Griechisches Vergnügen und die neue Religion der Renegaten

Gesinnungswandel Zwei Äußerungen treten besonders häufig paarweise auf: die öffentlich bekundete Reue für vermeintliche Verfehlungen der Jugend und das demonstrative Bekenntnis zur EU.

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Im vorderasiatischen, arabischen und südosteuropäischen Raum liebt man eine Süßigkeit namens Lokum, auch Rahat Lokum. Auf Englisch heißt die klebrige Leckerei Turkish Delight. In dem griechischen Hotel, wenige Kilometer von der Türkei entfernt, steht sie als „Greek Delight“ auf dem Frühstücksbuffet.

So lächerlich und zugleich beängstigend kann sich der zeitgenössische Nationalismus äußern.

Die Treue zur Europäischen Union hat in Mitteleuropa inzwischen de facto Verfassungsrang erlangt. Sie hat den Status der früheren Treue zu Gott, Kaiser und Vaterland eingenommen. Mit einer erschreckenden Selbstverständlichkeit wird der Rechtslastigkeit verdächtigt, wer sie in Zweifel zieht. Den Segen der EU haben deren Befürworter von Anfang an in erster Linie darin gesehen, dass sie den Nationalismus endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte verweisen und die Wahrscheinlichkeit von Kriegen verringern werde. Keine Realität, keine Erfahrung kann sie von dieser Überzeugung abbringen.

Die Wahrheit ist: Die EU bedeutet eine permanente Androhung des Wirtschaftskrieges gegenüber allen Ländern Europas, die nicht der EU angehören, gegenüber den USA, gegenüber den aufstrebenden Ländern Asiens. Sie verhält sich gegenüber diesen Ländern wie die Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts gegenüber ihren Nachbarstaaten. Und, fast noch gravierender: Der Nationalismus hat seit ihrem Bestehen zu- und nicht abgenommen. Aber die Apologeten der EU lassen sich durch Tatsachen nicht in ihrem Dogmatismus erschüttern. Ob der Nationalismus außerhalb der EU, in Opposition zu ihr, oder innerhalb der EU als Reaktion auf deren undifferenzierte Entscheidungen gewachsen ist – es kümmert sie kaum, und sie verschließen die Augen vor den neuen alten Bedrohungen, die diesem Zustand entspringen. Sie ignorieren ihn einfach, um ihre Religion nicht zu gefährden.

Besonders penetrant sind jene Renegaten der Linken, die ihre Nähe zur Staatsideologie ständig unter Beweis stellen müssen, um die Vorteile zu genießen, die ihnen ihre „Läuterung“ eingebracht hat. Robert Schindel beispielsweise, aufgewachsen in einer kommunistischen Umgebung, klagt: „Wir waren Kinder einer autoritären Ideologie. Nicht einfach, sich frei zu machen.“ Robert Schindel war 9 Jahre alt, als Stalin starb, und 12, als dessen Verbrechen auf dem 20. Parteitag der UdSSR aufgedeckt wurden. Was er offenbar vergessen hat: Er war auch ein Kind einer internationalistischen Ideologie, die über die Grenzen der heutigen EU hinausblickte. Und er war, anders als die Mehrheit in seinem Lebensumfeld, kein Kind der autoritären Ideologie des Katholizismus oder, schlimmer noch, des keineswegs überwundenen Nationalsozialismus. Von deren Versuchen, sich frei zu machen, hört man wenig. Man trifft sich mit ihnen in der neuen Religion der EU-Gläubigkeit.

Robert Schindel ist keineswegs ein Einzelfall. Er ist nur ungewöhnlich auffällig. Für seine öffentlich bekundete Reue hat ihm ein Minister ein Fest zum 50. Geburtstag ausgerichtet und ihn auf einem Staatsbesuch mitgenommen. Weitere Belohnungen stellten sich ein.

Meine Schlussfolgerung aus solchen Beobachtungen: Misstraue jedem angeblichen Gesinnungswandel, der Vorteile einbringt. Ich habe höchsten Respekt vor dem Kirchenmann oder der Kirchenfrau, die wegen der Unzumutbarkeiten der Kirche in Vergangenheit und Gegenwart die Institution verlassen und ein bescheidenes Dasein in Kauf nehmen. Ich empfinde sogar Respekt vor der Entscheidung des weit nach rechts abgedrifteten Henryk M. Broder, der übrigens auch einmal ein Linker war und mit dessen heutigen Ansichten mich absolut nichts verbindet, die Zusammenarbeit mit der „Weltwoche“ wegen deren Verständnis für Putin zu kündigen, obwohl ihm das den Verlust saftiger Honorare einbringt. Ich habe Achtung vor den Sozialdemokraten, die ihre Positionen ohne gleichwertigen Ersatz aufgegeben haben, weil sie die Nachbarschaft von Blair, Mitterand, Schröder nicht ertragen konnten. Wer aber durch Selbstbezichtigung reiche Ernte einfährt, ist mir suspekt.

Insbesondere, wenn er lauthals einstimmt in das Lob einer EU. Mit einer Ursula von der Leyen an der Spitze. Welten entfernt von den Werten, die die Renegaten trotz Stalin und Mao einst vertreten haben.

Die Mahnung, die der Marquis Posa dem Freund Don Carlos bestellen lässt, ist, auch angesichts solcher Chamäleons wie Vera Lengsfeld oder Boris Palmer, die die Parteien öfter wechseln als die Unterhosen, aktueller denn je: "Sagen Sie/ Ihm, dass er für die Träume seiner Jugend/ Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird".

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