Zeuge der Toten

Philippinen Ein katholischer Missionar widersetzt sich dem brutalen Anti-Drogen-Krieg des Präsidenten
Ausgabe 34/2019
Protestanten in Manila zeigen Präsident Duterte als bewaffnetes Monster
Protestanten in Manila zeigen Präsident Duterte als bewaffnetes Monster

Foto: Ezra Acayan / Getty Images

Eines der bekanntesten Opfer und der seltenen Überlebenden von Rodrigo Dutertes Anti-Drogen-Krieg ist der 30-jährige Fahrer eines Fahrradtaxis, Francisco Santiago Jr. Während er im September 2016 mit seinem Rad durch das Zentrum Manilas fährt, wird Santiago von einem Offizier der Philippinischen Nationalpolizei (PNP) entführt, der sich zunächst als Passagier ausgegeben hat. Santiagos Name steht nicht auf der „Todesliste“ der mittlerweile berüchtigten Anti-Drogen-Einheit der PNP, Oplan Tokhang, oder „Operation Knock and Plead“, dennoch ist er zum Ziel dieses Feldzugs geworden, der alle – ob mutmaßliche Drogenhändler oder Süchtige – auslöschen soll. Nachdem man ihn in eine Polizeistation verfrachtet und dort fast den gesamten Tag über verprügelt hat, bringt man ihn zurück auf die Straße und feuert mehrere Schüsse auf ihn ab, sodass er Verletzungen in der Brust und an den Armen davonträgt. Ein Offizier, der ihn für tot hält, kommt auf ihn zu und legt in der Nähe seiner Hand eine Pistole auf den Boden. Santiago wartet und traut sich dabei kaum zu atmen, während sich um ihn herum eine Blutlache bildet, bis er die Geräusche von am Tatort ankommenden Journalisten wahrnimmt. Er setzt sich auf, fleht um sein Leben, erhebt seine blutgetränkten Arme zum Zeichen seiner Kapitulation. Am nächsten Morgen haben die Regionalzeitungen ihm bereits einen neuen Namen gegeben: Lazarus.

Als die Beamten sehen, dass Santiago nicht tot ist, bringen sie ihn in eine Notaufnahme, wo er mit Handschellen an sein Bett gefesselt wird. Die folgenden zwei Jahre verbringt er wegen verschiedener Anklagen im Gefängnis, zu denen unter anderem der illegale Besitz einer Schusswaffe gehört. Als sie ihn vergangenen August endlich entlassen, findet er Zuflucht bei Jun Santiago, Missionar eines Redemptoristen-Ordens der katholischen Kirche. Die meisten kennen ihn unter dem Namen Bruder Jun. So wie er dies schon für zahllose Opfer des Drogenkrieges getan hat, beherbergt Bruder Jun nun auch Santiago – in der Baclaran-Kirche, seiner Pfarrei im Süden Manilas, sowie verschiedenen sicheren Häusern in den die Hauptstadt umgebenden Provinzen.

Als Santiago im vergangenen Oktober in einem Gerichtssaal in Manila erscheint, wo ihm wegen des illegalen Waffenbesitzes der Prozess gemacht wird, ist Jun bei ihm und schirmt ihn gegen die PNP-Beamten ab, die auf den Fluren des Gerichts auf und ab gehen; unter ihnen dieselben Leute, die zwei Jahre zuvor versucht haben, ihn zu töten. Juns Stellung changiert vage zwischen Aktivist, Journalist und Pfarrer. Er ist die ausgefranste Spitze des Widerstandes der katholischen Kirche gegen den Anti-Drogen-Krieg der Regierung – der von internationalen Menschenrechtsorganisationen verurteilt wird und manchen Schätzungen zufolge bereits mehr als 20.000 Menschenleben gekostet hat. Als Bruder des Redemptoristen-Ordens ist Jun strenggenommen kein Geistlicher. Er lebt auf dem bewaldeten Grundstück von Baclaran unter den Priestern und hebt sich von dieser Gesellschaft häufig schon rein äußerlich ab. Sein schwarzes Haar reicht ihm bis zur Schulter, er trägt ein Paar rustikale Stiefel, zerrissene Jeans und am Tag der Gerichtsverhandlung in Manila ein Nirvana-T-Shirt. Jun übernimmt die verschiedensten Aufgaben: von einfachen Tätigkeiten wie der Beschaffung von Kerzen für die Protestmärsche über diplomatische Arbeit wie dem Solidaritäts-Appell an hochrangige Prälaten bis hin zu gefährlichen Missionen – etwa, bei Nacht in den Straßen Manilas zu patrouillieren und zu Tatorten zu rasen, um die Toten zu fotografieren – im Laufe der vergangenen Jahre waren dies Hunderte. In einem politischen Klima, in dem viele die Anwandlungen eines gewaltbereiten Präsidenten fürchten, lebt Jun im Namen seiner Kirche und tausender Filipinos, die von Dutertes War on Drugs bedroht werden, in permanenter Gefahr.

