Bühne Carnegie Hall

CD-Kritik Die Box "Vladimir Horowitz live at Carnegie Hall" dokumentiert erstmals sämtliche Live-Aufnahmen. Das Bühnen-Tagebuch eines der größten Pianisten des 20. Jahrhunderts.

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Im Film "The Last Romantic" sieht man in der ersten Einstellung Vladimir Horowitz im Auto sitzen. Kokettierend fragt er in die Runde, ob, wenn er eine Konzert in der Carnegie Hall ankündigte, überhaupt jemand kommen würde. Natürlich weiß die Entourage, was der Meister hören will und bestätigt überschwänglich.

In dieser Szene sieht man nicht nur eine alternde Diva "fishing for compliments", bezeichnend ist auch das possessive Verhältnis zum Schauplatz ihrer Erfolge. Ohne Zweifel betrachtete Horowitz die Carnegie Hall als "seine" Bühne. Und das auch mit vollem Recht. Natürlich hatte die Carnegie Hall auch jenseits von Horowitz von je her eine große Bedeutung als wichtigstes Konzerthaus New Yorks, doch den Mythos Carnegie Hall hat im Grunde er geschaffen.

Schon seit den 20er Jahren hat Horowitz regelmäßig in der Carnegie Hall konzertiert. Doch erst die sich nach dem 2. Weltkrieg rasant entwickelnde Aufnahmetechnik hat diese vorher radiovernebelten Ereignisse mit immer größerer Transparenz ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit katapultiert.

Das alleine kreiert jedoch noch keinen Mythos. Die eigentliche Geburtsstunde war jenes Konzert am 9. Mai 1965, als Horowitz nach 12 Jahren Abstinenz auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Möglichkeiten triumphal auf diese seine Bühne zurückkehrte. Erst dieses Narrativ der siegreichen Wiedereroberung der verlassenen Heimstatt vollendete die mythische Geschichtsschreibung.

Das macht diese Box auch zu etwas besonderem. Denn sie ist über ihren dokumentarischen Wert hinaus eben noch mehr: nämlich das Bühnen-Tagebuch einer der bemerkenswertesten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.

Die Plattenfirmen haben in den letzten Jahren mangels neuer Sensationen eine große Geschicklichkeit entwickelt, ihre Archivaufnahmen in immer neuen Verpackungen erneut an den Mann zu bringen. Gerade zu Glenn Gould und Horowitz kommen ungeachtet der Tatsache, dass diese seit mehr als 20 Jahren tot sind, nahezu jedes Jahr neue CDs heraus. Und natürlich ist der überwiegende Teil dessen, was diese Box enthält, im Wesentlichen bereits bekannt. Allerdings präsentiert diese Edition nicht nur sämtliche verfügbaren Carnegie Hall Live Aufnahmen, sondern viele davon erstmals vollständig und ohne jegliche, selbst bei Live-Konzerten üblichen Retuschen. Einzige Ausnahme ist das Konzert vom 8. Januar 1978 mit dem 3. Rachmaninov Konzert, das in der bekannten edierten Version verblieb.

Eine besondere Erwähnung verdient an dieser Stelle Jon M. Samuels, der wie ein Archäologe nicht nur nach den zum Teil tief vergrabenen Schätzen geforscht, sondern diese auch in liebevoller Kleinarbeit vom editorischen Schlamm befreit und beschädigte Teile wieder rekonstruiert hat.

Gerade dieser unverfälschte Charakter, der nicht nur alle Fehler und Unfälle (in einem Konzert reißt mitten im Stück eine Saite) sondern eben neben den Höhepunkten auch die durchschnittlichen und flauen Teile dokumentarisch abbildet, trägt ganz wesentlich zum Tagebuch-mäßigen des ganzen bei.

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Der Zufall wollte es, dass ich in den letzten Monaten neben den Carnegie Hall Konzerten gleichzeitig eine Reihe von Verdi Aufnahmen mit Maria Callas (im Kontext des Verdi Jahres) anhörte. Was mir dabei wie nie zuvor ins Auge fiel, war nicht nur die zeitliche Überschneidung ihrer Karrierehöhepunkte sondern einige bemerkenswerte Ähnlichkeiten in ihrer künstlerischen Physiognomie.

