Zuviel Selbstachtung verloren

Südafrika Während das Land auf die Fußball-WM wartet, legt sich Erzbischof Desmond Tutu mit der ANC-Regierung an

Für den emeritierten Geistlichen, der oft als moralisches Gewissen Südafrikas bezeichnet wird, wirkt das Erbe der rassistischen Apartheid immer noch nach. „Es ist etwas mit uns geschehen“, sagt der 78-jährige Desmond Tutu. „Es scheint so, als hätten wir unsere Selbstachtung verloren – das ist keine Frage der Armut allein. Ich möchte nicht alles auf die Apartheid schieben, aber es könnte sein, dass wir uns gar nicht bewusst sind, welcher Schaden in uns nachwirkt. Ich meine damit alle Südafrikaner, ich meine den Schaden, der jene getroffen hat, von denen diese unmenschliche Politik ausging, und den Schaden, den die Opfer zu tragen hatten.“

Der Friedensnobelpreisträger, eine der führenden Stimmen im Befreiungskampf, ist immer noch eine überragende und hochangesehene Figur im öffentlichen Leben und ein scharfzüngiger Kritiker der ANC-Regierung. Seine Zweifel artikuliert er in einem Moment, da Südafrika als stolzer Gastgeber der Fußball-WM die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zieht. Es wurde enormes politisches wie finanzielles Kapital in das Turnier investiert. Präsident Jacob Zuma ist davon überzeugt, es gab noch nie eine „größere Gelegenheit, der Welt unsere Vielseitigkeit und unser Potential zu präsentieren.“ Doch steht seine Partei im Verdacht, inzwischen ein Hort der Gier und Vetternwirtschaft zu sein.

„Während des Kampfes gegen die Apartheid waren die Menschen noch sehr idealistisch und bereit, sich zu opfern“, erinnert Tutu. Aber nun sind Dinge, gegen die wir zu kämpfen glaubten, für manche unwiderstehlich geworden. Es ist nichts Schlechtes daran, reich zu werden. Aber dieser Reichtum wird nur von einer bestimmten Gruppe, von der Elite, gesteuert.“

In den eigenen Wohnungen gefangen

Noch immer kaum eingedämmte Gewaltverbrechen überschatten die Post-Apartheid-Ära. Skeptiker befürchten, sie könne auch Gäste des Championats treffen, die zum Turnierbeginn am 11. Juni nach Südafrika kommen. „Viele von uns fühlen sich unsicherer als früher“, glaubt Tutu. „Wir sind in unseren eigenen Wohnungen gefangen. Man bekommt fast jeden Tag etwas Schreckliches zu lesen. Wir sollten uns wirklich fragen, was hier vor sich geht.“

Gerade wurde der 16. Jahrestag von Mandelas Sieg bei der ersten freien Wahl Südafrikas begangen. Was hat dieser Triumph bewirkt? Die räumliche Trennung zwischen Schwarzen und Weißen prägt noch immer die Realität, als sei die Apartheid nie untergegangen. Millionen leben weiter in herunter gekommenen Townships vor den Toren der großen Städte. Tutu, der den Begriff „Regenbogen-Nation“ geprägt hat, will von rassenübergreifender Harmonie nichts wissen. „Wir müssen uns fragen, ob wir vollkommen geheilt sind.“ Der Geistliche führte jene Wahrheitskommission, die bis 1998 versucht hat, durch Aufklärung zu beschreiben, wie die Gesellschaft unter dem Patronat einer Minderheit in Opfer und Täter zerfiel. Tutu gibt zu, es gab Fehler: „Wir sind mit der Kommission nicht an die großen Fische – an die maßgeblichen Täter – rangekommen.“

Wie brüchig das Verhältnis zwischen schwarzen und weißen Südafrikanern ist, zeigte sich jüngst, als Julius Malema, Vorsitzender des ANC-Jugendverbandes, aus Protest gegen ein Gerichtsurteil ein Lied aus der Apartheidzeit anstimmte, dessen Refrain lautet: „Erschießt die Buren!“ Einige warfen ihm vor, er habe damit zum Rassenhass und indirekt zum Mord an dem weißen Rassisten Eugene Terre’Blanche angestachelt. Derzeit muss sich Malema einem Disziplinarverfahren im ANC stellen. Nicht allein wegen des Liedes. Auch weil er Simbabwes Präsident Mugabe hofiert und einen BBC-Reporter während einer Pressekonferenz beschimpft hat. „Viele ANC-Mitglieder sind im Moment sehr betroffen“, sagt Tutu und gibt zu verstehen, Mandela sei mit der Causa Malema nicht behelligt worden. Der heute 91-Jährige lebe sehr zurückgezogen. „Auf eine Art bin ich froh, dass Madiba (Mandelas Clan-Name - die Red.) von diesen Dingen verschont bleibt. Es würde ihn nur tief traurig stimmen.“

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

David Smith | The Guardian

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