Drei ermordete Pfarrer

Obwohl er noch keine Fünfzig ist, scherzen Juns Freunde bereits, er befinde sich auf bestem Wege, ein Heiliger zu werden. Auf den Philippinen, wo vier von fünf Bürgern sich als Katholiken verstehen, ist die Kirche zur wichtigsten Stimme geworden, die sich gegen den Drogenkrieg erhebt. Sie sieht sich wiederholten Angriffen eines Präsidenten ausgesetzt, der drauf und dran ist, den Kern des philippinischen Katholizismus infrage zu stellen. Duterte verkaufte seinen Wahlkampf im Jahr 2015 als Referendum über die Legitimität der Kirche und zwang nach seinem Sieg die religiösen Führer, sich zwischen ihrem lukrativen politischen Einfluss und dem moralischen Auftrag, den sie haben, zu entscheiden. Besonders Kardinal Luis Antonio Tagle, die einflussreichste kirchliche Autorität, wird von Aktivisten und Geistlichen gleichermaßen für seinen zurückhaltenden und respektvollen Umgang mit Duterte kritisiert. Eine solche Haltung, so ihr Vorwurf, erscheine blind gegenüber dem Leiden des Landes und riskiere, die moralische Integrität der Kirche zu untergraben.

Demonstration gegen Duterte

Foto: Ezra Acayan/Getty Images

Jun und eine kleine Gruppe kirchlicher Oppositioneller haben sich der Aufgabe verschrieben, den Drogenkrieg zu dokumentieren und dabei mitzuhelfen, dass seine Akteure zur Verantwortung gezogen werden. In einem Land, in dem willkürliche Exekutionen Alltag geworden sind, ist diese Arbeit bestenfalls lebensgefährlich; katholische Führungsfiguren, die sich öffentlich kritisch äußern, werden oft mit Morddrohungen überhäuft, manchmal sogar von Duterte selbst. Seit Dezember 2017 wurden drei filipinische Pfarrer unter mysteriösen Umständen ermordet. Einer wurde in seinem Wagen überfallen, nachdem er die Freilassung eines politischen Gefangenen ausgehandelt hatte; ein anderer wurde von einem Motorradfahrer erschossen, während er eine Gruppe von Kindern segnete. Der dritte wurde kurz vor der Messe am Altar vor seinen Gemeindemitgliedern ermordet. Auf die Frage, ob er sich um seine eigene Sicherheit sorge, schüttelt Jun nur den Kopf, zieht einen Kreis um seinen Stuhl, als handle es sich dabei um einen unsichtbaren Feuerring, und sagt: „Das gehört zu unserem Job. Warum Angst?“

Es gibt im Grunde drei Möglichkeiten, wie man in Dutertes War on Drugs sein Leben verlieren kann: „Riding in tandem“, „zwei Männer auf einem Motorrad“, ist in Manila am weitesten verbreitet: Drive-by-Operationen, die von Sturmhauben tragenden Schützen auf Motorrädern ausgeführt werden – in manchen Fällen handelt es sich bei ihnen Vermutungen zufolge um von der PNP bezahlte Auftragsmörder. Andere Exekutionen erfolgen durch sogenannte legitime Polizei-Operationen, die große Einheiten durchführen, egal ob gegen eine Gruppe oder gegen einen Einzelnen. Andere Opfer wiederum verschwinden einfach. Die Logik des Drogenkrieges ist kalt und konsequent. Manilas Elendsviertel haben sich in Killing Fields verwandelt, die Täter bleiben straffrei.