Beide waren genuine Bühnenmenschen. Was Horowitz die Carnegie Hall, war der Callas die New Yorker Metropolitan Opera. Worin diese Ähnlichkeit besteht, ist nicht ganz einfach zu beschreiben. Es ist eine mysteriöse Art des Magnetismus, eine Bipolarität von narzisstischer Distanzierung und totaler Hingabe. Ein Spiel der Verführung, das aus dem stetigen Wechsel der Tonlagen von Zärtlichkeit bis zu aggressiver Kraftentfaltung eine erotische Dynamik gewinnt.

Eines der Charakteristika von Horowitz Klavierspiel ist ein dem sängerischen mezza voce abgeschautes plötzliches Abdimmen des Klanges. Ein Effekt, den nicht nur auch die Callas meisterhaft beherrschte, sondern der tatsächlich etwas feminines hat, wie eine überraschende Geste, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Im preziösen Abtasten von Melodielinien, das beiden eigen ist, offenbart sich erotisch räkelnder, provokanter Zug. Und auch eine andere Manier Horowitz, nämlich die Hände auseinanderklappen zu lassen, kennt man in ähnlicher Form bei der Callas, wenn sie in lasziver Form ein Hauch vor oder nach der Zählzeit einsetzt.

Was jedoch auch immer durchschimmert, ist eine Neigung zur Hysterie, die bis in die Klanglichkeit durchsickert. Wie bei der Callas die Stimme gelegentlich eine etwas grell metallische Färbung annimmt, hat auch Horowitz Klavierklang im dynamischen Extrem eine Neigung zu metallisch klirrender Überspanntheit. Mitunter ist ein Hang zur Selbstentblößung spürbar, der mitreißend sein kann, manchmal aber auch ein wenig peinlich. Oft verzichtet Horowitz bei vertrackten Passagen ohne Not gänzlich auf das gnädig verwischende rechte Pedal, selbst wenn sie missraten. Die Callas wiederum ließ manchmal die Intonation halb unbewusst flackern, gleichsam um die Gefahr der Entgleisung spürbar zu machen.

Zum Bild dieser Art von bipolarer Existenz gehören heftige Krisen mit dazu. Die zeitlichen Lücken in Horowitz Carnegie Hall Auftritten sind bekanntlich durch Auszeiten verursacht, die mit psychischen Krisen zusammenhingen. Und auch bei der Callas gehörten persönliche Krisen mit zu ihrem künstlerischen Leben dazu. Beide waren berüchtigt dafür, Konzerte im letzten Moment abzusagen und galten überhaupt als äußerst heikel und schwierig im Umgang.

Arthur Rubinstein dagegen, der stolz darauf war, nie ein Konzert abzusagen, war nicht minder Bühnenmensch, hatte jedoch ein vollkommen anderes Verhältnis zum Publikum. Er wäre auch nie auf die Idee gekommen, mit dem Konzertieren, das sein Lebenselexir war, zu pausieren. Rubinstein erzählt selbst einmal, dass er wenn er auf die Bühne ging, gerne eine hübsche Frau aus dem Publikum fixierte, und sich dann vorstellte nur für diese Frau zu spielen. Rubinstein spielte, um zu verführen, doch Horowitz spielte, um begehrt zu werden. Und nichts steigert das Begehren mehr als das Sich-Entziehen.

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Wie die Gesangstechnik der Callas, war auch Horowitz Klaviertechnik eigentlich fehlerhaft. Horowitz drückte die Fingerkuppen durch, was das genaue Gegenteil einer schulmäßigen runden Fingerstellung ist. Darin mag sich vielleicht unbewusst etwas von feminin pfauenhafter Spreizung verbergen, doch hatte diese Technik vor allem Auswirkungen auf die klanglicher Morphologie, jenen äußerst trennscharfen und dynamisch extrem aufgefächerten Klang, an dem man Horowitz sofort erkennt.

Horowitz bevorzugte, ähnlich wie Glenn Gould, Klaviere mit extrem leichter Auslösung und eine sehr fokussierte, diamantkalte Intonation. Anders als Rubinstein legte er auf Sonorität, Wärme und Volumen wenig Wert. Horowitz spielte direkt auf den Nerven seines Publikums.

