Burleske Reisen

Überblick Die lateinamerikanische Gegenwartsliteratur nimmt sich noch immer der Geschichte an. Und wie!
Ausgabe 40/2016
„Wir sind alle Chávez“, heißt es in „Die letzten Tage des Comandante“
„Wir sind alle Chávez“, heißt es in „Die letzten Tage des Comandante“

Foto: Federico Parra/AFP/Getty Images

Anfang September eröffnete César Aira das internationale Literaturfestival in Berlin mit der These, dass jeder Schriftsteller gut schreibe, solange er sich nur der Literatur überantworte. Irritiert wechselten seine Zuhörer die Blicke. Wollte ihnen gerade einer der angesehensten lateinamerikanischen Autoren erklären, dass es schlechte Literatur nicht gebe?

Der 1949 in der Provinz von Buenos Aires geborene Aira ist ein Meister der Täuschung. Seine sympathischen, aber wenig zuverlässigen Erzähler verbiegen die Wirklichkeit so lange, bis sie in ihrer surrealen Wirkung schon wieder echt sein könnte. Hierzulande ist der von Patti Smith und Roberto Bolaño gleichermaßen gefeierte Autor, gerade mit dem höchstdotierten Literaturpreis Lateinamerikas ausgezeichnet, noch ein Geheimtipp. Sein Thema sei schlicht die Zeit, sagte er in Berlin. „Vollgestopft mit Geschichte“ sei sie, schreibt er in seinen kunsttheoretischen Essays, bei uns unter dem Titel Duchamp in Mexiko erschienen, und „niemand macht sich die Mühe, sie zu erzählen“ – abgesehen von den lateinamerikanischen Schriftstellern.

Selbstverlorenheit der Jugend

Und auch in ihren aktuellen Büchern setzen sie sich wieder mit der unruhigen Geschichte ihrer Heimatländer auseinander. Darin arbeiten sie – freilich eher realistisch, als magisch – das verheerende Wüten der rechtskonservativen Militärdiktaturen und ihre Folgen sowie die sozialistischen Gesellschaftsexperimente der jüngeren Vergangenheit auf.

César Airas zehn Jahre jüngerer Landsmann Alan Pauls etwa setzt in seinem preisgekrönten Roman Die Vergangenheit dem selbstverlorenen Dasein der argentinischen Jugend inmitten der Wirtschaftskrise Ende der 90er Jahre ein Denkmal. Die Zeit der Militärdiktaturen hat Pauls in einer Romantrilogie reflektiert, die nach der Geschichte der Tränen (2010) und der Geschichte der Haare (2012) in der Geschichte des Geldes einen famosen Abschluss findet. Pauls ist ein kühner Erzähler, der viel riskiert, um das Ganze zu fassen. Seine Trilogie schließt an die Krise des Peronismus an, die Héctor Germán Oesterheld in seinem allegorischen Sci-Fi-Comic-Klassiker Eternauta bildgewaltig verarbeitet hat. Wie schon in den beiden ersten Teilen lässt er den gesellschaftlichen Makrokosmos der 1970er und 1980er Jahre aus dem kleinen Kosmos seines sich erinnernden Erzählers emporsteigen. Als sich dessen Eltern scheiden lassen und das persönliche Drama seinen Lauf nimmt, beginnt in Argentinien der wirtschaftliche und moralische Niedergang. Pauls beschreibt den Verfall aus dem Blickwinkel der kleinen Leute. Er konkretisiert ihre Ängste und Niederlagen, in Rückblenden aber auch ihren Anteil am Gruselpanorama der großen politischen Verwerfungen. Individuum und Gesellschaft bilden die beiden Seiten der Münzen, die hier als erzählerisches Leitmotiv in Nebensätzen und Exkursen durch diese packende Gesellschaftsgeschichte mäandern.

„Wir sind alle Chávez“, heißt es in Alberto Barrera Tyszkas Die letzten Tage des Comandante. „Alle“ meint den verdienten Arzt im Ruhestand, den arbeitslosen Journalisten, den abgehängten Beamten genauso wie die an die Straße verlorene Jugend. Tyszka rekonstruiert mit ihnen die kaputte venezolanische Gesellschaft. In den vielen Gesichtern der Gewalt spiegelt sich die kollektive Paranoia des Chavismus. Das Ganze verknüpft der Venezolaner zu einem fesselnden Thriller, in dem die Heiligenverehrung durch die Armen, die Existenzangst des Mittelstands und die Verbitterung der Reichen ein ambivalentes Porträt der Galionsfigur des lateinamerikanischen Sozialismus zeichnen.