Inszenierte Leichen

Fischer sollen auf Befehl von PNP-Beamten im Hafen von Manila Leichen ins Wasser geworfen haben. Frauen wurden erpresst und zum Sex gezwungen, wenn sie verhindern wollten, dass ihren männlichen Familienmitgliedern etwas zustößt. Leichen sind nach Einbruch der Dunkelheit auf Bordsteinen und in Häuserecken aufgetaucht, die Köpfe in Packband eingewickelt, um die Folterspuren zu verbergen, mit Botschaften versehen, die sie auf einem Karton um den Hals trugen: „Pusher Ako“ („Ich bin ein Drücker“). Solche Inszenierungen sind an den Schauplätzen und Tatorten des Anti-Drogen-Krieges alltäglich. Die Internetseite Rappler, die oppositionelle Nachrichtenagentur der Philippinen, weist darauf hin, dass Beutel mit Shabu (das Methamphetamin, das im Mittelpunkt des Drogenkrieges steht), so häufig und offensichtlich in den Taschen der Opfer auftauchen, dass der Gedanke naheliegt, sie seien dort platziert worden. Fast ebenso oft liegt eine Waffe – meist eine verrostete Kaliber 38 – neben der Leiche oder in der Hand des Opfers. In manchen Fällen treffen die Rettungswagen schon vor der Polizei an der Wohnung der Zielperson ein, und künden so von der bevorstehenden Gewalt.

Doch trotz all des Blutvergießens und so alarmierend dieses Vorgehen auch erscheinen mag, erfreut sich Duterte nach wie vor großer Beliebtheit. Vor Oktober des vergangenen Jahres waren die Zustimmungswerte des Präsidenten auf rund 80 Prozent angestiegen; nach einem Einbruch Anfang 2019 erholten sie sich im Frühjahr wieder und im Mai gaben die Zwischenwahlen dem Präsidenten einen unmissverständlichen Vertrauensbeweis: Verbündete des Präsidenten errangen alle 12 Senatssitze. Unter den neuen Senatsmitgliedern befindet sich Ronald dela Rosa, der PNP-Chef, der den Anti-Drogen-Krieg während der ersten beiden Jahre leitete. Ein derart weitreichender Sieg sollte es Duterte ermöglichen, während der zweiten Hälfte seiner Präsidentschaft seine Macht zu konsolidieren, und viele fürchten, dass er ihm den Weg dafür ebnet, mehrere ehrgeizige politische Ziele durchzusetzen, namentlich die Wiedereinführung der Todesstrafe und eine Verfassungsänderung, um eine weitere Verlängerung seiner Amtszeit zu ermöglichen.

Der Wahlsieg könnte auch zu einem weiteren Anstieg der Drogenmorde führen. Im Juni forderte der Krieg sein bislang jüngstes Opfer, ein dreijähriges Mädchen namens Myca Ulpina, die in einem Einsatz getötet wurde, der ihrem Vater galt. „Wir leben in einer Welt, die nicht perfekt ist“, kommentierte der neue Senator dela Rosa den Tod des kleinen Mädchens. „Shit happens“, bei den Operationen könne immer mal etwas schiefgehen. Der Bischof von Caloocan, Pablo „Ambo“ David, einer der wenigen unter den philippinischen Bischöfen, die Duterte offen widersprechen, zeigte sich bestürzt darüber, dass es dem Präsidenten bereits gelungen sei, „sogar ein grundlegendes Gefühl von Gut und Böse“ im Bewusstsein so vieler Katholiken zu korrumpieren, „indem es den Leuten so leicht gemacht wurde, zu akzeptieren, dass diese Menschen den Tod verdienen, nur weil sie verdächtigt werden, Drogen zu nehmen“.

Vor kurzem provozierte Ambos öffentlicher Widerspruch eine Retourkutsche von Duterte: Der Präsident beschuldigte den Bischof, er würde sich am Klingelbeutel schadlos halten und selbst mit Drogen handeln. Duterte drohte damit, er werde Ambo persönlich „enthaupten“, woraufhin dieser mit Morddrohungen überschüttet wurde. Durch solche direkten Angriffe hat Duterte das Ansehen, das die Kirche auf den Philippinen ein halbes Jahrtausend lang genossen hat, zunichte gemacht. Vater Albert Alejo, ein Mitglied des katholischen Widerstandes, formuliert es mir gegenüber wie folgt: „Die Krise des Drogenkrieges geht über die Todeszahlen hinaus. Am Ende töten sie nicht nur Körper, sondern unsere Art zu denken und unsere moralischen Grundlagen.

