Led Zeppelini

Litauen Kaunas ist Europas Kulturhauptstadt 2022 – und lockt als Pilgerort für Architekturfans ebenso wie mit lebendigem Theater
Ausgabe 40/2021

Kaunas, rund anderthalb Fahrstunden von Vilnius entfernt, ist gleichsam die ewig junge Schwester der alten Hauptstadt Litauens. Es gibt sicher schwerere Stadtschicksale, aber im kleinen Litauen muss Kaunas sich immer wieder neben dem in der ganzen Welt bekannten großen Bruder behaupten. Gerade jetzt, wo man für die Kulturhauptstadt Europas plant, programmiert und baut. Vilnius trug den Titel schon 2009, nun wird für Kaunas 2022 die Ehre zur Pflicht, zusammen mit dem Ehrgeiz, alles ein bisschen anders machen zu wollen.

Nachhaltiger zum Beispiel, was in diesem Fall bedeutet, dass man für die Kulturhauptstadt ein Konzept der zeitlich und regional weit gestreckten Vorprogramme entwickelt hat. Mit kleineren Festivals und Programmreihen, die dann ins Hauptprogramm nächstes Jahr eingehen werden. Auch Orte aus der Kaunas umgebenden Rajongemeinde werden dabei einbezogen. Manchmal mit solch skurrilen Ideen wie der Behauptung eines kleinen Dorfes, die besten „Zeppelini“ des Landes zuzubereiten, diese als Nationalgericht geltenden, mit Pilzen oder Fleisch gefüllten Kartoffelklöße – um über diesen geschmackvollen Umweg dann zu Led Zeppelin und einem eigenen Rockfestival zu kommen. Auf diese Weise wird der ländliche Raum mit seinen Kulturhäusern aus der Sowjetzeit mit einbezogen, ein charmanter Spaß vor allem für alle Litauer, sagt Dovile Butnoriute vom Vorbereitungsbüro an der Laisves-Allee, der zentralen Flaniermeile von Kaunas.

Für Altstadtflaneure

1920 wurde die Stadt am Zusammenfluss von Memel und Neris zur Hauptstadt des unabhängigen Litauen, Vilnius war nach dem Ersten Weltkrieg an Polen gegangen. In Windeseile mussten zahlreiche Bauten für Verwaltung und Repräsentation errichtet werden, auch entstanden Wohnviertel mit modernen Villen und moderat flachen Mehrgeschossern. Alles im Stil einer eigenen Architekturmoderne als Parallele zur Art déco in Westeuropa und Amerika. Charakteristisch sind runde Ecken an Gebäuden und Balkonen, als ob das Bauhaus etwas geschmeidiger aussehen sollte. In den vergangenen zwanzig Jahren wurde Kaunas damit zum wahren Pilgerort für Architekturfans.

Aber auch Altstadtflaneure kommen in den engen Gassen vor dem Memel-Zusammenfluss auf ihre Kosten. Im Moment sind diese jedoch alle aufgebaggert und man balanciert an Absperrungen vorbei zum alten Rathaus. Die Baustellen sind der Schlusseile geschuldet, ab Januar eine vollkommen aufgeräumte Stadt präsentieren zu wollen, die alles „kaunastisch“ macht, wie das dafür erfundene Werbeadjektiv lautet.

Mit dem Theaterfestival ConTempo stellt Kaunas 2022 die einheimische Szene vor. Dort gehört Regisseur Arturas Areima zu den jungen Wilden, die mit großer Ernsthaftigkeit an der Erkundung von Litauens Problemen der Gegenwart arbeiten. Areima leitet eine eigene Theatertruppe seines Namens, die diesen Sommer beim Festival von Avignon ihre Version von Heiner Müllers Hamletmaschine mit großer Beachtung vorstellte.

In Kaunas zeigte Areima seine Inszenierung Für eine bessere Welt nach dem 2003 entstandenen Stück von Roland Schimmelpfennig. Der Text, eine Art epische Collage über die Kriege unserer Gegenwart, wird hier ganz konkret zur Darstellung litauischer Schmerzthemen eingesetzt. Auf der Videoleinwand sieht man immer wieder einen Soldaten in Tarnuniform allein in Wäldern und Sümpfen, quasi isoliert in der Natur und ohne erkennbare militärische Aufgabe. Darunter performt eine muntere Truppe ein Chaos von Essenszubereitung und anderen eher alltäglichen Dingen. Für Areima geht es um dringende Probleme Litauens (die Ungeheuerlichkeit mit den aus Belarus über die Grenze gedrängten Migranten bahnte sich da erst an), nämlich die Wiedereinführung der Wehrpflicht und die Abholzung der einheimischen Wälder für den Export. Der Konflikt von Ökologie und Ökonomie, gezeigt in einer Theatersprache, die der zeitgenössischen Performancekunst nahesteht, berührt die litauische Identität auf verstörende Weise. Areima, der damit auch die letzten Reste einer sowjetrussischen Tradition im litauischen Theater abstößt, ist sich bewusst, dass vielleicht nicht jeder gleich versteht, was er zeigt und meint. Aber selbstbewusst genug ist er auch, dass so die Gegenwart Litauens zur Sprache kommt, ja, kommen muss.

