Breaking Bad - The Tragedy of Coriolanus

Shakespeare Kein anderes Stück ist unserer modernen Demokratie näher als Shakespeares letzte Tragödie. Was verrät uns das Stück über unsere Zeit?

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Als ich vor ein paar Monaten Ralph Fiennes Verfilmung von "Coriolanus" sah, waren die Syriza und Podemos Demonstrationen gerade auf einem Höhepunkt und zu sehen wie die hungernden römischen Plebejer, die Fiennes in ein heutiges Setting verlegt hatte, dafür demonstrieren, den Preis des Korns selbst festzulegen, wirkte wie ein merkwürdiges deja vu der aktuellen Lage. Umso mehr als der Patrizier Menenius darauf in der Staats-Parabel vom Bauch und den Gliedern des Körpers mit eben denselben systemischen Argumenten reagiert wie die heutige Euro-Bürokratie.

Ganz gewiss gäbe es noch viele andere Konstellationen und Ereignisse der jüngeren Geschichte, bei der man solche Ähnlichkeiten feststellen könnte. Diese Parallelen, ebenso wie die Tatsache, dass "Coriolanus" in der neueren Shakespeare Literatur nahezu einhellig als das politischste Stück Shakespeares gilt, haben alle dieselbe Ursache: kein anderes Stück Shakespeares ist näher an modernen demokratischen Strukturen wie eben "Coriolanus".

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Natürlich konnte Shakespeare nicht in die Zukunft sehen. Er blickte vielmehr in die Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die heute noch viel mehr als vor 400 Jahren wie ein ferner Spiegel unserer Gegenwart wirkt. Eigentlich kann man erst heute so recht erkennen, dass der politische Zyklus von Monarchie zu Patriziertum zu Demokratie, den die griechisch-römische Antike durchlief, und den schon Aristoteles und Cicero beschrieben hatten, sich in der Neuzeit ähnlich wiederholt hat.

Am Ende sind die Differenzen der Staatsformen wohl subtiler als man zunächst meinen möchte. Es ist eigentlich immer so, eben auch in Monarchie und Demokratie, dass praktisch ein professioneller Apparat regiert. Und auch in Monarchischen Strukturen konnte das Volk die Muskeln spielen lassen, genauso wie es in Demokratischen Strukturen immer noch Führungsfiguren gibt. Alle gesellschaftsdynamischen Aspekte sind zu jeder Zeit präsent. Es sind eher die ideologischen Fixpunkte, die sich verschieben und damit die Schwerpunkte der Machtkonstellationen verlagern.

Die elisabethanische Epoche gilt als eine der wenigen Glanzzeiten der Monarchie, und es ist durchaus interessant die Außenansicht eines Elisabethaners auf jene demokratisch geprägten Zeiten zu sehen. Denn darüber darf man sich keine Illusionen machen. Shakespeare war kein Demokrat avant la lettre und auch wenn er sich nie plump mit irgendetwas oder irgendjemand gemein macht war er in seiner ideologischen Prägung doch unverkennbar ein Mensch seiner Zeit.

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Sieht man etwas genauer hin, erweist sich der Coriolanus Stoff historisch als merkwürdig undeutlich. Historiker glauben sogar inzwischen, dass die Geschichte von Coriolanus, obwohl von mehreren antiken Historikern überliefert, eine Fiktion ist. Im 5. Jahrhundert vor Christus, dem Übergang von Monarchie zu Patriziertum, verortet, war sie schon für Plutarch (ca. 46-120 nach Christus), Shakespeares primärer Quelle, ferne Vergangenheit. Es mag sein, dass schon Plutarch die Geschichte mit einem ähnlich fremdem und befremdetem Blick betrachtet hat, mit dem wir heute auf die Zeit Shakespeares blicken.

Mit diesem historischen Parallelblick scheint es sogar so, als ob Plutarch, der Coriolanus in erster Linie als einen vom eigenen Stolz geblendeten Menschen sieht, unserer heutigen Sicht näher ist als Shakespeare. Dieser war nämlich überhaupt nicht an Moralitätenstücken interessiert sondern fühlte sich von der Gestalt ganz offensichtlich aus sehr komplexen Motiven angezogen. Was umso offensichtlicher ist, da es viele stoffliche Parallelen zu anderen Stücken gibt. Doch dazu später mehr.