Opfer einer Exekution

Foto: Dondi Tawatao/Getty Images

Als Duterte im November 2015 seinen Wahlkampfauftakt feierte, war er ein wenig bekannter Bürgermeister aus der südphilippinischen Stadt Davao, der im Ruf stand, gewalttätig zu sein und von den Bürgern als „Bürgermeister der Todesschwadronen“ bezeichnet wurde. Sechs Monate später war er das bekannteste Gesicht des Landes, in erster Linie dank einer Kampagne, die einer frustrierten und entfremdeten Wählerschaft fantastische Reformen in Aussicht stellte. „Er versprach ihnen das Blaue vom Himmel“, sagt mir ein katholischer Aktivist. Unter anderem redete er davon, in nur hundert Tagen den Verkehr in Manila – der zu den schlimmsten weltweit gehört – in Ordnung zu bringen, die Korruption in Regierung und Wirtschaft zu beenden und das Land durch einen unbarmherzigen Anti-Drogen-Krieg von Kriminalität und Armut zu befreien. Neben diesen kühnen Versprechungen gründete Duterte seinen Wahlkampf auf einer gewalttätigen und blasphemischen Rhetorik, die den Wählern und Wählerinnen in dem überwiegend katholischen Land jeden Grund gab, sich von ihm abzuwenden. Seine öffentlichen Auftritte waren von vulgären Äußerungen und offenen Drohungen geprägt, und anstatt die religiösen Führer des Landes zu hofieren, um sich politische Vorteile von deren traditioneller Beliebtheit zu verschaffen, wetterte er in einem fort gegen die katholische Kirche und nutze dabei deren Geschichte sexuellen Missbrauchs als moralisches Argument. Er ging sogar so weit, Papst Franziskus nach dessen Besuch in Manila 2015 zu beschimpfen und sich über das furchtbare Verkehrschaos zu beschweren, die die Messe des Papstes verursachte. „Putang ina“, höhnte Duterte. „Sohn einer Hure, geh nach Hause und komm nie wieder hierher.“

Diese Angriffe hätten bei den philippinischen Wählerinnen und Wählern, für die der Katholizismus eng mit der nationalen Identität verbunden ist, eigentlich auf Widerspruch und Ablehnung stoßen müssen. Die heiligen Schriften des Christentums sind hier so unvermeidlich wie die Sonne und das Meer, Gebetsperlen hängen an unzähligen Rückspiegeln; Neonkreuze durchziehen die Skylines der Städte. An den überfüllten Verkaufsständen der Märkte Manilas können Passanten zwischen Turnschuhen, Mangos und Erfrischungsgetränken alle möglichen katholischen Devotionalien erstehen: glänzende Pietà-Statuen aus Kunststoff, kreidefarbene Votivkerzen, bunte Rosenkränze, Medaillons, die mit den Gesichtern von Heiligen geprägt sind. In den Gassen der Hauptstadt tauchen Kapellen aus Stein und Blech auf, die fast nicht von den benachbarten Wohnhütten zu unterscheiden sind, wo selbstgemachte Schreine in den Fenstern leuchten.

500 Jahre Christentum

Dasselbe Land, das mit den Ornamenten des Glaubens geschmückt ist, unterstützt gleichzeitig einen frauenfeindlichen und mörderischen Demagogen. „Schon bald werden wir 500 Jahre Christentum feiern“, sagt Vater Flavie Villanueva, der sich gegen den Anti-Drogen-Krieg engagiert, und verweist damit auf die Ankunft der Spanier – und mit ihnen des Katholizismus – auf den Philippinen im Jahr 1521. „Aber sehen Sie sich an, wer Duterte seine Stimme gegeben hat, und die Leute unterstützen ihn noch immer. Es gibt noch immer so viele Katholiken, die auf seiner Seite stehen“, sagt Flavie Villanueva.