Mit Hernán Ronsinos wunderbarem Erinnerungsroman Lumbre (Freitag 29/2016) und mit der unbehaglichen Gesellschaftskritik Die Gehörlosen des Guatemalteken Rodrigo Rey Rosa haben es zwei Titel lateinamerikanischer Autoren auf die diesjährige Hotlist der besten Bücher aus unabhängigen Verlagen geschafft. Rey Rosas Magnum Opus spielt im Titel auf die hörgeschädigten Kinder der an den Rand gedrängten indigenen Bevölkerung Guatemalas an. Weit weg von diesen Kindern sorgt sich der windige Geschäftsmann Don Claudio um seine Tochter Clara und heuert den jungen Indigenen Cayetano als Leibwächter an. Diesen hat die junge Schönheit aber schnell um den Finger gewickelt. Als sie mit einem jungen Anwalt verschwindet, begibt sich Cayetano auf die Suche nach dem Paar und stößt auf ein dunkles Geheimnis. Rey Rosas Stil ist nüchtern, beschränkt sich auf das Notwendige. Jede Auslassung wird zu einem potenziellen Hort von Unheil, jede Figur erhält in ihrer bewusst lückenhaften Zeichnung eine geradezu dämonische Leerstelle. Die extreme Differenz zwischen Arm und Reich, das Ausmaß der politischen Korruption und die strukturelle Vergewaltigung der indigenen Völker ziehen sich wie Lianen durch diese dichte Erzählung.

Der Zivilisationsbruch ist nah

Die Literatur des in Guatemala geborenen, in den USA lebenden Eduardo Halfon ist autobiografisch motiviert und damit sehr zeitgenössisch-westlich. In seinem Debüt Der polnische Boxer erzählte sein Alter Ego die Überlebensgeschichte seines Großvaters (Freitag 33/2014). Die burleske Reise durch Raum und Zeit, bei der europäische und lateinamerikanische Geschichte zusammenläuft, findet in den Erzählungen von Signor Hoffman ihre Fortsetzung. In Italien, Israel und Polen versucht er herauszufinden, was es heißt, Enkel eines polnischen Juden und Auschwitz-Überlebenden zu sein. Halfons glasklare Prosa ermöglicht den Blick in den düsteren Abgrund der europäischen Katastrophe, der der Großvater entkommen ist. Der Zivilisationsbruch der Shoah ist, wie etwa bei Nathan Englander, immer nur einen Gedankensprung entfernt; dank latenter Ironie sind diese Texte komisch und ernsthaft zugleich. Wann genau dabei die Fiktion die Realität über den Tisch zieht und wann umgekehrt, bleibt im Dunkeln.

Das ist in den amüsanten, aber ernst gemeinten Gesellschaftssatiren Ich verkauf dir einen Hund von Juan Pablo Villalobos und Das dritte Leben von Juan Villoro nicht der Fall. Die historisch und gesellschaftlich brisanten Themen – Politik, gesellschaftliche Spaltung und Gewalt – werden von den beiden mexikanischen Autoren mit Leichtigkeit und Ironie verhandelt. Geht es in Villalobos Roman um den perfiden Terror, den ein Literaturclub auf den in der Vergangenheit schwelgenden Ich-Erzähler ausübt, handelt Villoros Husarenstück davon, wie ein gefälschtes Paradies durch den Einbruch der Realität zu einer echten Hölle verkommt. Die zwei Romane spielen mit den unterschiedlichen Abgründen der mexikanischen Gesellschaft – hier die Tristesse von Alter und Armut, dort der Kitzel von Abenteuertourismus und Drogenmafia –, wobei die liebevoll gezeichneten Erzähler mit eingeschobenen Erinnerungen falsche Fährten in die sarkastisch erzählte Wirklichkeit legen. Villalobos ulkige Hundemetzgerfarce ist zudem eine Liebeserklärung an die Literatur, ähnlich wie Villoros Jugendroman Das wilde Buch oder die Novelle Das Papierhaus des Argentiniers Carlos María Domínguez.

César Airas Novellen Der Beweis oder Wie ich Nonne wurdeFreitag 15/2015 – führten auf unerhörte (gedankliche) Abwege. Im neu übersetzten Kurzroman Eine Episode im Leben des Reisemalers erzählt Aira auf knapp 130 Seiten von einer Südamerikareise, die der Augsburger Maler Moritz Rugendas 1837 unternommen hat. Aira löst die verbriefte Wirklichkeit dieser Unternehmung stilsicher zwischen der unwirklichen Opulenz seiner Landschaftsbeschreibungen und den Wahnvorstellungen des vom Blitz getroffenen deutschen Malers auf. Diese fantastische kleine Abenteuernovelle kann es mit Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt locker aufnehmen. Ohnehin muss sich die lateinamerikanische Gegenwartsliteratur nicht vor der hiesigen verstecken. Sie hätte viel mehr Aufmerksamkeit verdient.

Info

Eine Episode im Leben des Reisemalers César Aira
Christian Hansen (Übers.), Matthes & Seitz 2016, 127 S., 16 €

Duchamp in Mexiko César Aira
Klaus Laabs (Übers.), Matthes & Seitz 2016, 136 S., 16 €

Geschichte des Geldes Alan Pauls
Christian Hansen (Übers.), Klett-Cotta 2016, 271 S., 19,95 €

Die letzten Tage des Comandante Alberto Barrera Tyszka
Matthias Strobel (Übers.), Nagel & Kimche 2016, 256 S., 22 €

Die Gehörlosen Rodrigo Rey Rosa
Anna Gentz (Übers.), Septime 2016, 288 S., 22,90 €

Signor Hoffman Eduardo Halfon
Luis Ruby (Übers.), Hanser 2016, 192 S., 20 €

Ich verkauf dir einen Hund Juan Pablo Villalobos
Carsten Regling (Übers.), Berenberg 2016, 224 S., 24 €

Das dritte Leben Juan Villoro
Susanne Lange (Übers.), Hanser 2016, 288 S., 19,90 €

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