Zurück zur Parallelität der historischen Perspektive. Denn blickt man auf den entsprechenden neuzeitlichen Übergang aus der Monarchie, sprich die Zeit nach der französischen Revolution, stellt man fest, dass es mit Napoleon eine Figur gibt, die verblüffend an Coriolanus erinnert. Beide waren militärische Genies, die irgendwann zu unberechenbaren Ungeheuern von mythischer Unbezwingbarkeit mutierten, bei denen es am Ende nur noch darum ging, sie wieder unter Kontrolle zu bringen.

Es scheint eine der bitteren Lektionen der Geschichte zu sein, dass immer wieder, wenn es zu großen tektonischen Verschiebungen im politischen Gefüge kommt, und dadurch zu Instabilitäten und Machtvakuen, die Stunde der Monstren geschlagen hat. Auch Hitler und Stalin sind Ausgeburten solcher Konstellationen.

Mythologisch waren Ungeheuer immer Symbole solcher Singularitäten. Und Shakespeare scheint sich dieses Umstands vollkommen bewusst zu sein, wenn Coriolanus nicht nur als "dragon" bezeichnet wird, sondern auch als ein Wesen, das nicht die Natur erschuf sondern das sich aus sich selbst geschaffen hat. Ein Prinzip, dass der Norm von natürlichem Wachstum, von Tradition und Nachkommenschaft eklatant entgegen und unter dem Zeichen der Zerstörung steht.

Obwohl Coriolanus eine Familie hat, Mutter, Ehefrau und Sohn, bleibt er auf merkwürdige Weise eine einsame Insel. Ein freies Radikal, das von dunklen antizivilatorischen Instinkten heimgesucht wird und sich ganz den eigenen Kräften und Leidenschaften überlassen möchte. Die Familie, allen voran die dominante Mutter Volumnia, ist gleichzeitig Hindernis und Rettungsanker, symbolisiert einerseits Dynastie und patrizischen Ehrenkodex, und ist zugleich das Siegel, das ihm den Zugang zu seinen dunklen destruktiven Impulsen verwehrt.

Der Grund, warum Coriolanus die Plebejer so sehr hasst, ist, dass sie genau das verkörpern, was er sich insgeheim wünscht, ihm aber aus ideelen Gründen verwehrt ist: Freiheit, die Lizenz sich ganz den eigenen Instinkten zu überlassen.

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Es ist durchaus erstaunlich, dass das, was Cicero vor mehr als 2000 Jahren als Merkmale der verschiedenen Staatsformen bezeichnet hat, sich nahezu passgenau auf die Neuzeit übertragen lässt. Nach ihm ist die Monarchie von der Idee der Fürsorge, das Patriziertum von der Idee der Weisheit und die Demokratie von der Idee der Freiheit gekennzeichnet. Das sind eben jene Ideale, die man in der Neuzeit auf Feudalismus, Bürgertum und aktuelle Demokratie anwenden könnte.

Tatsächlich würde wohl niemand leugnen, dass Freiheit das große Paradigma unserer Zeit ist. Liberale Ideen durchdringen nahezu alle unsere Lebensbereiche. Was wir allerdings nicht wahr haben wollen, ist, dass auch Freiheit zwei Richtungen hat, dass es darin einen Impuls von befreiender sowie von destruktiver Zerstörung gibt. Dass freier Austausch von Informationen und Inhalten auf der einen Seite und totale Überwachung auf der anderen Seite zwei Seiten desselben Prinzips sind. Dass die Spießigkeit und moralische Rigidität der bürgerlichen Welt, die wir überwunden haben, auch ein Garant für Maß und Ausgleich war, und die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft der Preis ist, den wir für die gewonnene Liberalität zahlen.

Wir befinden uns ganz offensichtlich in jenem Übergang von Demokratie zu Imperialismus, wie ihn die römische Geschichte vorgezeichnet hat. Der Unterschied zwischen Imperialismus und Monarchie besteht dabei in der ideologischen Ausrichtung. Ist die Monarchie von religiösen oder ideelen Ordnungsvorstellungen getragen, ist der Imperialismus gänzlich von Interessen getrieben. Der Lobbyismus in den USA genauso wie die oligarchischen Strukturen in Russland tragen bereits unverkennbar imperialistische Merkmale. Und dass bei den nächsten amerikanischen Wahlen voraussichtlich die Clintons gegen die Bushs antreten, zeigt, das auch dynastische Strukturen, die wie eine ferne Hoffnung von Stabilität und Kontinuität suggerieren, wieder im Kommen sind.