So feindselig seine Rhetorik während des Wahlkampfes bereits war, hat sich seine aggressive Haltung gegenüber der Kirche während seiner Präsidentschaft nur noch verschärft. Als wollte er testen, wie weit er mit seinen blasphemischen Bemerkungen gehen kann, beleidigt er ein katholisches Dogma nach dem anderen und bricht dabei immer neue Tabus. Während er 2016 in Laos in einer Rede zu seinen Landsleuten sprach, sagte er eine Zukunft voraus, in der die katholische Kirche keine Bedeutung mehr haben werde, und rief sie auf, eine „iglesia ni Duterte“ (eine „Kirche Dutertes“) zu gründen. An Allerheiligen verspottete er die katholischen Heiligen im vergangenen Jahr als Heuchler und Spinner, während er sich stattdessen als geeigneteres Objekt der Anbetung anbot: „Santo Rodrigo“. Vergangenen Oktober zielte er sogar über den Papst hinaus, nannte Gott höchstpersönlich einen „Hurensohn“ und fragte: „Wer ist dieser dumme Gott?“

Ein heiterer Kardinal

Dutertes Aufstieg hat ein Dilemma der Führung der philippinischen katholischen Kirche wiederbelebt, in dem sich eine Identitätskriese widerspiegelt, mit der sie sich ihre gesamte Geschichte hindurch konfrontiert sah: Worin besteht ihre Verantwortung unter einem unmoralischen Regime? Kardinal Tagle spricht nur selten über den Anti-Drogen-Krieg, und wenn er dies tut, dann in Form einer breiten Verurteilung einer „Kultur des Todes“ – eine vage Formulierung, die sowohl Abtreibungen als auch den Anti-Drogen-Krieg mit einschließt. Seine Position wird weiter durch die Tatsache getrübt, dass er bei heiteren Treffen mit Duterte fotografiert wurde, den er bis heute nicht namentlich verurteilt hat. „Viel Glück dabei, ihn zu finden“, sagt ein Kirchenaktivist über Tagle. „Er hasst es, wenn Reporter ihn mit Fragen über die extralegalen Tötungen konfrontieren. Kardinal Tagle hat auf mehrere Interviewanfragen nicht reagiert. Dieser Eiertanz hat bei weltlichen Menschenrechtsorganisationen für großen Frust gesorgt, die von der Kirche eigentlich erwarten, dass sie bei einer ganzen Reihe dringender Probleme die Führungsrolle übernimmt: „Sie waren sehr langsam und äußerten sich nicht“, kommentiert Phelim Kine, die stellvertretende Leiterin der asiatischen Sektion von Human Rights Watch die Reaktion der Kirche auf Dutertes Drogenkrieg. Carlos Conde, der einzige in den Philippinen stationierte Vertreter von Human Rights Watch, äußert sich ähnlich. Er glaubt, dass die Kirche „die einzig verbleibende Institution ist, die Duterte die Stirn bieten kann. Es ist doch nur eine Ausrede zu sagen, die Kirche sei nicht politisch. Selbstverständlich ist sie das.“

Die jüngste Geschichte gibt Conde recht. Die philippinische Priesterschaft unterstützte die erfolgreichen Revolutionen des Landes von 1986 und 2001 und stellte sich einer letztlich gescheiterten Konterrevolution im selben Jahr entgegen. Die erste und bekannteste war die People Power Revolution, die den Diktator Ferdinand Marcos absetzte und mehr als ein Jahrzehnt des Kriegsrechts beendete. Die Kirche spielte bei der Organisation der Revolte eine maßgebliche Rolle. Das Erbe der erfolgreichen Umstürze lastet schwer auf der philippinischen Kirche von heute, einer radikal anderen Organisation als damals. „Wir wollen im Augenblick nichts mit Politik zu tun haben“, sagt Vater Flavie Villanueva im persönlichen Gespräch, und beschreibt damit eine Kirche, die sich von den Erwartungen aller vergangenen Revolten distanziert hat. Zweifelsohne ist die Kirche an sich vorsichtiger mit Duterte umgegangen als einige ihrer Gemeindepfarrer. Aber, wie Guadalupe Tuñón, ein Stipendiat am Weatherhead Center for International Affairs der Harvard University, der sich auf die Schnittstelle von Religion und Politik spezialisiert hat, betont, können diese Schattenspiele lediglich einen Teil der Geschichte offenbaren. „Was immer sie zu Protokoll geben ist möglicherweise weniger bedeutsam als das, was sie in ihren Diözesen zulassen“, so Tuñón. Tagle selbst mag stumm bleiben, aber jede Dissidenz in seiner Erzdiözese geschieht mit seiner stillschweigenden Erlaubnis. Es ist daher bemerkenswert, dass einer der wenigen Bischöfe des Landes, die klar Stellung beziehen, der direkte Untergebene des Kardinals ist: Broderick Pabillo, der Weihbischof von Manila. Pabillo verteidigt den Ansatz des Kardinals und argumentiert, es gebe „verschiedene Arten zu reagieren“, um ein und dasselbe Ziel zu erreichen. Nichtsdestotrotz herrscht eine gewisse Dissonanz zwischen Tagles Schweigen und Pabillos weiterer Sicht, wie die Kirche mit dem Thema umgehen sollte. „Ich glaube nicht, dass wir genug getan haben“, sagt Pabillo. „Unter den Geistlichen und Laien sagen nur wenige offen ihre Meinung.“ Auf die Frage, was passieren würde, wenn die Kirche die Art von Protest und Widerstand leisten würde, wie er dies für richtig hält, sagt er ganz klar: „Es würde die Morde beenden.“

