohne dass wir es merken, macht Apple uns zu Organismen, die symbiotisch mit Technologie leben: teils Mensch, teils Maschine.
Wir sourcen unsere Adresskalender, Tagesplaner und To-do-Listen an Geräte aus. Wir brauchen auch kein Basis-Faktenwissen über die Welt mehr; bei Bedarf schauen wir es einfach nach. Aber wenn Sie denken, dass ein Smartphone oder eine Apple Watch Sie noch lange nicht in einen Cyborg verwandeln, könnten die neuesten Pläne des Unternehmens Ihre Meinung ändern. Schon 2022 könnten Smartbrillen mit einem integrierten Computer auf den Markt kommen, die uns im wörtlichen Sinne die Welt durch Apples Augen sehen lassen, indem sie eine digitale Schicht zwischen uns und die Welt legen.
Kybernetische Organismen
Der Begriff Cyborg – kurz für „kybernetischer Organismus“ – wurde 1960 von Manfred Clynes und Nathan Kline geprägt. Im Rahmen ihrer Raumfahrtforschungen beschäftigten sie sich damit, wie der Einbau von mechanischen Komponenten dabei helfen könnte, „die Aufgabe der Anpassung des menschlichen Körpers an jede x-beliebig gewählte Umgebung zu lösen“. Es war ein sehr medizinisches Konzept: Die beiden Wissenschaftler stellten sich zum Beispiel eingepflanzte Pumpen vor, die automatisch Medikamente abgeben.
In den 1980ern drückten Genres wie Cyberpunk die Faszination von Autoren für das damals entstehende Internet aus. Tieren wurden Computerchips, Maschinen-Körperteile oder Chromzähne eingepflanzt. „Das war das Beste, das wir damals hinkriegen konnten“, lacht darüber heute der US-amerikanische Science-Fiction-Autor und Futurist Bruce Sterling, dessen Mirrorshades-Anthologie für viele das Genre definiert. Solche cyberpunkigen Ideen funktionierten nicht richtig, so Sterling: Derlei Implantante seien nicht „biokompatibel“. Organisches Gewebe reagiert schlecht, es bildet Narbengewebe oder, noch schlimmer, wächst an der Nahtstelle nicht zusammen. Während Science-Fiction noch die matrixartige Vision von Metall-Buchsen in weichem Fleisch verfolgte, nahm die Realität also einen anderen Verlauf. „Wenn man 2020 nach Cyborgs sucht“, erklärt Sterling, „dann ist die Apple Watch ein Beispiel. Sie ist bereits ein medizinisches Überwachungsgerät, mit einer ganzen Reihe von Gesundheits-Apps. Wenn man wirklich das Innere seines Körpers manipulieren will, kann die Uhr das besser überwachen als irgendetwas Anderes.“
Dabei war der Start der Apple Watch holprig. Das Unternehmen versuchte, sie als zweite Wiedergeburt des iPhone zu verkaufen. Doch anstatt SMS von einem Gerät zu schicken, das nicht genug Platz für eine Tastatur hat, wollten die Nutzer*innen ihr neues Accessoire lieber als Fitness-Tracker nutzen. Bei der zweiten Auflage der Uhr konzentrierte sich Apple daher stärker auf die Gesundheitsfunktion. Jetzt kann die Uhr die Herzfrequenz sowie den Sauerstoffgehalt Ihres Blutes messen; sie kann warnen, wenn Sie sich in einer Umgebung befinden, die ihr Gehör schädigen könnte; ja sogar die Notfallnummer rufen, wenn Sie fallen. Dazu kann sie Ihre Aktivitäten beim Joggen, Schwimmen, Gewichtheben und Tanztraining nachverfolgen. Und natürlich kommen weiter E-Mails auf Ihr Handgelenk.