Horowitz Neigung, den virtuosen Drahtseilakt auf die Spitze zu treiben, bewegt sich immer auf einem schmalen Grat. Er riskiert immer viel und gelegentlich verheddert er sich schon im Anlauf, noch öfter aber kippt er über in eine entgrenzte mechanische Hysterie. Doch manchmal gelingt eben das außergewöhnliche, und sein Klavierspiel gewinnt etwas elektrisierend mitreißendes wie bei keinem andereren Pianist des 20. Jahrhunderts.

Dabei war seine Technik keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Durch die falsche Fingerhaltung waren manche Passagen immer von einer gewissen Ungleichmäßigkeit bedroht. Und mit der Fehlerquote mancher Konzerte hätte Horowitz es heute wohl nicht durch die erste Runde eines Wettbewerbs geschafft. Doch letztendlich spielt das alles überhaupt keine Rolle, im Gegenteil.

Vladimir Horowitz ist vielleicht das beste Beispiel dafür, was Technik in einem künstlerischen Sinne eigentlich bedeutet. Nämlich, dass die Schulmeinung, man müsse sich erst eine solide Technik aneignen und dann könne man anfangen sich in dieser Technik "auszudrücken", ein fataler Irrtum ist. Denn Technik ist nicht ein Mittel sondern organischer Bestandteil einer künstlerischen Physiognomie. Es geht letztendlich gar nicht darum eine gute oder schlechte Technik zu haben, sondern einzig darum die Technik der eigenen Persönlichkeit anzuverwandeln.

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Eröffnet wird der Konzertreigen mit einem Live-Mitschnitt von Tschaikowskys b-moll Konzert unter Toscanini. Dieser unterscheidet sich kaum von jener Studioaufnahme, die wenige Jahre zuvor entstand und berühmt geworden ist. Ich muss gestehen, dass ich diese Aufnahme nie ausstehen konnte. Ich fand sie immer überzüchtet und hysterisch aufgedonnert. Horowitz war durch dieses Konzert in den 20er Jahren berühmt geworden, insbesondere mit den virtuos hingepfefferten Oktavenpassagen. Und wie eine Diva, die ängstlich darauf bedacht ist, dass ihre besten features im besten Licht erscheinen, scheint alles nur auf diese brillanten Passagen ausgerichtet. Zudem treibt Toscaninis freudlose Pedanterie dem Stück jede Großzügigkeit und Eleganz aus, die doch am Ende das beste daran ist.

Auch Horowitz Bearbeitung von Mussorgskys Bilder einer Austellung ist ein bedauerlicher Missgriff. Mussorgskys unkonventioneller, sperriger Klaviersatz ist ja selbst Teil der ästhetischen Essenz und was Horowitz mit Mussorgsky macht ist in etwa, als ob man einen van Gogh "verschönernd" übermalt. Und um mir gleich alles unangenehme von der Seele zu reden, füge ich hier noch an, dass auch die Liszt Bearbeitungen und seine eigene Carmen Fantasie für meinen Geschmack die Grenzen zur Vulgarität allzusehr strapazieren.

Die erste Gruppe von Konzertmittschnitten, darunter die sogenannte "Private Collection", eine Reihe von privaten Mitschnitten, ist was das Repertoire angeht die reichhaltigste. Horowitz war in dieser Phase experimentierfreudig wie später nie mehr. Sogar einige zeitgenössische Komponisten wie Prokoffiev, Barber, Poulenc oder Kabalevsky tauchen hier auf.

Auch wenn diese frühen Aufnahmen schon ganz den typischen Horowitz Sound haben und pianistisch vielleicht sogar spektakulärer und in jedem Falle perfekter sind als die späteren Mitschnitte, ihnen fehlt noch jenes entscheidende Quäntchen an Souveränität und Freiheit, das die späteren Konzerte so einzigartig macht. Erst nach seiner Rückkehr 1965 ist Horowitz ganz auf der Höhe seiner Kunst. Was Horowitz in den besten Teilen dieser Konzerte aus den 60er Jahren bietet, zählt zum Erlesensten an Klavierkunst, das je auf Tonträger gebannt wurde.