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Das, was Coriolanus der plebejischen Masse vorwirft, die animalische Instinkthörigkeit, der totale Opportunismus, die völlige ideele Rückradlosigkeit ist auch das, was auf das Fehlen jener anderen Ideale von Providenz und Weisheit verweist. Wobei Shakespeare keinen Hehl daraus macht, dass er darin eine Krankheit sieht, von der auch die meisten Patrizier längst infiziert sind.

Shakespeare legt denn auch die Fadenscheinigkeit jener Parabel vom Bauch, der die Nahrung aufnimmt und durch das Blut an die untergeordneten Gliedern weitergibt, mit einem subtilen Detail bloß.
Während Menenius mitten in seinen Ausführungen ist, unterbricht ihn der erste Plebejer mit dem raus geplapperten Einwand, ob die Patrizier nicht eher Herz und Hirn statt Magen sein müssten. Dem rhethorisch geschickteren Menenius gelingt es zwar, wieder die Oberhand zu gewinnen, doch für einen Moment ist er verwirrt aus dem Konzept gebracht.

Denn der Plebejer hat vollkommen Recht. Die Bauch Parabel ist bereits eine imperialistisch materialistische Perversion eines Staatsbildes, die merkwürdig an jene Steuersenkungsargumente der letzten Jahrzehnte erinnert, wo genau mit demselben "tickle down" Argument hantiert wurde, nach dem, wenn es der Spitzte der Gesellschaft gut gehe, der Wohlstand wie das Blut auch in die äußeren Glieder fließen würde.

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Das grotesk paradoxe an der Konstellation in Coriolanus ist ja, dass jenes Monster Coriolanus im Grunde der einzig Aufrichtige ist, der einzige, der noch an die patrizischen Ideale glaubt. Es bereitet ihm geradezu physischen Ekel, nicht nur seine Wunden vor der Masse zur Schau zu stellen, wie es das voyeuristische Bewerbungsritual zur Gewinnung der Volkstribunen will, sondern auch die offiziellen Lobhudeleien über seine militärischen Erfolge mit anhören zu müssen.

Alle diese Szenen beleuchten einige moderne Massenphänomene auf erstaunliche Weise. Was man heute im Fernsehen in fast epidemischen Ausmaßen sieht, die Tribunale in all den Castings- und Bewertungs-Shows scheint in die zentralen Befindlichkeiten der plebejisch/demokratischen Kultur zu zielen. Wie alle Kultur ist es in ihrem ursprünglichsten Gestus ein Demonstrieren und Auskosten der eigenen Macht. Wie die feudale Kultur vor allem auf Repräsentation zielte und die bürgerliche auf ein Werk, dass die handwerklichen und philosophischen Fähigkeiten exemplarisch verkörperte, hat die Masse vor allem Geschmack an der freiheitlichen Willkür, am Chaos. Die besten Quoten bringen immer die Geschichten, in denen entweder die Unscheinbaren erhöht oder die Selbstbewussten erniedrigt werden.

Das bekommt auch Coriolanus zu spüren. Und er will auch nicht auf seine Mutter hören, die ihm genau das rät, was als das A und O modernen Krisenmanagements gilt. Ob fremdgehende Politiker oder leichtsinnige Firmen, man gewinnt die öffentliche Meinung nach einem Fehler nur zurück, indem man offensiv seine Schuld einbekennt. Was man heute zu Hauff erlebt, dass Politiker mit guten populären Instinkten den größten Mist anstellen können ohne die Gunst der Wähler zu verlieren während vernünftige aber weniger geschmeidige Politiker über lächerliche Lappalien stolpern, bestätigt die Wahrheit dieser Dynamik auf deprimierende Weise.

Diese Szene mit seiner Mutter ist wohl auch der Wendepunkt, der ihn zum Monster mutieren lässt. Dass ihn ausgerechnet seine Mutter, die ihm zu dem machte, was er ist, zum Opportunismus anhält, lässt etwas in ihm zerbrechen, das auch das Siegel zu seinen dunklen Leidenschaften öffnet. Und er wird zu jenem Instrument des Chaos, das er in der plebejischen Masse so sehr hasste.

