Abgründige Wanderer

CD-Kritik Neue Aufnahmen von Schubert und Beethoven Klavier-Sonaten mit Krystian Zimerman und Evgeny Kissin

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Praktisch zu jeder CD Neuheit bekommt man inzwischen persönliche Statements von Künstlern mitgeliefert, die einem die Ideen und Intentionen des Interpreten näher bringen sollen. So gibt Krystian Zimerman im Booklet Interview zu seiner Einspielung der beiden letzten Schubert Sonaten Auskunft über seine Ansichten, und Evgeny Kissin spricht in einer Reihe von Video Statements über seine Live Mittschnitte von Beethoven Sonaten (beide Aufnahmen sind auf Deutsche Grammophon erschienen).

Das mag in einer Welt, in der die mediale Vermittlung in erster Linie „sozial“, also nicht mehr per Sie sondern auf Du und Du ist, eine Selbstverständlichkeit sein. Allerdings zeitigt das in den kulturell ehrgeizigeren Bezirken merkwürdige Nebeneffekte. Gerade junge Künstler tun sich oft keinen Gefallen damit, wenn sie ihre halbgaren und nachgeplapperten Allgemeinplätze zum besten geben. Und selbst bei etablierteren Künstlern haben die Ausführungen mitunter eher desillusionierende Effekte.

Krystian Zimerman ist ganz klar auf Revisionismus Kurs. Er hält das Bild von Franz Schubert als kranken, depressiven Romantiker und die Stilisierung des Spätwerks als Weltabschiedsmusik für ein Klischee. Vielmehr sei Schuberts Tod ein Unfall auf Grund mangelnder Hygiene und Schubert in den letzten Jahren vielmehr unternehmungslustig und ein neugieriger Innovator gewesen.

Ganz gewiss ist das Bild, das die Öffentlichkeit sich von einem Künstler macht, nahezu immer eine Stilisierung. So wurde Bach lange als verkanntes Genie und Mozart als verarmter Künstler gezeichnet, was sich beides bei näherem Hinsehen als nicht haltbar erwies. Und so versuchen auch jüngere Schubert Biographien ein nüchterneres Bild von Schubert zu zeigen, etwa dass Schuberts künstlerische Karriere und ökonomische Situation in den letzten Jahren seines Lebens tatsächlich im Aufwind war und eigentlich keinen Anlass zu Depressionen gab.

Über Schuberts gesundheitliche und persönliche Befindlichkeiten kann man auf Grund der sporadischen Überlieferung tatsächlich nur vage Aussagen machen. Ohne Zweifel war die Syphilis Erkrankung, die sich bei ihm (anders als bei Schumann) auch in sichtbaren Symptomen wie Geschwüren äußerte, auch eine psychische Belastung und es gibt Hinweise auf einen manifesten Alkoholismus. Zudem wird in letzter Zeit vermehrt über eine homosexuelle Veranlagung spekuliert, die zwar im liberal großstädtischen Wien auch damals weitgehend toleriert wurde, doch trotz allem ein gesellschaftliches Stigma war.

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Franz Schubert starb im November 1828 im Alter von nur 31 Jahren und vielleicht ist es durchaus etwas fragwürdig im Fall von Schuberts letzten Kompositionen von „Spätwerk“ zu sprechen. Insbesondere im Vergleich zum Spätwerk Beethovens, das etwa zur selben Zeit (Beethoven starb im März 1827) entstand.

Denn das Spätwerk Beethovens ist von gänzlich anderer Art als das Schuberts. Beethoven hatte persönlich und künstlerisch einen enorm weiten Lebensbogen durchschritten und das Spätwerk bewegt sich in einem komplexen Spannungsfeld zu jenem Lebenswerk, ist ein selbstreflexiver, spekulativ subjektiver, in transzendentale und überhistorische Bereiche vorstoßender Rückblick und Ausblick.

Schuberts künstlerische Biographie war dagegen eigentlich erst dabei sich klarer abzuzeichnen. Seine enorme Produktivität (Schubert hat deutlich mehr Musik geschrieben als Beethoven obwohl er nur halb so lange lebte) führt zu gewissen optischen Täuschungen. Zwar hat er wie Beethoven 9 Sinfonien geschrieben, doch Schuberts 9. entspricht in der künstlerischen Entwicklung eigentlich eher Beethovens 2. oder 3. Sinfonie.