Sterling weist darauf hin, dass es für eine Vielzahl von Gesundheitsdiensten, die wir früher als Science-Fiction betrachtet hätten, keinen Bedarf für einen implantierten Chip in unserem Kopf gibt. Es reicht die teure Uhr am Handgelenk. Das heißt aber nicht, dass die gesamte Vision des Cyberpunks der Welt der Fiktion überlassen wurde. Es laufen wirklich Menschen mit Roboter-Körperteilen herum – und auch hier hat Apple starken Einfluss. „Ich glaube, dass Apple, mehr als jede andere Marke, sich wirklich um das Benutzererlebnis kümmert. Sie testen und testen und testen, und überprüfen und überprüfen und überprüfen. Das haben wir von ihnen übernommen“, sagt Samantha Payne, Chief Operating Officer von Bristols Open Bionics. Das Unternehmen, das sie 2014 mitbegründete, stellt den „Hero Arm“ her, eine Bionikhand mit mehreren Greifmöglichkeiten. Durch die rasante Entwicklung der 3D-Druckertechnologie gelang es Open Bionics, die Kosten für die hochentwickelten Prothesen auf wenige tausend Euro zu senken – vor zehn Jahren noch lagen sie locker bei 80.000 Euro.
Anstatt ein naturgetreues Design anzuvisieren, lehnt Open Bionics seine Produkte an Cyborg-Optiken an. „Alle anderen Prothesenhersteller vermitteln den Eindruck, dass man versuchen sollte, eine Behinderung zu verbergen, dass Sie versuchen müssen, sich anzupassen“, sagt Payne. „Unser Unternehmen vertritt da eine starke Gegenposition.“ Im November entwarf die Firma einen Arm, der dem einer Figur im Videospiel Metal Gear Solid V ähnelt – rot und schwarz, glänzendes Plastik, „kompromisslos bionisch“. Die Reaktionen waren zum Teil verstörend: „Es gab viele Sience-Fiction-Fans, die sagten, sie würden wirklich überlegen, sich die Hand abzuhacken“, erzählt Payne. Manche Menschen mit Behinderung, die in ihrem täglichen Leben auf Technologie angewiesen sind, sehen in dem Cyberpunk-Design daher eine Exotisierung der Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind.
Die Innovationen auf diesem Feld reichen beinahe bis in die Sphäre der Superkräfte: Schwerhörige iPhone-Besitzer*innen etwa können ihre Hörgeräte nicht nur über Bluetooth mit ihrem Telefon verbinden. Sie können das Telefon sogar als Mikrofon einrichten und es näher an ihr Gegenüber heranrücken, um so den Lärm eines belebten Restaurants oder eines überfüllten Hörsaals auszublenden. Bionische Ohren gefällig?
„Die Vorstellung, dass alle Menschen heute Cyborgs sind, hat definitiv etwas“, sagt Payne. „Eine verrückt hohe Zahl von Menschen auf der Welt besitzt ein Smartphone, und so sind alle diese Leute technologisch erweitert. Ist man von dieser Technologie abhängig, um das tägliche Leben zu bewältigen, etwa wenn sie dem Körper eingepflanzt ist, dann ist das noch extremer. Aber wir alle nutzen jeden Tag die ungeheure Macht des Internets.“
Klüger sehen ab 2022
Zu jeder wachen Stunde nehmen die Leute heute ihr Smartphone zur Hand. „Wir wollen nicht, dass die Leute die ganze Zeit an ihren Handys verbringen“, erklärte dabei Apple-CEO Tim Cook 2019. „Das ist nicht unsere Motivation, nicht aus Business-Gründen und schon gar nicht, was unsere Werte betrifft.“ Etwas später sagte Cook dem US-Fernsehsender CBS: „Ich persönlich folge einer einfachen Regel: Wenn ich mehr in das Gerät gucke als in die Augen anderer Menschen, mache ich etwas falsch.“ Apple hat Funktionen wie die Einstellung der Bildschirmzeit eingeführt, die helfen sollen, das richtige Gleichgewicht zu finden. Nutzer*innen können so die Aktivität nach ihren Bedürfnissen beschränken. Andererseits arbeiten einige App-Hersteller dagegen. Facebook etwa erfordert, dass seine User*innen die App täglich öffnen. Gegen diese Funktionen der Programme auf seinen Smartphones kann Apple nur bedingt etwas tun.
