Coming-of-Age Barbara Kingsolver hebt Charles Dickens’ „David Copperfield“ in die kapitalistische Gegenwart. Ihr Roman „Demon Copperhead“ gewann den Pulitzerpreis und erscheint nun auf Deutsch
Das Leben im Mittleren Westen der USA ist schon seit Jahrzehnten kein Zuckerschlecken
Foto: Jerome Sessini/Magnum Photos/Agentur Focus
Für mich ist Armut nicht einfach nur ein Mangel an etwas“, schreibt der Amerikaner William T. Vollmann in seinen Reportagen. „Armut ist ein Elend. Sie muss also eher eine Erfahrung sein als ein ökonomisch bezifferbarer Zustand. Sie bleibt daher auf gewisse Weise unmessbar.“
Barbara Kingsolver teilt Vollmanns Beobachtung zweifelsohne. Ihre Aktualisierung von Charles Dickens’ Bildungs- und Entwicklungsroman David Copperfield ist der konsequente Versuch, dieser Unmöglichkeit mit der Kraft der Literatur beizukommen. In bestürzenden Bildern veranschaulicht sie die Armuts- und Elendserfahrung ihres tragischen Helden, der im Laufe seiner Kindheit und Jugend all das durchmacht, was mit dem Leben als Abgehängter einhergeht: Vernachlässigung und H
Vernachlässigung und Hunger, Gewalt und Missbrauch, Schmerz und Sucht, Unsichtbarkeit und Gleichgültigkeit bilden die Pflastersteine, auf denen er durchs Leben geht.Auf seine labile Mutter ist wenig Verlass, auf ihren gewalttätigen Freund Stoner noch weniger. Seinen Vater hat der Zehnjährige nie kennengelernt. Im Trailer nebenan lebt sein bester Freund. „Wir haben hier Stoff genug, um mehr als bloß ein einziges junges Leben an die Wand zu fahren“, macht Demon Fields alias Demon Copperhead gleich zu Beginn seiner rückblickenden Erzählung deutlich.Der Junge wächst in den 1990er-Jahren in Lee County auf, einem Landstrich, der zu den ärmsten in ganz Amerika zählt. Seine Leute sind das weiße Gesindel, die Rednecks und Hillbillys. Vor den Behausungen in seiner Nachbarschaft stapeln sich die Reste einer kaputten Gesellschaft. „Eine verrottende alte Matratze, schubladenlose Kommoden, Propangaspatronen, ein Sägebock, ein auf der Seite liegender Kühlschrank, darauf vier miteinander verbundene Plastikstühle. Krücken. Künstliche Palme. Bobby Car.“Das Leben im Mittleren Westen der USA ist schon seit Jahrzehnten kein Zuckerschlecken, der Niedergang der alten Industrien hat die Menschen in eine Trostlosigkeit gestürzt, die wenig Hoffnung lässt. Die äußeren Elendslandschaften sind dabei längst in die Menschen gekrochen und haben dort Verheerendes angerichtet. Demons Mutter ist keine Ausnahme, wenn sie ihre innere Einsamkeit mit Alkohol und Drogen zu betäuben versucht. Als das Jugendamt dahinterkommt, nehmen sie ihr den Jungen weg.Demon wird in die Obhut eines Bauern gegeben, der der staatlichen Fürsorge die besonders schweren Fälle abnimmt. Antrieb ist dabei nicht etwa ein großes Herz, sondern Niedertracht. Auf seiner heruntergewirtschafteten Tabakfarm lässt Mr. Creaky rund um die Uhr Kinder für sich arbeiten. Bei seinen „Pharmpartys“ lässt er sie für ein paar Stunden das Elend um sie herum dank Alkohol und Pillen vergessen.Die Creaky-Farm ist nur eine von vielen Höllenstationen, die Kingsolvers Held auf seiner Reise durch den Bodensatz der amerikanischen Gesellschaft hinter sich bringt. Er wird noch einmal zu seiner Mutter zurückkehren, die sich kurz darauf mit einer Überdosis das Licht auspustet, und von dort in eine Familie mit vier Kindern gegeben, die „am Rand des Machbaren“ lebt. Die McCobbs nehmen Demon auf, um an die Kohle vom Jugendamt zu kommen. Der Elfjährige sieht davon nichts, vegetiert ein Jahr im Hunderaum des Hauses auf einer Luftmatratze vor sich hin. Seinen Hunger stillt er in der Schule mit den „Leck-mich-am-Arsch-Erdnussbuttersandwiches“ für Sozialfälle.Es ist beeindruckend, wie Barbara Kingsolver im ersten Teil ihres fast 900 Seiten zählenden Pageturners die Armut und Vernachlässigung von (Waisen-)Kindern, die Dickens in seinem Klassiker ausführlich beschreibt, in die Gegenwart holt. Sie deckt schonungslos auf, wie die innere Verwahrlosung die am Existenzminimum lebenden Menschen dazu bringt, die überlasteten staatlichen Institutionen für ihre Zwecke zu missbrauchen. „Es gibt in Lee County viel mehr Waisenkinder als Leute, die sie haben wollen“, gesteht Demons Jugendhelferin an einer Stelle, um zu erklären, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass er an solche Leute gerät. Man kann das als