Beim Bestattungsunternehmen Eusebio im Norden Manilas sitzt Bruder Jun mit dem Geschäftsführer Orly Fernandez zusammen in der offenen Garagentür des Gebäudes und wartet auf Neuigkeiten. Jun verbringt seine Nächte häufig bei Eusebio, einem der „akkreditierten“ Bestattungsunternehmen der PNP, dessen Geschäfte während des Drogenkrieges florieren. Wenn ein Mord geschieht, ruft die Polizei ein akkreditiertes Bestattungsunternehmen an, damit es den Leichnam abholen kommt. Wenn Fernandez einen Anruf erhält, gibt er Jun häufig einen Hinweis, der dann schnell hinrast, um vor dem Leichenwagen dort zu sein und die Leiche fotografieren zu können. Seit fast drei Jahren widmet Jun die Stunden nach Einbruch der Dunkelheit diesem Ritual, das Teil seiner Arbeit mit den Nightcrawlers ist, einer Gruppe philippinischer Journalisten, die sich die Friedhofs-Schichten teilen und auf Anrufe warten. Auf dem Höhepunkt des Krieges waren drei bis fünf Morde Routine. In einer Nacht im Sommer 2017, als Teil dessen, was die PNP eine „One Time, Big Time“-Operation nennt, fielen den Säuberungen 32 Menschen in weniger als 24 Stunden zum Opfer. Jun hält es für wichtig, die Gewalt zu dokumentieren – durch Fotos und die Sammlung von Polizeiberichten –, um den Drogenkrieg bekämpfen zu können. Die Arbeit der Nightcrawlers hilft, die internationale Aufmerksamkeit auf die Gräueltaten zu lenken. Sie bilden ein Netzwerk, das die Familien der Opfer unterstützt. Trotzdem hat Jun eine ungewöhnliche Stellung zwischen Fotograf und Missionar inne, was ihm in beiden Welten Vorteile gegenüber seinen Kollegen verschafft. Zum einen sind die Familien der Opfer häufig eher dazu bereit, mit einem Vertreter der Kirche zu sprechen als mit einem Journalisten; zum anderen verfügt Jun als aktivistischer Bruder über eine gewisse Beweglichkeit innerhalb der rigiden Strukturen der Kirche, die ein Priester nicht hat.

Der Katholizismus ist stark auf den Philippinen. Hier tragen Gläubige eine Muttergottes

Foto: Dondi Tawatao/Getty Images

Die Nacht bei Eusebio ist ruhig. Jun erzählt, dass er in eine Provinz nördlich von Manila fahren will, wo die Konzentration der Opferzahlen besonders hoch ist. „Du brauchst nicht in die Provinzen zu gehen“, erwidert Fernandez. „Hier gibt es doch genügend Exekutionen.“ Er schätzt, dass er in der vorangegangenen Woche zehn Leichen im Norden von Manila geborgen hat. Während die Gruppe vor der Garage auf dem Bordstein sitzt und wartet, holt Fernandez drei Ausdrucke von drinnen und legt sie auf einer Bank aus. Auf allen dreien steht oben in Großbuchstaben „VERMISST“, darunter Bilder und Namen. Dies ist zur Normalität geworden: In Anbetracht schwindender Berichterstattung in den Medien und mutwilligeren Ausflüchten seitens der Polizei verschwinden die Toten zunehmend aus dem öffentlichen Bewusstsein.

