Am 4. November 1989 fand die bis dahin größte frei organisierte Demonstration in der DDR statt, auf dem Berliner Alexanderplatz. Die Teilnehmerzahlen sind umstritten, die Mitte liegt bei 500.000. Was man nicht so weiß: Vorbereitet wurde die Demo von Berliner Theaterkünstlern; die Schauspielerin Jutta Wachowiak vom Deutschen Theater hatte drei Wochen zuvor eine solche Demonstration bei einer Versammlung von immerhin 800 Kollegen vorgeschlagen. Damit reagierten die Künstler auch auf die Prügel- und Verhaftungsexzesse vom 7. Oktober in Berlin, Dresden und anderen Städten, wo Polizei und Stasi zum 40. Jahrestag der DDR Demonstranten und sogar Unbeteiligte von den Straßen knüppelten. Am nachfolgenden 9. Oktober sollte sich dann bei der nächsten Montagsdemonstration in Leipzig alles entscheiden: ob es in der Auseinandersetzung des Staates mit den Protestierern friedlich bleiben oder zur damals in Anlehnung an die Ereignisse vom Platz des Himmlischen Friedens sogenannten chinesischen Lösung kommen würde.
In Leipzig spielte neben den Kirchenoberen auch ein Künstler eine herausragende Rolle dabei, das Schlimmste zu verhindern: der Gewandhauskapellmeister Kurt Masur. Der hatte die Parteiführung zur Besonnenheit ermahnt und sich über den Stadtfunk an die Demonstranten gewandt, ihrerseits keine Gewalt auszuüben. Es stand auf Messers Schneide, und der weltberühmte Dirigent hatte seine ganze Autorität eingesetzt.
Heute wird der Beitrag von Masur und der anderen Künstler zur friedlichen Revolution 1989 kaum noch erinnert. Wie die Rolle der Bürgerrechtler in der Erinnerungskultur nur noch am Rande vorkommt, erscheint nun auch die Bedeutung der Künstler im gesamten Vorfeld des Mauerfalls als marginal. Dabei hatten gerade die Theaterleute keinen geringen Anteil am Aufbruch. Sie nutzten ihre Theater nach der Vorstellung wie in Dresden ab September für manifestartige Aufrufe mit Titeln wie „Wir treten aus unseren Rollen“ und schufen Räume für offene Publikumsdiskussionen zu den drängenden Problemen des taumelnden Landes. Im Grunde nahmen sie das, was im Kern ihrer künstlerischen Arbeit auf der Bühne steckt – die Verhandlung von Öffentlichkeit –, und erweiterten es bis auf die Straße hinaus.
Der Höhepunkt dieses Wirkens wurde mit der Demonstration vom 4. November geschaffen, bei dem, wenn man so will, das Theater sich in völliger Übereinstimmung mit seinem Publikum befand. Nur wenige Tage später war dieser Moment schon wieder vorbei. Mit dem Mauerfall wurden aus diesen Akteuren der friedlichen Revolution gewissermaßen wieder ganz normale Theatermenschen, die plötzlich um das ihnen eben noch dankbar zujubelnde Publikum kämpfen mussten, dann wie ihr Publikum um Orientierung rangen und oft auch um die Existenz bangten. Denn der Erhalt der insgesamt 68 Theater mit rund 200 Spielstätten, ihre Neusortierung und Finanzierung zwischen Ländern und Kommunen, all das war im schnellen Vollzug der Einheit zunächst kaum einzuschätzen.
Auch die gesellschaftliche Rolle der Theater befand sich im Umbruch. Sie wurden aus dem offiziellen Auftrag entlassen, zur „Stärkung der sozialistischen Gesellschaft“ beizutragen. Was die Theaterkunst nun für wen genau was bewirken soll, war eine komplizierte Frage. Die Theater sahen sich bald auch einer Kritik gegenüber, in der ihre Rolle im Herbst ’89 kein symbolisches Kapital mehr darstellte.
Als Ende September 1990 an der Volksbühne Frank Castorfs Räuber Premiere hatten – retrospektiv ein Vorgriff auf Castorfs Volksbühne und zugleich ein merkwürdiger Beitrag zur bevorstehenden Wiedervereinigung –, verriss die FAZ die Inszenierung nach Strich und Faden unter der Überschrift „Das Geheul in der Nische“. Der Artikel von Gerhard Stadelmeier kann als Wende im Umgang mit den ostdeutschen Theatern im westdeutschen Großfeuilleton gelesen werden, und er enthält bereits die Signatur der deutsch-deutschen Entfremdungen in der Kultur der neunziger Jahre.