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Dass heute jeder nicht mehr Gehirn oder Herz sondern Bauch sein möchte, hat natürlich auch kulturelle Spuren hinterlassen. Der Bauch ist das Zentralorgan der heutigen Kultur. Die wow und flash und blow away Ästhetik, die wummernden Bässe der Pop- und Rockmusik, das hedonistische, kulinarische und sexuelle, mit dem heute alles und jedes assoziativ garniert wird, alles adressiert Magen, Zwerchfell und Unterleib.

Die "du willst es doch auch" Kultur der totalen sexuellen Freizügigkeit und die Zerstörungsorgien des heutigen blockbuster Kinos scheinen vollkommener Ausdruck eines infantilen, hedonistisch gargantuesken und chaotisch destruktiven Bauchgefühls.

Interessanter Weise antizipiert Shakespeare in "Coriolanus" auch eine zentrale moderne Metapher, wenn er Coriolanus dem Volk entgegen rufen lässt, sie würden sich gegenseitig auffressen, wenn man sie nicht in Schrecken hält: die des Zombies. In dieser Metapher kristallisieren sich eben jene Ängste vor den Folgen der Liberalisierung, vor der Freigabe der Triebe, die den Menschen wieder den wilden Tieren annähern.

Tatsächlich halte ich die Zombie TV-Serie "The Walking Dead", die vor allem in den USA enorm erfolgreich ist, für die in Bezug auf den Zeitgeist signifikanteste aktuelle Serie. Keine andere Serie vermittelt die aktuellen Ängste vor dem Chaos, dem Zerbrechen von zivilatorischen Strukturen, einer Rückkehr des animalischen survival of the fittest drastischer und anschaulicher als diese Serie.

Auch "Game of Thrones" lässt ähnliche Ängste anklingen. Und an dieser Stelle ließe sich auch die Parallele zwischen einer fiktiven Vergangenheit und einer möglichen Zukunft kurzschließen. Cicero und Plutarch hätten sich gewiss nicht träumen lassen, dass sich ihre Zivilisation auflösen würde und die Welt in jenes dunkle Mittelalter zurücksinken würde, das in "Game of Thrones" geschildert wird.

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Die "Coriolanus" Verfilmung von Ralph Fiennes reiht sich leider, trotz exzellenter Schauspieler, in die lange Reihe missglückter Shakespeare Verfilmungen ein. Das Kino hat eine fast religiöse Beziehung zu Shakespeare, betrachtet ihn irgendwie als seine Schöpfer-Figur. Nur so ist zu verstehen, dass es trotz aller kommerziellen Fehlschläge, immer und immer wieder neue Shakespeare Adaptionen gibt. Obwohl stark gekürzt wirkt der Film schrecklich langatmig. Man versteht eigentlich gar nicht worum es gehen soll, es eröffnen sich keine imaginäre Räume oder Konstellationen.

Die übliche Standard Formel, die auch Fiennes anwendet, nämlich die Vorlage zu kürzen, sprachlich ein wenig zu modernisieren und in ein modernes Setting zu versetzten, das dem Zuschauer den Zugang erleichtern soll, geht in seiner Kompromisshaftigkeit fast immer in die Hose. Entweder man nimmt Shakespeare mit allen seinen immanenten ästhetischen Dimensionen ernst, oder man wagt den Sprung in eine eigene Ästhetik, die sich dann aber auch konsequent von der Vorlage emanzipieren muss.

Fiennes gelingt weder das eine noch das andere. Vor allem seine Idee, Teile der Szenen als Fernseh Nachrichten bzw. vor großem Parlament zu inszenieren, erweist sich als problematisch. Denn die theatrale Kommunikation bei Shakespeare ist ganz auf die Kammer bzw. die Bühne zugeschnitten. Die mit viel metaphorischem Hintersinn aufgeladene Sprache Shakespeares ist auf ein intimes interaktives Echo hin konzipiert. Im Fernsehen und vor großem Parlament wir dagegen im "Freilichtton" gesprochen. Es ist eine Verlautbarungsrhetorik, die kein Echo erwartet.

