Ich halte die Waffe senkrecht hoch und sehe mit offenem Mund der Kugel hinterher, sehe sie steigen, sehe sie immer kleiner und kleiner und fast unsichtbar werden im tiefdunklen blauen Himmel, bevor sie sich aus dem Verschwundensein wieder materialisiert und zu fallen beginnt, millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe.“ Mit dieser physikalischen Unmöglichkeit endet Wolfgang Herrndorfs unvollendeter Roman Bilder deiner großen Liebe. Aber wer braucht schon physikalischen Realismus, wenn er den literarischen eines nahezu perfekten Autors haben kann? In gerade einmal zehn Jahren sind sechs Bücher aus Herrndorfs Schreibkammer erschienen, die ein gleichermaßen durchlässiges wie durchlesbares Gesamtwerk bilden, das ihn zu einem Solitär seiner Generation
Herrndorf-Biografie: Lass niemals einen Germanisten ran
Schriftsteller Jeder kennt seinen Welterfolg, seinen anarchischen Roman "Tschick". Vor zehn Jahren nahm sich Wolfgang Herrndorf das Leben. Eine Biografie wollte er keinesfalls. Nun erscheint doch eine

„Der größte deutschsprachige Schriftsteller seiner Generation“: Wolfgang Herrndorf (1965–2013)
Foto: Isolde Ohlbaum/laif
Generation macht.So war schon in seinem flirrend-chaotischen Debüt In Plüschgewittern die Road Novel angelegt, die er Jahre später mit seinem zeitlosen Klassiker Tschick schrieb. Diesem Aufbruchsroman wollte er mit Bilder deiner großen Liebe einen Ausbruchsroman gegenüberstellen, in dem die Geschichte des Müllmädchens erzählt wird, in das sich Maik Klingenberg unsterblich verliebt. Es blieb beim Fragment, das Herrndorf vertrauensvoll in die Hände von Kathrin Passig und seinem Rowohlt-Lektor Marcus Gärtner legte. Durchlässig sind auch seine das Berliner Lebensgefühl der frühen 2000er aufgreifenden Kurzgeschichten in Diesseits des Van-Allen-Gürtels. In denen betrieb er bereits das Versteckspiel mit Figuren und Motiven, das er in seinem genial verschachtelten Wüsten-Noir Sand perfektionierte. Diese fünf Bücher werden zusammengehalten vom Blog der „Höflichen Paparazzi“ und von dem Tagebuch Arbeit und Struktur, das er nach der Diagnose eines bösartigen Hirntumors im Jahr 2010 dort auskoppelte. In ihm finden sich Gedanken, Motive und Entwürfe, die zeigen, wie unmittelbar (Über-)Leben und Arbeit in Herrndorfs letzten Jahren verbunden waren. Vor zehn Jahren, am 26. August 2013, nahm sich Wolfgang Herrndorf am Berliner Hohenzollernkanal das Leben.Wolfgang Herrndorf arbeitete ununterbrochenZehn Jahre nach seinem Tod ist nun die erste Herrndorf-Biografie erschienen, verfasst von FAZ-Literaturchef Tobias Rüther. Bedenkt man Herrndorfs letzten Willen, mag ihre bloße Existenz überraschen. „Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten. Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben“, hielt der schwerkranke Schriftsteller testamentarisch fest. Diese an Franz Kafka erinnernde Willensbekundung hat es dem Autor nicht gerade leicht gemacht. Herrndorfs erste Leserin und langjährige Vertraute Kathrin Passig unterstützte Rüthers Projekt beispielsweise nicht, „weil Herrndorfs Meinung so eindeutig war und ich sie gut nachvollziehen kann“, wie sie auf Nachfrage erklärte.So basiert Rüthers Biografie auf Herrndorfs Bildern und Texten sowie Gesprächen, die er mit Herrndorfs Witwe, den Eltern, seinem Lektor, seinem Arzt und zahlreichen anderen Freunden und Weggefährten führen konnte. Sie beginnt mit einem Erweckungsmoment à la Steven Spielberg. Da beobachtet der zweijährige Wolfgang von seinem Gitterbett aus, wie „durch ein pfenniggroßes Loch in der Jalousie bereits der frühe Morgen hineinflutet“. Hier entdeckt Herrndorf den Himmel von Garstedt, der in zahlreichen Gemälden, Illustrationen und Texten wieder auftaucht.„Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet“, bekannte Herrndorf in seinem Blog Arbeit und Struktur. Dieser sentimentale Blick zurück prägt nicht nur Herrndorfs Schreiben – seinen Bestseller Tschick bezeichnete er einmal als „Projekt Regression: wie ich gern gelebt hätte“ –, sondern auch sein Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Von der Moderne hält er nichts, die alten Meister sind sein Maßstab. Allen voran der Niederländer Jan Vermeer, an dessen Werk er sich in seinen Arbeiten für die Titanic mehrfach anlehnen wird. Rüthers Erkundungen von Herrndorfs Lehrjahren, in denen dieser als Porträtmaler, Karikaturist und „Buchumschlagdekorateur“ aktiv war, greifen den unterbeleuchteten Teil dieses Lebens auf, entschlüsseln das immer wiederkehrende