Die Debatte über Bildschirmzeit und Datenschutz scheint heute noch ein Nischenthema, könnte aber zentral werden, wenn die neuesten Pläne von Apple Wirklichkeit werden: die Smartbrille.
2006 meldete Apple ein Patent für eine rudimentäre Version an, ein Headset, das den User*innen ein „peripheres Leuchtelement“ für ein „verbessertes Seherlebnis“ bietet und in einer Ecke des Sichtfeldes Nachrichten einblenden kann. Das Patent wurde 2013 zugelassen, zu einem Zeitpunkt, als schon Google versuchte, die Menschen von seiner Smartbrille zu überzeugen. Google Glass scheiterte auf dem Markt.
Seit einiger Zeit nun hat Apple seinen Fokus auf „erweiterte Realität“ verstärkt: auf Technologie, die eine virtuelle Welt über die reale Welt legt. Am besten bekannt ist das vielleicht durch das Videospiel Pokémon Go, das seit 2016 Nintendos niedliche Charaktere auf Parks, Büros und Spielplätze projiziert. Doch die Technologie hat laut Apple viel mehr Potenzial. Navigations-Apps könnten die Wegbeschreibungen über die reale Welt legen; Einkaufsdienstleister könnten einem die Kleidung virtuell anziehen, über deren Kauf man nachdenkt; Architektinnen könnten in den von ihnen entworfenen Räumen herumlaufen, bevor auch nur eine Schaufel den Boden berührt hat.
Mit jedem neuen iPhone-Launch demonstrierte Apple einen neuen technologischen Durchbruch, etwa die „Lidar“-Technik in neuen iPhones und iPads, die es ermöglicht, akkurat den physischen Raum abzumessen, in dem die Geräte sich befinden. Ende 2019 war es dann soweit: Der Nachrichtensender Bloomberg berichtete, dass Apple die Idee von Smartbrillen trotz des Misserfolgs von Google Glass nicht aufgegeben, sondern fünf Jahre damit verbracht habe, das Konzept zu verbessern. Die Coronapandemie habe das Ziel vereitelt, die Hardware 2020 in die Verkaufsregale zu bringen, aber Apple hoffe weiter darauf, nächstes Jahr den Launch für 2022 ankündigen zu können.
Apple hat demnach Pläne für zwei Geräte: Eines mit dem Code-Namen N301 soll ultra-hoch aufgelöste Bildschirme bieten, die es für den Nutzer fast unmöglich machen, die virtuelle Welt von der realen zu unterscheiden. Dieses Produkt würde weitaus mehr Nutzer anziehen als nur Hardcore-Gamer, die bereits existierende Virtual-Reality-Headsets für sich entdeckt haben: Man könnte die Brille aufsetzen, um lebensechte, in das Geschehen hineinziehende Unterhaltung zu erleben oder kreative Arbeit zu leisten. Aber man würde das Ding vermutlich zum Mittagessen absetzen.
Wirklich ambitioniert ist das andere Gerät, für 2023 geplant: N421, eine leichte Brille mit erweiterter Realität. Dies wäre der Höhepunkt der „Mirrorshades“, die sich die Cyberpunks in den 80er-Jahren erträumten, schreibt Mark Pesce in seinem Buch Augmented Reality. Das iPhone würde als Gehirn des Geräts benutzt und „die Displays wären leicht und bequem“. Hätte man eine solche Brille den ganzen Tag über auf der Nase, würde die Vorstellung von einer Welt ohne eine digitale Schicht zwischen Mensch und Realität irgendwann zu einer Erinnerung verblassen – genau wie heute für viele ein Leben ohne den direkten Zugang zum Internet.