Was man als Schuberts Spätwerk bezeichnet, war eigentlich nur der erste entscheidende Schritt in der künstlerischen Selbstfindung, die Emanzipation von den übermächtigen Vorbildern Haydn, Mozart und Beethoven. Dass man so leicht gewillt war, dafür den Begriff des Spätwerks zu akzeptieren, hat mit der Atmosphäre und der Ausrichtung dieser Werke zu tun, die eben unleugbar etwas Todessehnsüchtiges und Abgründiges haben. Allerdings wäre durchaus diskutabel, ob dies nur von den persönlichen Befindlichkeiten Schuberts herrührt, oder ob nicht viel mehr Schubert damit wesentliche Essenzen des Paradigmenwechsel der Romantik aufnahm, die bereits in der Luft lagen.

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In Bezug auf Schuberts künstlerische Karriere muss man sich klar darüber sein, dass sein Erfolg vor allem auf einzelnen Liedern, Tänzen und Klavierstücken beruhte, man jedoch die Sonaten, Sinfonien und Opern, wo Beethoven und Rossini als Maß der Dinge galten, kaum zur Kenntnis nahm.

In Schumanns berühmten Wort von den „himmlischen Längen“ (über Schuberts 9. Sinfonie) drückt sich in der euphemistischen Formulierung noch exakt der ästhetischen Vorwurf aus, mit dem Schuberts Sonaten und Sinfonien konfrontiert waren. Gemessen am ästhetischen Paradigma der sinfonischen Klassiker Mozart, Haydn und Beethoven, bei dem die Länge eines Satzes in perfekter Korrelation zum energetischen Potenzial der Thematik und der formalen Bindungskräfte stand, laufen Schuberts Sonatensätze völlig aus dem Ruder.

Wie immer bei einem ästhetischen Umschwung dauerte es einige Zeit bis man akzeptierte, dass Schuberts Scheitern an den alten Paradigmen vielmehr vitaler Ausdruck eines neuen Paradigmas war. Dass sich in Schuberts Verweigerung, sich energetisch an einem Formgesetz auszurichten, auch die negative Spannung des subjektiven romantischen Ich zur Gesellschaft ausdrückt. Gerade eines der typischsten Merkmale in Schuberts Spätwerk, das unvermittelte Hinüberrücken in eine fremde Tonart hat mit technischer Innovation wenig zu tun sondern ist vielmehr musikalisch psychologischer Ausdruck der eskapistischen Tendenzen des romantischen Bewusstseins, das sich aus der prosaischen Realität hinauskatapultiert.

Schubert gehört nicht zur ästhetischen Fraktion der prometheischen Innovatoren wie Beethoven, sondern zu der der Erkunder, die intuitiv den verwachsenen Seitenpfaden des vertrauten Territoriums neue Farben und Eindrücke ablauschen. Schubert hatte denn auch in der Folge immer dann einen schweren Stand, wenn technisch handwerkliche Aspekte im Moderne Begriff im Vordergrund standen, wie etwa im Modernismus des frühen 20. Jahrhunderts. Artur Schnabel, der als einer der ersten Schubert Sonaten auf Tonträger aufgenommen hat, berichtet, dass es zu seiner Zeit exotisch war, Schubert Sonaten im Konzert zu spielen, die im Vergleich zu Beethovens Sonaten als minderwertig galten. In zivilisationsmüden Zeiten erlebte Schubert dagegen immer wieder verstärkte Aufmerksamkeit.

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Gerade der erste Satz der A-Dur Klaviersonate D. 959 hat in seiner Ästhetik der Verweigerung etwas Programmatisches. Hatte sich der Kopfsatz der vorausgegangenen c-moll Sonate D. 958 noch weitgehend zur Themendialektik der Sonatensatzform bekannt, wird jetzt der Sonatendualismus subversiv unterminiert. Nach der portalhaften A-Dur Eröffnung wird sofort in die fremden Bezirke von a-moll und C-Dur moduliert. Zwar gibt es auch bei Beethoven immer wieder mal überraschende Modulationen zu Beginn einen Sonatensatzes (etwa im ersten Satz des 4. Klavierkonzerts), doch werden diese dann als originelle Abweichung logisch in das Formkonzept integriert.