Motiv des Himmels und legen den Ursprung der „scheuen sozialen Grundausstattung Herrndorfs“ frei.Für seinen Schritt von der Kunst zur Literatur waren vor allem sein Umzug nach Berlin Ende der 1990er und seine Aktivitäten bei den legendären „Höflichen Paparazzi“, der Zentralen Intelligenz Agentur (ZIA) sowie in der Autoren-Nationalmannschaft entscheidend. „Das ist alles ein einziger Sumpf hier, in den man nur einmal hineingeraten muss“, hielt er im „Pappen“-Forum fest. Die ZIA wiederum spielte eine gewichtige Rolle bei seinem Auftritt in Klagenfurt anno 2004, den Rüther mit allen Nebengeräuschen unterhaltsam ausrollt.Rüther rückt in seiner Biografie, die sich an den Werk- und Lebensphasen Herrndorfs orientiert, den langen Anlauf ins Bewusstsein, den der Autor Wolfgang Herrndorf genommen hat. Für den Schriftsteller gilt, was schon für den Maler galt: „... er arbeitet ununterbrochen, aber jahrelang an der Armutsgrenze. Und Wahrnehmungsgrenze“, schreibt Rüther.„Ich schreibe sehr schnell was runter, aber hinterher, dieses Drehen an den Stellschrauben, wenn man Figuren und Handlung feinjustiert, das ist ein großer Spaß“, beschrieb Herrndorf seine Arbeitsweise einmal in einem Interview. Seine Freunde wissen, welche Blüten dieser „Spaß“ treiben kann. Kathrin Passig erinnert sich in ihrem Porträt des Künstlers als erfolgloser Autor daran, dass sie jahrelang gespottet hätten, „Herrndorfs Arbeitstag bestehe darin, das Komma auf Seite 203 herauszunehmen und nach reiflicher Überlegung doch wieder einzubauen“.Seine enorme Produktivität nach der Diagnose – innerhalb von zwei Jahren vollendet er die preisgekrönten Romane Tschick und Sand – führen Rüthers Gesprächspartner vor allem darauf zurück, dass er entschlossener Entscheidungen traf. Die Arbeit sei „der Abwehrzauber gegen die Todesangst“ gewesen, sagte Herrndorfs Witwe Carola Wimmer dem Biografen.Die Berliner Zeit ist vielfach verarbeitet, auch weil sie in den online nach wie vor zugänglichen Blogs nachvollzogen werden kann. Hier untersetzt Rüther das Blogwissen mit alltäglichen Anekdoten und führt das nervenaufreibende Neben- und Ineinander von Hoffen und Schreiben bei Herrndorf vor Augen. Das ist schon aufgrund der existenziellen Zuspitzung niemals langweilig.Briefeschreiber, DigitalpionierRüther erschließt mit Rückgriff auf Entwürfe und Manuskripte Herrndorfs in sich geschlossenes und zugleich in alle Richtungen hin durchlässiges Werk so umfassend und detailliert wie nie zuvor. Allerdings wünscht man sich zuweilen mehr Abstand. Die Verehrung, die aus dem Text dringt, wird einer kritischen Betrachtung nicht immer gerecht. Das führt zu Stilblüten wie „Wolfgang Herrndorf daddelt nicht herum. Er wird niemals bei irgendwas herumdaddeln …“ oder zu der wackeligen Behauptung, dass „es keine Zufälle im erzählerischen Werk von Wolfgang Herrndorf gibt, und falls doch, dann nur inszenierte“. Die Erklärung für derlei Mutmaßungen liefert der Herrndorf-Fan gleich mit: „Er kann das, was aus der Lektüre und dem Leben in seine Stoffe einfließt, so präzise zu Text formen, dass man die Übergänge nicht mehr sieht.“ Ein Biograf müsste diese Übergänge sichtbar machen. Dem kommt Rüther nicht durchgehend nach. So greift er vermeintliche Ernst-Jünger-Bezüge in Herrndorfs Debüt In Plüschgewittern auf, von deren Existenz nicht einmal Herrndorf gewusst haben wollte. Zumindest legt dies eine Anekdote nahe, die Kathrin Passig in ihrem bereits erwähnten Porträt festhielt. Herrndorf erzählt ihr da verwundert, dass eine Rowohlt-Lektorin Jünger-Referenzen in dem Roman entdeckt habe. „Sind die denn drin, die geheimen Bezüge?“, habe Passig ihn gefragt. Herrndorf: „Ich habe sie auch nie bemerkt. Aber angeblich würde der Erzähler dauernd im Straßengraben liegen, wie im Stellungskrieg.“Nichtsdestotrotz ist Rüther eine solide und lebendige Biografie gelungen, die den „größten deutschsprachigen Schriftsteller seiner Generation“ als träumenden Jungen und malenden Bilderstürmer, als gewitzten Schelm und höflichen Paparazzo, als Briefeschreiber und Digitalpionier präsentiert. Herrndorf war perfektionistischer Wortakrobat und großer Erzähler, ironischer Pragmatiker und emphatischer Menschenfreund. Er spielte und fremdelte mit dem Literaturbetrieb und konnte die Lakonie des Daseins wie kein anderer auf den Punkt bringen.„Der Mensch lebt in seiner Vorstellung, und nur dort“, schrieb er wenige Wochen vor seinem Freitod. Die Gesetze der Physik spielen in dieser Vorstellung keine herausragende Rolle.