Die Morde wechseln den Ort

Nachdem sie ein paar monotone Stunden mit dem Rauchen von Zigaretten und dem Essen von Ramen – Nudelsuppe aus dem 7-Eleven nebenan – verbracht haben, begleitet die Handvoll Journalisten Jun zu einer Totenwache in der Nähe. Totenwachen gehören nunmehr mit zu Juns wichtigsten Orten, um Informationen zu sammeln, Polizeiberichte zu sichern und sich die Versionen der Familien der Opfer anzuhören. Jun parkt seinen Wagen vor einer Hütte, die nur aus einem einzigen Zimmer besteht. Im Inneren finden sie eine Frau vor, die auf zwei Klappstühlen vor einem offenen Sarg schläft. Obwohl es schon spät ist und auf ein Uhr zugeht, sind auch noch Kinder sowie entferntere Familienangehörige des Verstorbenen da und spielen draußen Karten. Auf den Philippinen können Totenwachen bis zu einer ganzen Woche oder noch länger dauern, und Spielen ist ein verbreitetes Mittel, sich dabei die Zeit zu vertreiben. Die Gewinne werden dann für die Bestattungskosten verwendet. Jun unterhält sich freundlich mit der Schwester und Mutter des Opfers und gewinnt schnell deren Vertrauen. Innerhalb von Minuten lachen sie über seine Witze, und nach einem kurzen Gespräch geben sie ihm die PNP-Dokumente über den Mord. In dem Bericht heißt es, ein Mädchen im Teenageralter habe ein paar Nächte zuvor von einer Schießerei in Navotas berichtet. Ein nicht identifizierter Schütze habe zweimal auf das Opfer, Victor dela Cruz, geschossen: einmal in die Schulter und einmal in den Arm. Auf Dela Cruz‘ Körper, so der Bericht weiter, habe die Polizei einen „verschweißten transparenten Kunststoffbeutel mit einer weißen, kristallinen Substanz“ sichergestellt, bei der man davon ausgehe (!), dass es sich um ‘shabu’ handelt. Jun steckt den Bericht ein und geht für den Rest der Nacht nach Hause.

Nicht lange nach unserer Nacht bei Eusebio stehe ich mit Jun vor einem anderen Bestattungsunternehmen, dieses Mal in der Stadt Cebu City, der größten Stadt in der Region Visayas. Im vergangenen Spätsommer, als die Intensität des Drogenkrieges in Manila zurückging, nahmen die Exekutionen mutmaßlicher Drogenabhängiger in Cebu zu. Eine kleine Abordnung katholischer Aktivsten ist hierher gereist, um sich mit Jóse Palma zu treffen, dem Erzbischof von Cebu. Die Ankunft des Drogenkrieges in Cebu zerstörte eine der pittoresksten Inseln der Philippinen, die gleichzeitig für die christliche Tradition des Landes von herausragender Bedeutung ist. Cebu gilt als Wiege des Katholizismus auf den Philippinen. Die Zunahme der drogenbedingten Morde war auf die Versetzung von drei berüchtigten notorischen leitenden PNP-Offizieren nach Cebu zurückzuführen. „Folge den Polizisten“, sagte mir Jun, als wir uns zum ersten Mal trafen, und erklärte mir, dass man ziemlich gut vorhersagen könne, wo es zu den nächsten Erschießungen kommen wird, indem man nachverfolgt, wohin bestimmte PNP-Offiziere und Einheiten versetzt werden.

Ab nach Rom

Am Ende sind die Aktivisten, die nach Cebu gereist sind, um den Erzbischof zu sehen, enttäuscht. Obwohl er sehr offen mit ihnen über den Anti-Drogen-Krieg gesprochen hat, kam Palma über weite Strecken über Plattitüden wie „Töten ist keine Antwort“ und „Wir haben Gott“ nicht hinaus. Außerdem schien er die offiziellen Erklärungen der PNP zu den Exekutionen für bare Münze zu nehmen. Am Ende des Treffens appelliert jedes Mitglied der Gruppe noch einmal mit eigenen Vorschlägen für eine Reaktion der Kirche an Palma. Jun fordert den Bischof direkt auf, die Situation mit größerer Skepsis zu prüfen. „Sie haben das Muster, nach dem sie in Manila vorgegangen sind, einfach hierher übertragen“, beharrt er. „Es ist so offensichtlich“. Palma nickt zustimmend, erwähnt dann eine örtliche Koalition von Klerikern, von der er sich erhoffe, sie könne „eine Rolle dabei spielen, viele dieser Dinge aufzuklären“. Die Einladung eines anderen Aktivisten, bei einer bevorstehenden Protestveranstaltung zu sprechen, lehnt er mit Verweis auf seinen Terminplan ab.

