Gottlos

Linksbündig Wer die Norm setzt, hat die Macht oder: Die Aufklärung hat heute einen schlechten Stand

Man kennt das: Wer auf einem Fest, bei einem Empfang lieber Orangensaft trinkt als Sekt oder Wein, muss sich erklären. Trinkt er grundsätzlich keinen Alkohol? Warum bloß? Ist er gar Alkoholiker, jetzt endlich trocken und auf der Hut vor einem Rückfall? Das kommt: Alkohol zu festlichen Gelegenheiten gilt als die Norm.

Normen ändern sich. Vor kurzem noch war das Rauchen, zumindest an bestimmten Orten, im Kaffeehaus, in der Kneipe, im Jazzclub, "normal". Wer sich daran störte, musste sich zurückziehen. Heute muss sich, mehr und mehr, rechtfertigen, wer in der Öffentlichkeit rauchen will. Nur ein paar unverbesserliche Süchtige beharren auf einer Norm, die historisch zu werden im Begriff ist.

Was als Norm gilt, bedarf keiner Begründung. Erklären muss sich, wer von der Regel abweicht. Warum bloß muss man in der westlichen Welt Gründe anführen, wenn man nicht an Gott glaubt? Wir lächeln über die Menschen der Antike oder der verschwindenden "primitiven Kulturen", die ebenso von der Existenz mehrerer Götter, ausgestattet mit unterschiedlichen Eigenschaften, überzeugt waren wie gläubige Christen oder Juden oder Muslime von der Existenz eines einzigen Gottes überzeugt sind. Sie waren nicht dümmer oder einfältiger als ihre Nachfahren. Die Geisteskraft eines Papstes darf man einem Aischylos schon zutrauen. Warum fällt es so schwer, sich eine Zukunft auszumalen, in der man die heutigen monotheistischen Religionen ebenso belächeln und als naiven Aberglauben registrieren wird wie in der Gegenwart den Glauben an Zeus oder Athene? Warum müssen sich Agnostiker einer historisch längst fragwürdigen Norm beugen? Warum muss nicht vielmehr der Glaube an Gott begründet werden wie gemeinhin die Zugehörigkeit zu einer Sekte oder der Satanskult? Selbst Vegetarier werden noch eher bestaunt als Kirchgänger.

Nichts wird so sehr geschützt wie die Empfindlichkeit religiöser Menschen. Verfolgt wird, wer die Gefühle von Gläubigen beleidigt - jedenfalls von Gläubigen jener Religion, die am Ort die Vormacht besitzt. Sie verfügt über ein Monopol, das sich über alle empirischen Daten hinwegsetzt. Wer aber schützt die Atheisten? Wer schützt uns vor jenen, die mit Vehemenz hinter das wissenschaftliche Denken zurückdrängen? Der aktuelle Kampf gegen Darwin in den USA, der doch genau genommen außer schallendem Lachen nur Empörung hervorrufen dürfte, ist lediglich die Spitze eines Eisbergs. Warum muss es sich der Ungläubige gefallen lassen, dass seine Vernunft Woche für Woche durch ein Wort zum Sonntag beleidigt wird, während ihm in den Medien ein aufklärerisches Wort zum Dienstag oder zu welchem Wochentag auch immer verweigert wird? Warum muss er sich immer noch zurückziehen wie einst der Nichtraucher unter Rauchern, als gäbe es - ja, einen Gott, der das Rauchen zum Gesetz gemacht hat? Wir leben nun mal in einer christlichen Kultur, heißt die übliche Antwort. Abgesehen davon, dass das rein sachlich in Zeiten der weltweiten Migration immer weniger zutrifft: Beschreibt das eine Norm, oder will es sie nicht vielmehr dekretieren, wie die Behauptung, wir lebten nun mal in einer Kultur, in der Alkohol und Nikotin zum Wohlbefinden gehörten und unverzichtbar seien?

Die Aufklärung hat einen schlechten Stand. Sie wird in Frage gestellt, noch ehe sie sich - in 200 Jahren - durchsetzen konnte. Alle Übel der jüngeren Geschichte werden dem Rationalismus angelastet, als ließen sich nicht unzählige Verbrechen nennen, die religiös motiviert sind. Die kommen nur dann ins Gerede, wenn es gilt, eine konkurrierende Religion zu diffamieren. Der Fundamentalismus aber ist keine Erfindung des Islam, und die Verfolgung und Tötung von Anders- oder gar Ungläubigen gehört zum Bestand aller Religionen. In der Geschichte ohnedies, und leider auch noch in der Gegenwart. Laut war der Aufschrei, als in der Sowjetunion Kirchen geschlossen oder zu Jugendzentren umgewandelt wurden. Wenn im heutigen Russland orthodoxe Christen eine Ausstellung unter dem Vorwurf der Blasphemie stürmen und zerstören und danach nicht etwa sie, sondern die misshandelten Künstler von einem Gericht verurteilt werden, schweigt die Welt. Wer fragt die Fanatiker, die in den USA Mordanschläge auf abtreibungswillige Ärzte verüben, warum sie an einen Gott glauben?

Auch sie befinden sich noch im Bereich derer, die die Macht haben, die Normen zu bestimmen. Die scheinbar erstaunte Frage lautet immer nur und immer wieder: "Warum glauben Sie nicht an Gott?"


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