Eben das passiert bei Schubert nicht. Man kehrt zwar nach dem ersten kurzen modulatorischen Ausflug wieder nach A-Dur zurück, doch statt sich nun nach der kleinen Eskapade um die Befestigung der Formelemente zu kümmern (wie es eben Beethoven im 4. Klavierkonzert tut), stürzt sich Schubert, noch bevor das zweite Thema etabliert ist, in noch wildere Modulationen. Spätestens hier ist klar, dass es Schubert nicht um die Etablierung von Form geht, sondern dass er umgekehrt die Sonatensatzthemen und ihre Formfunktionalitäten lediglich als Erinnerungsmarken nutzt, die dem musikalisch freien Assoziationsstrom wie Wegmarken einem Wanderer begegnen.

Schubert ist in seinen Klavierstücken wie den Impromptus oder Moment Musicaux, aber auch in den Binnensätzen der Sonaten, formal viel klarer und konservativer ist als in den Sonatensatz- und Rondo-Sätzen. Daran zeigt sich nicht nur, dass er durchaus einen fein ausgebildeten Sinn für Proportion und Form besaß, es macht vor allem deutlich, dass es dezidiert die Paradigmen der bürgerlichen Aufklärung waren, zu denen er in einer negativen Spannung stand.

Die schlichte a-b-a Form war das aus dem feudalistischen Barock überkommene von prädestinierter Ordnung getragene musikalische Schema, während die komplexe und intellektualisierte Sonatenform paradigmatisch die Ideale der bürgerlichen Aufklärung verkörperte. Die Wander-Obsession der Romantik, die Chiffre war für träumerisches Schweifen und Außenseitertum, entsprang einem Impuls des Ausbrechens aus der idealistischen Überdeterminiertheit der städtischen bürgerlichen Ordnung.

Es ist interessant zu beobachten wie sich jede Epoche die Natur als stilisierte Gegenwelt imaginiert. Die aristokratische Kultur sah in der Welt der Schäfer und Schäferinnen eine soziale Ungezwungenheit im Gegensatz zu den eigenen rigiden sozialen Ordnungen und Ritualen, die heutige Zeit idealisiert die Natur als reines und ungebundenes, vom Zivilisationsschmutz und Zeitdruck befreites Biotop. Die Romantik sah dagegen die Natur als dunkle, in ihrer Gefahr und Abgründigkeit anziehende Gegenwelt.

Man ist denn auch in Schuberts späten Sonaten erst dann angekommen, wenn man sich im Dickicht verloren hat, wenn man eingetaucht ist in das träumerisch abseitige Kontinuum. Lied und Tanz, die Schubert ureigenste Sphäre waren, spielen dabei auch für die Sonaten eine wichtige Rolle. Die Immersion durch den Melos und die Hypnose durch ostinate rhythmische Figuren tragen ganz wesentlich dazu bei, in diese traumhafte Gegenwelt gezogen zu werden.

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Ohne Zweifel ist Krystian Zimerman ein phänomenaler Pianist, einer der wenigen, die sich ein ganz eigenes klangliches Profil erarbeitet haben, und ein Perfektionist noch dazu. So hat er für die Aufnahme einen akustischen idealen Saal in Japan gewählt und neueste Aufnahmetechnik. Seinen Steinway hat er so präpariert, dass Bass und Mittellage klanglich schlanker rauskommen und die Auslösung leichtgängiger ist, wie es bei Flügeln der Schubertzeit der Fall ist. Sein Spiel ist perfekt, keine Undeutlichkeiten, kein Gegrummel, alles ist wunderbar durchhörbar und transparent.

Und doch ist diese Aufnahme mit einem Schubert in 4K und Dolby HD irgendwie ein Missverständnis. Zimermans Hang zur Überdeutlichkeit, zur Ausleuchtung aller Details erweisen sich als kontraproduktiv. Hinzu kommt, dass er gerade in den langsamen Sätzen sehr wenig Pedal verwendet und viele Übergänge agogisch nochmal doppelt unterstreicht. Die Musik hat im Grunde nie die Gelegenheit ihren eigenen Fluss zu entwickeln, einen Sog der Immersion zu erzeugen, da sich der Interpret ständig aktiv kommentierend in den Vordergrund drängelt.

Zimermans revisionistische These verfängt leider überhaupt nicht, denn begegnet man Schubert mit nüchtern gesundem und hell analytischem Scheinwerfer-Blick erscheint er eher wie ein drittklassiger Beethoven.

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Gute Zeiten für Schubert wie die unserer sind immer eher schlechte Zeiten für Beethoven, was an jenem angedeuteten ästhetischen Antagonismus der Epochen liegt. Zwar wird auch heute Beethoven noch unermüdlich gespielt, doch unverkennbar fällt es unserer hedonistischen Epoche immer schwerer, dem ruhelosen, dezisionistischen und selbstquälerischen Idealismus Beethovens etwas abzugewinnen.