In den 70er Jahren lässt sich bei Horowitz ein Phänomen beobachten, das häufig bei sehr individuellen Künstlerphysiognomien festzustellen ist, so eben auch bei der Callas oder bei Glenn Gould. Nämlich dass die idiosynkratischen Merkmale in einen gefährlichen Manierismus umzukippen drohen.

Vielleicht war es das übermütige Klima der 70er Jahre oder auch eine trotzige Weigerung das fortgeschrittene Alter zu akzeptieren, doch setzte er auch Stücke aufs Programm, denen er technisch eigentlich nicht mehr gewachsen war. Dass man für das Rachmaninov Konzert nicht auf den originalen Konzertmitschnitt zurückgriff, legt die Vermutung nahe, dass er jenseits von gut und böse war.

In den 80er Jahren fing sich Horowitz wieder, ja fand sogar ein gewisses Vergnügen an der neuen Rolle des verschmitzten älteren Herren, und legte nochmal eine in herbstlichen Farben leuchtende Alterskarriere hin.

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Der ungeschminkte Blick auf so zahlreiche Konzerte, manche davon gar mehrfach mit identischem Programm, zeigt deutlich, wie jedes Konzert für Horowitz eine neue Herausforderung war. Er ist eigentlich nie sofort "da". Man spürt in den ersten Stücken immer soetwas wie ein Suchen und Versuchen, manchmal auch ein wenig mit Gewalt.

Auch das berühmte "Historic Return" Konzert vom 9. Mai 1965 bildet da keine Ausnahme. Ja mehr noch. Seit man den unedierten Mitschnitt (der bereits vor einigen Jahren herauskam) kennt, weiß man, dass ihm schon im ersten Takt der eröffnenden C-Dur Toccata von Bach ein brutaler Verspieler passiert, bei dem sicher nicht nur Horowitz sondern auch dem Publikum vor Schreck das Herz stehen blieb.

Während der gesamten Toccata merkt man noch wie Horowitz um Fassung ringt. Doch irgendwie hatte dieses frühe Missgeschick auch eine befreiende Wirkung. Es beförderte ihn unmittelbar auf die nötige Betriebstemparatur, den nötigen euphorischen Bühnenzustand, den wohl alle Schauspieler brauchen, um großes zu leisten. Nicht in allen Konzerten gelingt das. Die beiden besten Konzerte neben dem genannten, sind für mein Gefühl das vom 27. November 1966 und das 15. Dezember 1968.

Das Gelingen hängt auch immer stark davon ab, was auf dem Programm steht. Horowitz Repertoire war durchaus limitiert, wofür er auch immer wieder kritisiert wurde. Doch innerhalb dieser Grenzen versuchte Horowitz die Dramaturgie des Abends immer wieder zu variieren, so dass sich zwar die Stücke oft wiederholen, durch eine andere Position innerhalb des Programms dann aber doch in anderem Licht erscheinen.

Wie Begegnungen zwischen Menschen bleiben auch die Begegnungen von Interpreten und Komponisten unberechenbar. Manche kulturelle Kluft lässt sich nie überbrücken, doch manchmal gibt es spontane Sympathien oder Antipathien, unbewusste Identifikationen oder peinliche Missverständnisse.

Die Distanz Horowitz' zu Beethoven, Schubert und mehr noch zu Brahms bleibt unüberwindbar, mag auch manches aus klangsensualistischer Sicht durchaus exquisit erscheinen. Ein Sonderfall ist das Verhältnis zu den Klassikern Mozart und Haydn (Clementi taucht kurz auf, verschwindet aber bald wieder), die Horowitz immer wieder gerne aufs Programm setzt. Man könnte stilkritisch einwenden, dass das feingesponnene manchmal zu sehr ins affektierte, das spielerische manchmal zu sehr ins martellato abdriftet, doch die einzigartige rhythmische Plastizität und das berühmte Belcanto Horowitz' machen das mehr als wett.