schallende Ohrfeige für eine Gesellschaft lesen, in der sich jeder nur um sich selbst kümmert.Hier erinnert Demons Schicksal an das Martyrium von Jude St. Francis, der tragischen Hauptfigur in Hanya Yanagiharas schmerzvollem Bestseller Ein wenig Leben. Die Erfahrungen, auf die Demon Fields als erwachsener Ich-Erzähler zurückblickt, erschüttern in all ihren widerlichen Details. Der Dreck, der ihn umgibt, die Verkommenheit der Menschen und die vermeintliche Ausweglosigkeit seines Schicksals rufen eine enorme Empörung hervor. Umso dankbarer ist man für den krachenden Sarkasmus, mit dem der Ich-Erzähler auf das Erlebte zurückblickt. Sein unwiderstehlicher Ton gibt dem von Dirk van Gunsteren schwungvoll übersetzten Roman eine befreiende Leichtigkeit, ohne dabei das Skandalöse und Unausweichliche der Verhältnisse infrage zu stellen. „Loser zu sein ist wie ein Sturz von einer Klippe: Es gibt kein Zurück.“Abstellgleis des AufstiegsWer Dickens’ Vorlage zu Kingsolvers Roman kennt, wird nicht nur zahlreiche Figuren wiedererkennen, sondern weiß um den positiven Ausgang der Geschichte, zu der einige zentrale Charaktere beitragen. Die liebevolle Zuwendung von Dickens’ Peggottys wird hier von den Peggots übernommen, einem über die Appalachen verteilten Clan, dessen Mitglieder ihr Herz auf der Zunge und meist am rechten Fleck tragen. Mit dieser eigenwilligen Familie verneigt sich Kingsolver vor dem Gemeinschaftssinn der Menschen, in deren Mitte sie seit Jahren lebt. Die vertrauensbildende Funktion, die Agnes Wickfield in Dickens’ Roman einnimmt, spiegelt sich in dem vertrauensvollen Verhältnis, das Demon zu Angus entwickelt, der aufgeweckten Tochter von Coach Winfried, der den Jungen als Teenager bei sich aufnimmt.Vor allem findet Kingsolvers Held in Angus eine Vertraute gegen das strenge Regime des Football-Trainers. Der sieht in Demon keinen Schutzbedürftigen, sondern vielversprechendes Spielermaterial für sein Team. So stellt er dem robusten Jungen, als er ihn bei sich aufnimmt, in Aussicht, bleiben zu dürfen, wenn er es ins erste Team schafft. Für Demon bietet sich hier erstmals die Chance, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und er packt sie beim Schopf ...Kingsolver hätte mit Demon Copperhead weder den Pulitzerpreis noch den Women’s Prize for Fiction gewonnen, wenn sie den Roman hier schon auf das Gleis des Aufstiegs gesetzt hätte. Demons Intermezzo als Football-Talent ist nur der Auftakt eines Dramas, in dem sich der Niedergang des Mittleren Westens in anderer Form in seinen Körper schreibt. Als er sich bei einem Spiel schwer verletzt, taucht er in die Welt des Schmerzes und seiner Betäubung ein. Weil er sich in dem kaputten Gesundheitssystem der USA ganz hinten anstellen muss, bekommt er zeitnah keinen OP-Termin. Er greift deshalb zu den „nach Erlösung“ schmeckenden Painkillern, in deren leeren Versprechen er versinkt. Demon wirft sich der „heiligen Dreifaltigkeit Oxy, Soma, Xanax“ an die Brust.Mit der Abhängigkeitserzählung im zweiten Teil hat Kingsolver eine packende Erzählung über den Ausbruch der Opioid-Epidemie verfasst. Dabei deckt sie strukturelle Ursachen auf und zeigt, wie Pharmaindustrie und skrupellose Ärzte eine ganze Gesellschaft in die Abhängigkeit führten. Der Roman verfolgt bei aller Fiktionalisierung unverkennbar einen politischen Anspruch: In unzähligen Nebenhandlungen greift er den Niedergang, das Versagen der staatlichen Institutionen und die Wut der weißen Unterschicht auf.Die helfenden Hände, die sich Demon bieten, schlägt er immer wieder aus. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Als er sich in dem Elend wiederfindet, aus dem er kam, greift er doch noch nach dem rettenden Seil. Hier setzt die Coda des Romans ein, mit der Kingsolver Dickens’ viktorianische Geschichte von einem Niemand, der zu einem Jemand wird, in die kapitalistische Gegenwart hebt.„Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet, und dazwischen trotzdem so viel verliert“, erkennt Demon mit Blick auf den Tod eines Freundes. Dieser wahrhaftige und bedrückende Roman handelt von den Verlusten, die man im Leben erleiden kann. Demon Copperhead gibt den abgeschriebenen Habenichtsen Amerikas Würde und Menschlichkeit zurück, indem er über den Schmerz spricht, den sie täglich empfinden.Placeholder infobox-1
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