Dabei ist es nicht so, dass die Musik Beethovens schon in der Vergangenheit nicht auf ungeteilte Begeisterung stieß. Goethe war zwar beeindruckt von Beethovens starkem Charakter doch konnte mit seiner Musik wenig anfangen, hielt es lieber mit dem harmlosen Zelter, und noch Thomas Mann schreibt in seinem Tagebuch, dass er für Beethoven in seinem Herzen keine Liebe finden kann. Auch Beethovens Lehrer Haydn gingen Beethovens Kompositionen mächtig gegen den Strich.

Sowohl Krystian Zimerman als auch Evgeny Kissin erwähnen Haydn. Zimerman berichtet, als Beweis für Schuberts körperliche Fitness, dass Schubert noch kurz vor seinem Tod den langen Weg gewandert sei, um Haydns Grab zu besuchen. Und Evgeny Kissin spricht von Haydn in Zusammenhang mit Beethoven’s 3. Klaviersonate, die am Beginn seiner Beethoven Box steht. Haydn hatte ihm abgeraten diese Sonate zu veröffentlichen.

Schuberts Verehrung für Haydn mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Haydns hochintellektuelle und hochsublimierte Kunst, die wohl wie keine andere Kants ästhetische Vorstellung vom interesselosen Wohlgefallen verkörpert, scheint meilenweit von der dunklen romantischen Subjektivität Schuberts entfernt. Und doch gibt es eine Gemeinsamkeit, die insbesondere in Opposition zu Beethoven von Bedeutung ist. Schuberts Musik hat wie die Haydns durchaus einen apollinischen Zug, im Gegensatz zu Beethoven, der einer der großen Dionysiker der Musikgeschichte war. Es war eben in jener dritten C-Dur Klaviersonate op. 2/3, in der das dionysisch transgressive Element zum ersten Mal klar zu Ausdruck kam. Und es war genau das, was Haydn an dieser Musik abstieß.

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Evgeny Kissin hatte sich auf das Video Statement wohl genauso akribisch vorbereitet, wie er es für seine Klavierabende zu pflegen tut. Alles was er sagt hat Hand und Fuß. Am Ende zitiert er nicht ohne eine gewisse Theatralik eine Stelle aus dem 5. Akt von Faust II: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß.“

Abgesehen davon, dass dieses Zitat in einem hoch ambivalenten Kontext steht – es ist jener Monolog vom Erreichen des „schönsten Augenblick“, der gleichzeitig der Moment der größten Selbsttäuschung ist – passt es durchaus als eine Maxime, die sich Beethoven selber hätte geben können.

Was den Kosmos der 32 Beethoven Klavier Sonaten tatsächlich so einzigartig macht, ist, dass es die Dokumentation eines einzigartigen künstlerischen Lebens ist, das im Zeichen ständiger prometheischer Selbsterneuerung stand. Zwar gibt es auch von anderen Komponisten Werkzyklen, an denen sich exemplarisch eine künstlerische Entwicklung ablesen lässt, man denke etwa an Monteverdis Madrigale, Bachs Kantaten oder Chopins Mazurken. Doch ist es bei Beethoven weniger der Ambitus und die Vielfältigkeit als viel mehr noch das ständige Durchbrechen ästhetischer Schranken, das ständige sich-selbst-Neuerfinden, das singulär ist.

Kissins Auswahl ist ein repräsentativer Querschnitt, doch wären noch viele andere Querschnitte nicht weniger repräsentativ (die c-moll Variationen sind allerdings Fremdkörper, Beethoven nahm das Stück nicht wirklich ernst, wofür die fehlende Opus Zahl immer ein untrügliches Zeichen ist). Neben der C-Dur Sonate op. 2/3, enthält die Box noch Mondschein Sonate, Appasionata, Les Adieux und op. 111.

Und doch haben solche Kompilationen von mehreren Sonaten, ebenso wie reine Beethoven Klaviersonaten Abende, immer eine problematische Seite. Gerade weil viele Sonaten für Beethoven singuläre Ereignisse waren, ästhetische Eroberungen und Scheidepunkte, oder mit biographisch einschneidenden Ereignissen verknüpft, kommt es bei der Kompilierung sehr oft zur gegenseitigen Neutralisierung. Man kann einfach nicht in zwei Stunden die Erschütterungen eines ganzen Lebens emotional verarbeiten. Nach dem Presto Finale der Mondscheinsonate gleich den Kopfsatz der Appassionata anzuhören, müsste einen eigentlich an den Rand des Herzinfarkts bringen, es sei denn man begegnet ihm mit dem bornierten Ennui des schon tausend Mal gehörten.