Hinrichtungen können durch die Nationalpolizei PNP erfolgen. Viele Menschen verschwinden auch einfach

Foto: Shaun Swingler/Sopa Images/Lightrocket/Getty Images

Schon bald haken wir das Treffen ab. Palma wird am nächsten Tag nach Rom fliegen. Vor dem Palast des Erzbischofs zeigt Jun sich frustriert darüber, dass Palma offenbar nicht begreifen will, welche Farce die Operationen der PNP darstellen. Doch bei all seinem Frust über die große Zurückhaltung der Kirche weiß Jun auch, dass er die kirchlichen Strukturen nicht nach demselben Maßstab beurteilen kann wie sich selbst. „Das ist ihr Terrain und ihre Verantwortung. Man muss die anderen Gemeinden respektieren“, seufzt er. Ein Erzbischof kann sich nicht ohne Erlaubnis in die Belange der Diözese eines Kollegen einmischen. Dasselbe gilt für Pfarrer und ihre Gemeinden. Die Proteste sind verstreut, anstatt hinter dem Willen eines gemeinsamen Gottes vereint. Die komplexe Struktur der katholischen Kirche hemmt ihren eigenen Aktivismus. Schon allein Juns Anwesenheit in Cebu stellt eine Art von Subversion der Hierarchie dar: Weit außerhalb der Grenzen seiner eigenen Gemeinde unterrichtete er einen Erzbischof über die Gräueltaten in seiner Diözese.

Doch Jun beharrt darauf, dass er nicht aus einer religiösen Verpflichtung heraus nach Cebu gegangen sei, sondern aus Pflicht gegenüber seinem Land. „Ich bin als Journalist und als Filipino hier. Meine Arbeit ist nicht an meine Ordenszugehörigkeit gebunden.“ An unserem letzten Abend in Cebu fährt Jun die Gruppe in die hinter der Stadt gelegenen Berge zu einem Platz, an dem kurze Zeit zuvor ein Massaker verübt worden ist. Am Tag der „One Time, Big Time“-Operation wurden in Cebu ein paar Stunden vor Sonnenaufgang sieben Leute verschleppt und auf einen verlassenen Feldweg gebracht, um dort ermordet zu werden. Als wir den Ort erreichen, ein gepflasterter Weg von dem aus man das Tal überblicken kann, spielt Jun die Exekutionen pantomimisch nach, um zu veranschaulichen, wie fünf Menschen ermordet wurden und zwei entkommen konnten.

Er blickt über die Schlucht hinaus, wo ein kleines Holzkreuz an das Massaker erinnert. „Ich bin Filipino. Das Wichtigste zuerst“, sagt er später zu mir. „Die religiöse Identität ist nur ein Teil dessen, was es bedeutet, ein Filipino zu sein.“ Wir fahren zurück in das Tal, in die Unterkunft der Redemptoristen in einem Außenbezirk der Stadt, wo Jun den katholischen Oberhäuptern am darauffolgenden Tag über die Gräuel, die er dokumentiert hat, berichten soll. Da er sich vorbereiten, will, nimmt er in einer ruhigen Ecke Platz und ruft auf seinem Computer eine Diashow auf. Fotografien der Toten des Drogenkrieges werden auf der Leinwand ein- und ausgeblendet. Bei jedem neuen Bild nennt Jun einen Ort und einen Namen. Den Gang hinunter vermischt sich gedämpfter Smalltalk mit dem Summen der Zikaden in den Bäumen. Schon längst ist es Nacht geworden, die Sterne funkeln wie Teelichter hinter den aufziehenden Wolken.

Adam Willis kommt aus Atlanta in den USA. Er ist Stipendiat des Pulitzer Center und schreibt unter anderem für das Politico Magazine, Slate und The Boston Globe . Diesen Text hat er zunächst im Journal The Virginia Quarterly Review und dann im Guardian veröffentlicht

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Adam Willis | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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