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Obwohl von vielen Experten geschätzt, zählt "Coriolanus" zu den unbeliebtesten Stücken Shakespeares und rangiert entsprechend in den Aufführungshistorien auf den hinteren Rängen. Wenig erstaunlich ist, dass das Stück zu Zeiten Napoleons und Hitlers ein Konjunkturhoch verzeichnete. Beethovens Coriolan Ouverture (zu einer freien Adaption von Heinrich Joseph von Collin, im Original hielt man Shakespeares Stücke damals für unspielbar) und Brechts Bearbeitung stehen exemplarisch dafür. Das Stück gilt als Shakespeares letzte Tragödie, ob es zu Shakespeares Lebzeiten aufgeführt wurde ist ungewiss. Was das Stück mit vielen späten Stücken teilt, ist ein Ton einer apokalyptisch endzeitlichen Welt- und Lebensstimmung.

Auf die Verwandtschaft zwischen Coriolanus und Hamlet wird oft hingewiesen. Besonders die Konstellation mit der dominanten, aber inkonsequenten Mutter, das Verhältnis zu Ophelia, das dem zu Virgilia in seiner Mischung aus Gleichgültigkeit und allzu demonstrativer Zuneigung ähnelt. Auch zwischen Menenius und Polonius sowie Aufidius und Fortinbras gibt es Parallelen. Und nicht zuletzt natürlich der Schluss mit der in beiden Fällen nicht ohne suizidale Hintergedanken induzierten Katastrophe.

Eine andere wichtige Parallele ist der Auftritt der drei Frauen am Ende von Coriolanus, der auf merkwürdige Weise mit der Eingangsszene von King Lear korrespondiert. Die Szene aus "Coriolanus" ist ein Ritual der erfolgreichen narzisstischen Beschwichtigung, so wie die Szene aus "King Lear" das Exempel einer narzisstischen Kränkung war.

Dieser narzisstische Aspekt weist auch auf einen Teil der Handlung, der meist eher übersehen wird. Denn Coriolanus enthält auch die Geschichte einer leidenschaftlichen Beziehung. Shakespeare stößt einen im Grunde mit der Nase drauf, wenn Aufidius beim Auftauchen des übergelaufenen Coriolanus ausruft, dass er über sein Erscheinen so aufgeregt ist, wie er es nicht mal bei seiner Geliebten und späteren Ehefrau war.

Selbst ohne ein sexuelles Verhältnis zu unterstellen, ist unverkennbar, dass es zwischen Coriolanus und Aufidius eine narzisstisch aufgeladene, leidenschaftliche Beziehung gibt. Beide erkennen in ihrem Gegenüber den einzig würdigen Gegenspieler, ihren spirituellen match. Bereits der erste Zweikampf hat, ähnlich wie die Schwertkampf Begegnungen von Romeo und Tybalt, von Hal und Hotspurs oder Hamlet und Laertes eine merkwürdig rauschhaft erotische Komponente. In diesem erotischen Eskapismus aus dem intakten familiären Gefüge besteht eben genauso ein Nachgeben an chaotische Triebe wie in den perversen militärischen Aktionen.

Dass der Narzissmus eine stark infantile Komponente hat, wird an einer Stelle zu Beginn von Shakespeare subtil veranschaulicht. Dort erzählt Valeria, wie sie den Knaben Marcius, Coriolanus Sohn, beim Spielen beobachtet. Dieser jagt einen Schmetterling, fängt ihn mehrmals ein und lässt ihn wieder fliegen. Doch als er einmal stolpert und sich weh tut, zerreist er den Schmetterling in Stücke.

Natürlich spiegelt sich darin, wie später auch sein Vater reagieren wird. Und wie im Narzissmus sich infantile bzw. animalische Muster offenbaren. Nämlich dass bei Narzissten spontane Emotionen absolute Bedeutung gewinnen und rationale Erwägungen und soziale Beziehungen völlig ausgeblendet werden. Hier wird auch erneut jene Verwandtschaft zwischen infantiler Masse und monströsem Individuum offensichtlich. Wie das Volk alle Verdienste und Begabung Coriolans außer Acht lässt, sobald es sich gekränkt fühlt, so müssen auch Coriolans Familie und ganz Rom wie der Schmetterling für die Kränkung seines narzisstischen Stolzes büßen, so absurd das von außen gesehen auch erscheinen mag.

Der Schluss des Stückes ist denn auch gewiss kein happy ending sondern ein ähnlich apokalyptisches Schauspiel wie in "Hamlet" und "King Lear". Denn mit seiner Kapitulation vor den Bitten von Frauen und Kind hat Coriolanus aus eigener Sicht nicht etwa die Ordnung wieder hergestellt, sondern die Welt vollends in Unordnung gebracht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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