Oleg

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Die Kneipe ist schwach beleuchtet und voll, wir setzen uns zu ihm, kleiner drahtiger Mann mit Bier, allein am Tisch, fremd, noch nie hier gesehen. Er spricht russisch mit englischem Akzent, eine schwierige Mischung, seine Geschichte ist kurz, oder lang, wie man will. Der Sohn lebt in Moskau, trainiert bei Dynamo und lernt Klavier, beim Ehemann von Alla Pugatschowa. Die Mutter ist tot, die erste Frau. Er sagt das mit Wasser in den Augen. Die zweite Frau, eine Deutsche aus Potsdam, ist nach Jugoslawien abgehauen, und er, Oleg, kam bis nach Leipzig. Und nun steht sein letztes Geld als halbvolles Bier auf dem Tisch vor seiner Nase, und Jelzin ist gutt und Putin ist strong, und auf die Frage nach Tschetschenien erzählt er von seiner Schwester in Moskau, die dort Big Boss ist und von der er Geld erwartet, morgen, wenn die Post wieder geöffnet hat. Spätestens damit ist klar, dass er ein Bett für die Nacht braucht Wir schauen uns unsicher an. Er erzählt, dass er mal Fußballer war, auch bei Dynamo, sogar was von Champion erzählt er, aber wir hören nicht richtig zu Der Mann braucht ein Bett und wir sitzen mit ihm zusammen am Tisch. Er wird uns fragen, in ein paar Minuten, natürlich, wen soll er sonst fragen, es geht auf Mitternacht zu. Und dann fragt er, und wir haben keine Zeit mehr, lange zu überlegen, schütteln die Köpfe, fühlen uns schlecht, da ist ein Fremder, angetrunken, Russe - wer sammelt schon einen von der Straße auf. Dagegen stehen Worte wie Gastfreundschaft und Helfen. Oleg starrt schweigend in sein fast leeres Glas, und wir streiten uns in hastigem Deutsch. Und schämen uns.

Dann gehe ich telefonieren, wir laden Oleg ins Auto, durchqueren die nächtliche Stadt, der Freund empfängt uns an der Tür, er hat ein Bett und russische CDs, wir trinken Bier und Wodka, Oleg umarmt uns mehrmals der Reihe nach, Drushba, und wenn wir mal nach Moskau wollen, seine Schwester ist dort Big Boss - irgendwann gegen Morgen verabschieden wir uns, müde und betrunken und froh, und am nächsten Nachmittag sagt mir ein Bekannter, dem ich die Geschichte erzählte: "Oleg? Bei Dynamo Moskau? In den Achtzigern? Mann, das war einer der besten Fußballer der Welt, Oleg Protassow, Vize-Europameister 1988."

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