Apple ist nicht das erste Unternehmen, das versucht, ein solches Gerät zu bauen.Rupantar Guha vom Marktanalysten GlobalDat verfolgt den Trend zu Smartglasses seit Jahren: „Nach dem öffentlichkeitswirksamen Misserfolg von Google Glass ist es schwer, das Konzept wieder positiv zu besetzen, aber Big Tech sieht immer noch Potenzial in der Technologie“. So habe Amazon mit seinen Echo Frames kürzlich Sonnenbrillen eingeführt, die Alexa integriert haben, mit denen man also sprechen kann. Auch Facebook plane die Einführung von Smartglasses in den nächsten zwei Jahren.
Was, wenn sich die Brillen durchsetzen? Müssen wir uns „brillenfreie Zeit“ einräumen? „Es bringt nichts, sich die Nutzung von AR vorzustellen, bevor wir die Hardware in der Hand halten“, schreibt der Entwickler Adrian Hon, den Google mit Spielen für seine Smartglasses beauftragt hatte. „Allerdings gibt es eine Nutzung von AR-Brillen, über die nur wenige sprechen, die aber die Welt verändern wird: nämlich das Abgreifen von Daten über all das, was wir sehen.“ Dieses „Schürfen der Welt“ wäre eine Big-Tech-Traum – und der Alptraum jedes Datenschutz-Aktivisten.
Eine Smartbrille macht Leute zu wandelnden Überwachungskameras, und das Ausmaß an Daten, das ein geschicktes Unternehmen sammeln könnte, ist überwältigend. Jedes Mal, wenn jemand durch einen Supermarkt geht, könnte seine Brille in Echtzeit Preisdaten, den Stand der Vorräte und die Einkaufsgewohnheiten erfassen; jedes Mal, wenn Nutzer*innen eine Zeitung aufschlagen, würde ihre Brille wissen, welche Artikel sie gelesen, welche Anzeigen sie angesehen haben und auf welchen Promi-Stränden ihr Blick länger verharrte.„Im Jahr 2035 werden wir genauso wenig vermeiden können, Smartbrillen zu tragen, wie heute Smartphones zu besitzen“, schreibt Hon. „Milliarden Menschen haben keine andere Wahl, als Handys für grundlegende Dinge zu nutzen: für Bildung, Bankgeschäfte, Kommunikation und Zugang zu staatlichen Dienstleistungen. In wenigen Jahren werden AR-Brillen dieselbe Funktion haben, nur schneller und besser.“
Apple lehnte es ab, sich zu diesem Artikel offiziell zu äußern. Das Unternehmen hat jedoch viel Zeit und Geld investiert, um Vertrauen darin aufzubauen, dass es seine Macht nicht missbrauchen wird. Es verweist auf sein vergleichsweise einfaches Geschäftsmodell: Dinge herstellen und sie für viel Geld verkaufen. Apple argumentiert, dass es nicht wie Google oder Facebook versucht, persönliche Daten zu Geld zu machen, oder wie Amazon die Einkaufsmeile zu ersetzen, sondern einfach ein Unternehmen sei, das zufällig ein Mehr-als-Tausend-Euro-Telefon herstellt, das jährlich 150 Millionen Menschen kaufen.
Aber ob wir Apple vertrauen, ist vielleicht unerheblich, solange wir nicht wissen, ob wir uns selbst vertrauen können. Bildschirmzeit-Beschränkungen wurden erst acht Jahre nach Markteinführung des iPhones ermöglicht. Wie wird wohl die menschliche Interaktion acht Jahre nach der Etablierung alltäglicher Datenbrillen aussehen? Unsere Cyborg-Gegenwart hat sich eingeschlichen, seit unsere Telefone an unseren Händen kleben. Werden wir genauso in unsere Cyborg-Zukunft hinein schlafwandeln?
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