Das Verhältnis zu Chopin und Rachmaninov, zwei Komponisten, zu denen Horowitz eigentlich eine natürlich Affinität hatte, ist prekärer als man meinen könnte. Zählen die Interpretationen von kürzeren Stücken wie den Mazurken Chopins oder den Préludes Rachmaninov zu den absoluten Höhepunkten dessen, was auf dem Klavier an rhythmischer Pointierung, klanglicher Differenziertheit und pianistischem Raffinesse denkbar ist, wird es immer problematisch, sobald der Klaviersatz massiver wird. Da wirken Chopin und Rachmaninov dann schnell hysterisch aufgedonnert.

Chopins zart zwielichtige Barcarolle geht regelmäßig völlig über den Jordan und in Rachmaninovs zweiter Sonate (in der Aufnahme vom 15.12.1968) ist man hin und her gerissen zwischen heller Begeisterung über die Subtilität, mit der Horowitz die harmonisch raffinierte Vielstimmigkeit von Rachmaninovs Klaviersatz zum Klingen bringt, und Entsetzen über die schreckliche Brachialität, mit der er das klanglich massive Finale in die Tasten drischt.

Scarlatti, Schumann und Scriabin sind die Komponisten, mit denen Horowitz die glücklichsten Symbiosen einging. Scarlatti hat Horowitz in dem Sinne neu entdeckt wie Glenn Gould die Goldberg Variationen neu entdeckte. Wie alle neueren Aufnahmen der Goldberg Aufnahmen die Gouldsche Mutation in der DNA haben, so scheint auch bei allen modernen Scarlatti Aufnahmen das Horowitzsche Element durch. Und Skrjabin, ein übernervöser Mystiker und Hysteriker (Horowitz: "he was crazy"), kennt man im Grunde gar nicht richtig, wenn man nicht die Aufnahmen von Horowitz kennt.

Am erstaunlichsten bleibt vielleicht der Fall Robert Schumann, dessen "Blumenstück" wie eine Signatur immer wieder auftaucht. Denn kulturell stand Schumann Horowitz eigentlich viel ferner als Chopin und Liszt. Von der Intellektualität und dem schwärmerischen Idealismus Schumanns hat Horowitz denkbar wenig, ganz im Gegenteil tendierte Horowitz eher zu französischer Kultiviertheit und hedonistischem Raffinement. Und doch gibt es da auf einer ganz persönlichen Ebene eine sonderbare Affinität. Da ist bei beiden etwas drahtseilhaft überspanntes, eine über die Maßen hellhörige Sensibilität, etwas unstet fahriges und panisch nervöses. Die psychopathologischen Ursachen mögen denkbar verschieden sein, doch das Erscheinungsbild ist verblüffend ähnlich.

Die Kreisleriana, die C-Dur Fantasie, der wunderbar verdämmernde Schluss der Arabeske und eben das in immer neuen Farben erblühende Blumenstück sind weit über virtuose Pianistik hinaus herausragende Beispiele genialer nachschöpferischer Vergegenwärtigung.

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Zufälligerweise, oder auch nicht, kam im letzten Herbst ebenfalls eine CD mit dem Carnegie Hall Debut von Daniil Trifonov heraus. Unübersehbar versuchte man dabei an jenen Horowitz Carnegie Hall Mythos anzuknüpfen. Nicht nur war Horowitz Produzent Thomas Frost mit von der Partie, von der Rhetorik des Begleittextes bis zur Retro Ästhetik des Artworks schmeckt alles ein wenig danach, eine alte Erfolgs-Formel wieder aufzuwärmen.

Kein Zweifel, dass Trifonov ein erstklassiger Pianist ist, doch derer gibt es heute zuhauf. Darüber hinaus kann ich leider wenig individuelles an ihm feststellen. Als Horowitz Imitator ist Arcadi Volodos (ebenfalls von Thomas Frost produziert) noch ein Klasse besser.

Man möchte jungen Künstlern eigentlich raten, jede Ähnlichkeit mit ihren Idolen zu vermeiden. Epigonentum ist der sicherste Pfad in die Bedeutungslosigkeit. Denn nur das neue, andere, noch nicht dagewesene hat künstlerisch überhaupt Bedeutung. Junge Künstler müssen sich ihre eigene Bühne und ihren eigenen Mythos schaffen. Der Mythos Carnegie Hall gehört schon Vladimir Horowitz und ihm ganz alleine.

Die Box mit 42 CDs und einer DVD ist bei Sony Classical erschienen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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