Zu mir oder zum Arzt?

Stigma Die Dating-App Grindr hat sensible Daten ihrer Nutzer herausgegeben. Jetzt droht ein Rückschlag im Umgang mit Aids
Ausgabe 15/2018
Zu mir oder zum Arzt?

Illustration: Jonas Hasselmann für der Freitag

Schwule Männer haben immer schon sogenannte Safe Spaces gebraucht. Sichere Orte also, an denen sie ohne Angst vor Stigmatisierung und Verurteilung oder, wichtiger noch, Verfolgung und Gewalt zusammenkommen konnten. In den vergangenen Jahrzehnten waren diese Orte größtenteils Schwulenbars und andere Clubs, in denen schwule Männer unter sich waren und auf eine Art sie selbst sein konnten, die draußen in der „guten Gesellschaft“ nicht immer möglich war. Die Tatsache, dass sich in diesen Institutionen massenweise Männer aufhielten, die nach unverbindlichem Sex suchten, war nicht einfach nur ein Bonus, sondern häufig der eigentliche Zweck.

Wohl oder übel hat sich im digitalen Zeitalter Grindr als der Safe Space herausgebildet, an dem viele schwule Männer diesen Anschluss an eine Community und sexuelle Kontakte finden. Grindr ist die Dating-App schlechthin für User, die wissen wollen, wer in ihrer Nähe interessiert an ihnen ist. Umso verstörender war es für viele Nutzer, dass vergangene Woche festgestellt wurde, dass Grindr ihre Informationen – darunter ihren Standort und ihren HIV-Status – mit Drittanbietern geteilt hat.

Stammeln in der Stammbar

Für manche mag es seltsam klingen, dass Grindr überhaupt im Besitz dieser sensiblen medizinischen Informationen ist und sie so mit externen Unternehmen teilen kann, die dabei helfen, das Produkt zu optimieren. Es ist jedoch Teil einer Transparenzkultur, die durch die vermeintliche Anonymität und die Bequemlichkeit im Internet entstanden ist. Schließlich teilen viele dort ja auch Fotos intimer Körperteile; den eigenen HIV-Status offenzulegen, kostet sehr viel weniger Anstrengung.

Ähnlich wie bei den Vorgänger-Apps Manhunt und Gaydar gibt es bei Grindr zu jedem Profil ein Feld, in dem User andere Nutzer wissen lassen können, ob sie HIV-positiv oder -negativ sind. Ein User, der positiv ist, hat die Möglichkeit, zusätzlich anzugeben, ob seine Viruslast unter der Nachweisgrenze ist, was bedeutet, dass er das Virus nicht übertragen kann. Sofern er negativ ist, kann er angeben, ob er PrEP einnimmt – eine präventive Dosis des HIV-Medikaments Truvada, die vor einer Infektion schützt.

Die Dating-App

Grindr wurde 2008 von Joel Simkhai, Morten Bek Ditlevsen und Scott Lewallen entwickelt, sechs Monate später launchten sie die App. Simkhai, Jahrgang 1979, sagte einmal über sich selbst, er sei „online schwul geboren“, da sein Coming-out und sein erster Internetzugang zeitlich zusammengefallen seien. Die Idee hinter Grindr, so Simkhai, sei wohl jedem schwulen Mann schon einmal gekommen: Was wäre, wenn es eine einfache Möglichkeit gäbe, herauszufinden, welche Männer um einen herum auf Männer stehen? Simkhai entwickelte das entsprechende Tool: eine App, mit der angemeldete Nutzer Männer in ihrer Umgebung lokalisieren und kontaktieren können.

Neben einem Profilbild können Merkmale wie Alter, Hobbys, Vorlieben, Körpertyp und HIV-Status angegeben werden. Kritik gab es immer wieder an der Kategorie ethnische Abstammung. Im Januar 2018 wurde Grindr endgültig von einem Großaktionär, dem chinesischen Plattform- und App-Anbieter Kunlun Group, für zusätzliche 152 Millionen Dollar aufgekauft, Simkhai schied als CEO aus. Jüngsten Zahlen zufolge hat Grindr 27 Millionen registrierte Nutzer in knapp 200 Ländern. Anfang April wurde bekannt, dass Grindr sensible Nutzerdaten mit den Datendienstleistern Apptimize und Localytics geteilt hatte.