Vor allem diese zwei Sonaten waren Großereignisse in Beethovens künstlerischer Biographie. Der erste Satz der Mondscheinsonate, biographisch mit einer heftigen Verliebtheit verknüpft, brachte eine neue, bis dato unerhörte Dimension der Subjektivität in die Musik, ohne die etwa das Adagio aus Schuberts B-Dur Sonate in derselben Tonart nicht möglich gewesen wäre. Und die Appasionata ist ein panischer Abgrund, der selbst von einem Robert Schumann in syphilitischer Enthemmung nicht mehr überboten werden konnte.

Auch Beethoven selbst war bewusst, dass diese Sonate in gewisser Weise nicht mehr überbietbar war und suchte in der Folge nach neuen Richtungen und Feldern der Innovation. Die „Les Adieux“ Sonate lotet neue Bereiche einer deskriptiven Programmmusik aus, die Wege für Berlioz, Schumann, Liszt und Wagner eröffneten, und die letzte Sonate op. 111 stößt in spekulative und transzendentale Bereiche vor.

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Evgeny Kissin, als Jugendlicher von Herbert von Karajan entdeckt, hat seitdem eine der kontinuierlichsten und beeindrucktesten Karrieren im Klassik Betrieb hingelegt, ist seit vielen Jahren fest gebucht in allen Metropolen und allen großen Festivals der Welt. Und das durchaus zu Recht, seine absolute technische Zuverlässigkeit (die auch in den vorliegenden Live-Mittschnitten zu bewundern ist) doch auch seine konzentrierte Ernsthaftigkeit, die ohne billige Mätzchen à la Lang Lang auskommt, sind aller Ehren wert.

Doch wenn Kissin Goethe zitiert, denkt man bei sich, was jemand, der früh durch seine Begabung privilegiert und erfolgreich war, inzwischen vollkommen arriviert ist, wohl Multimillionär und Stammgast in allen Luxushotels der Welt, von den Kämpfen des Lebens wirklich weiß. Alles im Leben hat einen Preis, auch ein Leben mit erfolgreicher Karriere und beamtenhafter materieller Sicherheit.

Goethe kam aus einem wohlhabenden Elternhaus und hätte es eigentlich nicht nötig gehabt, irgendetwas zu tun. Er verabscheute es gewiss nicht, Erfolg zu haben, doch hatte er eine regelrechte Phobie gegenüber jeder Art von Arriviertheit. Ob als Schriftsteller, Politiker, Philosoph, Naturwissenschaftler oder Theaterdirektor, sobald er irgendeine Art der Routine verspürte, entfloh er der Tätigkeit. Etwas Neues zu wagen, Widerstände zu überwinden, nur in diesem Zustand fühlte er sich frei und lebendig.

Die Schwierigkeiten, die Beethoven zu überwinden hatte, sei es in seiner Künstler Existenz - er war im Grunde der erste, der ohne feste Anstellung als freier Künstler lebte - oder in der Katastrophe der Ertaubung, die für ihn sowohl in seiner Ausübung als Musiker (er war auch Pianist und Dirigent) als auch in seinen sozialen, geschäftlichen wie privaten Beziehungen verheerend war, waren nicht nur Hindernisse sondern sind mit Beethovens Größe und Bedeutung untrennbar verbunden. Auch Thomas Mann sah in seinem Essay „Leiden und Größe Richard Wagners“ völlig klar, dass zwischen Leiden und künstlerischer Größe ein essenzieller Zusammenhang besteht. Dass nur ein Künstlerleben unter Opfern und Leiden und im Risiko des Scheiterns ein echtes Künstlertum im orphisch mythologischen Sinn ist.

Um Evgeny Kissin Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen: seine Live-Mitschnitte sind nicht nur pianistisch eminent, Kissin spürt in seinem untrüglichen musikalischen Instinkt durchaus etwas von Beethovens existentieller Dringlichkeit. Diese Aufnahmen sind gewiss gewichtiger und ernsthafter als viele, weit belanglosere Aufnahmen der letzten Jahre. Doch bevor man vor Beethovens Jupiter-Auge treten darf, muss man noch weit größere Prüfungen bestehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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