Eine andere ConTempo-Entdeckung zeugt davon, wie neue Produktionsstrukturen schönste Ergebnisse hervorbringen. Darius Vizbaras, der sich zuvor mit der Erneuerung des nationalen Puppentheaters in Vilnius einen Namen gemacht hat, wirkt nun im Kammertheater von Kaunas als Produzent von Theaterexperimenten abseits der im Übrigen hochstehenden Stadttheaterkultur (die mit Eimuntas Nekrosius und Oskaras Korsunovas Regiestars der internationalen Szene hervorbrachte). S’anatomia ist eine kosmologische Oper, die man als Musikperformance mit zwei Spielern und einem fantastischen Schlagzeuger mit nur zwanzig anderen Zuschauern zusammen auf Kissen sitzend in einem Zelt erlebt. Es geht bei fast hypnotisierender Musik ums Große und Ganze, aber dann sind mit einer einfachen Geräuschetrommel voll Sand doch minutenlang sanfte Ostseewellen zu hören, die hörbar den Kosmos nach Litauen versetzen. Vizbaras sagt, dass es auch mit solchen Arbeiten um die Erforschung der litauischen Identität geht. Und er hat noch viel vor damit, nicht nur wegen Kaunas 2022.

Historisches Multikulti

Eine besonders ergiebige Säule der Kulturhauptstadt entsteht aus der reichen Vergangenheit des multiethnischen Kaunas’, das lange zum russischen Zarenreich gehörte und wo Polen, Deutsche, Russen, Juden und Litauer lebten, bis die Katastrophen des 20. Jahrhunderts das alles mehrfach in Frage stellten bis hin zu einem toten Punkt, der heute zumindest für die Erinnerung wieder geöffnet wird. Die Altstadt ist der richtige Ort, um dem nachzuspüren, quasi einem Hauch von Hansestadt. Ungewöhnlicher jedoch ist der Ramybes-Park als Ort der Schichten und historischen Verzweigungen dieser Stadt. Im 19. Jahrhundert als multireligiöser Friedhof angelegt, war der Park einst von Schulen verschiedener Konfessionen umgeben, Gymnasien unterschiedlicher Stadteliten in ihrer jeweiligen Sprache. Die Toten verschiedener Armeen des Ersten Weltkriegs wurden hier begraben, später die ersten Widerstandskämpfer gegen die sowjetische Okkupation, die freilich nach der Eingliederung Litauens in die Sowjetunion als Erste aus dem Gedenken entfernt wurden. Danach nannte man den Ort hinterlistig Friedenspark.

Heute gilt es, diese Schichten wieder sichtbar zu machen. Es könnte ein einzigartiger Ort in ganz Europa sein, sagt der für Kaunas 2022 engagierte Architektur- und Geschichtsexperte Zilvinas Rinkselis, der einen begeisternden Stadtrundgang anführt. Rinkselis kennt auch alle Orte in Kaunas, die als Film-Location dienten. Für die Serie Chernobyl (der Freitag 24/2019) etwa wurde hier einiges gedreht, als Ambiente für die Spätsowjet-Zeit. Rinkselis zeigt die kleine Mauernische in einem Hausdurchgang, wo in der Serie die alles bezeugenden Tonbandprotokolle versteckt wurden. Eine knappe halbe Stunde Fußweg weiter führt er zu dem Haus von Emmanuel Levinas, dem Philosophen, dessen Denken die Kritische Theorie weltweit mit befeuert hat. Seine Villa, die selbstverständlich Merkmale der Kaunas-Moderne zeigt, wird nun Begegnungsort.

Zu den Höhepunkten des reichhaltigen Programmkalenders gehört zweifellos die große Ausstellung des südafrikanischen Künstlers, Filme- und Theatermachers William Kentridge. Für ihn ist es auf geheimnisvolle Weise eine Art Heimkehr, denn sein Großvater Morris Kantrovitch wurde 1881 im benachbarten Vilnius geboren. Damit ist außerdem die Querverbindung zu einer weiteren ganzen Programmlinie gegeben, dem Leben der „Litvaks“, der litauischen Juden, die viel zu Kaunas’ Geschichte beigetragen haben.

Info

Das Programm kann man unter kaunas2022.eu einsehen

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