Es war nicht immer so einfach – oder auch so breit akzeptiert –, den eigenen HIV-Status zu teilen. Bevor es das Internet gab, ging die Preisgabe mit unbeholfenen Gesprächen in Bars einher, ängstlichem Gestammel, während man sich aus den Klamotten schälte, oder, schlimmer noch, unangenehmen Enthüllungen beim dritten Date. Diese Arbeit nimmt die App uns ab, indem sie freiheraus mitteilt, was Sache ist, sodass sich nur noch eine einzige Frage stellt: „Zu mir oder zu dir?“

Parallel zur technologischen Revolution fanden auch grundlegende Umwälzungen in Medizin und Gesellschaft statt. Seit der Einführung von PrEP und „Behandlung als Vorbeugung“ befinden schwule Männer sich mittendrin in einer neuen sexuellen Revolution, dank der abweichende Status (ein Typ, der positiv ist, schläft mit einem Typ, der negativ ist) nicht mehr den Drahtseilakt bedeuten, der sie früher waren, in ständiger Angst, das Kondom könnte reißen. Aus diesem Grund und auch dank der unermüdlichen Arbeit von Schwulenaktivisten und HIV-Aktivisten sind Dates mit HIV-positiven Menschen heute viel weniger ein gesellschaftliches Tabu, insbesondere unter schwulen Männern. Einer Studie von YouGov aus dem vergangenen Jahr zufolge gaben 39 Prozent der Befragten in Großbritannien an, sie würden sich nicht wohl dabei fühlen, mit einer HIV-positiven Person auszugehen. Unter Lesben und Schwulen waren es lediglich 14 Prozent.

All diese Fortschritte machen die Tatsache, dass Grindr diese sensiblen Daten geteilt hat, nur umso erschreckender. Der Grund, warum so viele Männer kein Problem damit haben, ihren HIV-Status unter ihrem Foto zu veröffentlichen (egal, ob es nun ihr Gesicht zeigt oder auch nur den Ausschnitt vom Hals bis zu den Schenkeln in Badehose), ist, dass Grindr als eine reine App für schwule Männer angesehen wird. Keiner hatte das Gefühl, er müsse sich hier Sorgen um heterosexuelle Kollegen, besorgte Mütter, neugierige Nachbarn oder übereifrige Pastoren machen, die sich einloggen und herausfinden könnten, was sie nur mit potenziellen Dates und Sexpartnern teilen möchten.

Kürzlich sorgte der Fall des Unternehmens Camebridge Analytica für Aufsehen, das millionenfach Daten von Facebook-Nutzern missbraucht hat, um Wählerprofile zu erstellen (siehe der Freitag Nr. 12 / 2018). Wer die Berichte verfolgt hat, wird sich kaum noch sicher fühlen, wenn er sensible Informationen mit Unternehmen wie Facebook teilt. Die Angst ist groß, dass wir nicht darauf vertrauen können, dass unsere Daten geschützt sind. Ich fürchte, dass der Vorfall bei Grindr dazu führen wird, dass viele in Zukunft davon absehen werden, ihren HIV-Status zu posten oder ob und wie sie sich gegen Infektionen schützen. Da so viele von uns sich daran gewöhnt haben, Menschen online kennenzulernen, wird es kein Zurück zu den alten linkischen Gesprächen in der Bar geben. Die Gefahr, der schwule Männer dann wieder ausgesetzt sind, ist wesentlich schlimmer als Hacking und Datensammeln. Und es könnte eine neue Ära der Geheimhaltung und Angst rund um den HIV-Status einläuten, die so weit hinter uns schien wie Margaret Thatchers Schulterpolster.

Ein öffentliches Forum?

In einem ziemlich taktlosen Blogbeitrag schrieb Scott Chen, der Chef-Techniker von Grindr, nach dem Vorschlag: „Man darf nicht vergessen, dass Grindr ein öffentliches Forum ist.“ Ja, das ist es. Aber es gibt öffentliche Orte und es gibt öffentliche Orte. Wie sich jemand in einer Schwulenbar verhält oder wie er dort spricht, unterscheidet sich erheblich davon, wie er sich in der Kirche, im Büro oder beim wöchentlichen Einkauf im Supermarkt verhält. Wer käme schon auf die Idee, zur Arbeit in einem T-Shirt zu gehen auf dem steht „Ask Me About My HIV Status“. In einer Schwulenbar oder auf einem Walk am Welt-Aids-Tag ist das etwas ganz anderes.

Das womöglich Schmerzlichste an dieser Enthüllung: Viele schwule Männer dachten, Grindr sei ein Safe Space, ein Ort, an dem wir wir selbst sein können, ohne verurteilende Blicke. Es fühlte sich an, als sei Grindr von uns und für uns, ein Ort, an dem wir sorglos sein können und verstanden werden. Es hat sich herausgestellt, dass es nur ein weiterer Tech-Riese ist, der uns verkauft unter dem Deckmantel der Gemeinschaft.

Brian Moylan schreibt vorwiegend über popkulturelle Themen und gründete die Unterseite Vulture.com des New York Magazine

Übersetzung: Christine Käppeler

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Brian Moylan | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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