Castorfs Kleeblatt
Im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Feldern ging die Transformation beim Theater weniger grausam vonstatten. Anders als bei der Abwicklung ganzer Industrien durch die Treuhand, der Übernahme der Universitäten und Hochschulen durch Seilschaften einer Art von westdeutscher Treuhand des Geistes sowie der Zerschlagung oder Verdrängung von Verlagen als lästiger Konkurrenz gab es für die Theater zunächst eine Bestandsgarantie. Es gab auch eine kulturpolitische Strategie, die sich als Kommunalisierung der Kultur fassen lässt. Der kontrollfixierte, aber ökonomisch komfortable Dirigismus der DDR wurde in eine lokale und regionale Verantwortlichkeit der Finanzierung überführt, ohne ganze Theater über die Klinge springen zu lassen.
Bei der Berufung neuer Intendanten zu Beginn des Nachwendejahrzehnts zeigt sich ein Muster: Am Deutschen Theater in Berlin kommt Thomas Langhoff auf den Intendantenstuhl, in Dresden Dieter Görne, der angesehene Chefdramaturg des Hauses, in Cottbus der Regisseur und Theaterdirektor Christoph Schroth. Dort, wo erfahrene Kräfte engagiert wurden, konsolidierte sich das Theater relativ rasch und fand sein Publikum zurück. Da, wo Intendanten zu schnell und ohne Rücksicht auf die oft sensiblen und noch kaum überschaubaren Verhältnisse berufen wurden, blieben ostdeutsche Theater jedoch brüchig, waren von großer Fluktuation gekennzeichnet und litten unter fehlender künstlerischer Ausstrahlung.
Mit manchmal zeitlich langen Folgen. In Rostock, wo mit Hanns Anselm Perten einer der DDR-Theaterfürsten über Jahrzehnte mit harter Hand herrschte, hat man sich von der Fehlberufung der Wendezeit nie mehr so recht erholt und mehrere zur Korrektur eingesetzte Intendanten verschlissen, bis hin zur skandalösen Behandlung Sewan Latchinians, der gleich zweimal fristlos entlassen wurde. In Leipzig, wo das Ende von Karl Kaysers 30-jähriger Regentschaft 1989 erzwungen wurde, folgten Jahre mit unproduktiven Zwischenlösungen. Manche exotische Fehlgriffe werden indes auch als kurios erinnert. So landete ein danach mit viel Spott erinnerter Hochstapler aus New York in Neustrelitz, wo er zunächst als eine Art Lichtgestalt für „New Strelitz“ empfangen wurde.
In den Ensembles mischten sich allmählich West und Ost. Es sind vor allem junge Schauspieler aus dem Westen, die in kleineren Städten wie Schwedt, Parchim oder Zittau das Abenteuer wagen, das ein begeisterter Kritiker mit den Willy-Brandt-Worten feierte: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen spielt.“ Die Jüngeren sind noch nicht von dem Klischee geprägt, das in den Köpfen der älteren Schauspieler und Regisseure spukt, der Ost-Schauspieler sei eine auf den Text versessene Kopf-Maschine, während der West-Schauspieler aus dem Bauch seiner Beziehungszerwürfnisse und Indientrips spielt.
Dass der Vereinigungsprozess hier vergleichsweise gut gelang, lag aber vor allem daran, dass man auf der Bühne zur Berufsausübung tatsächlich zusammenarbeiten muss. 1992 ist der Beginn von Castorfs Volksbühne, die bald als vierblättriges Kleeblatt der deutsch-deutsch-schweiz-österreichischen Zusammenarbeit gefeiert wird – und zugleich als Sonderfall ostdeutschen Theaters. Als Castorf 25 Jahre später geht, steht in der Empörung über den Abgang des Intendanten auch dessen Herkunft aus dem DDR-Subversionstheater im Raum, als müsste zur Vollendung der Einheit der letzte ostdeutsche Partisan durch einen weltläufigen Belgier ersetzt werden.
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Dieser Beitrag ist Teil unserer Wende-Serie 1989 – Jetzt!
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