Der Pianist Arturo Benedetti Michelangeli

Jubiläum Zum 100. Geburtstag des italienischen Pianisten, der sich der Schönheit und Klarheit verschrieben hatte

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Der Pianist Arturo Benedetti Michelangeli (r.) und sein Stimmer Ettore Tallone am Klavier während einer Konzertreise, 1959
Der Pianist Arturo Benedetti Michelangeli (r.) und sein Stimmer Ettore Tallone am Klavier während einer Konzertreise, 1959

Foto: Erich Auerbach/Getty Images

Arturo Benedetti Michelangeli schien wie aus einem Film Michelangelo Antonionis entsprungen. Enigmatisch, unnahbar, elegant und von einer mondän aristokratischen Aura umweht. Wie kein anderer Musiker des vergangenen Jahrhunderts verkörperte er einen altehrwürdigen italienischen Schönheitsbegriff von Renaissance Palästen, gewundenen Linien und dunklen, sonnensatten Farben. Selbst die große italienische Operntradition erschien in seiner Gegenwart wie proletarische Dekadenz.

Als Kind einer wohlhabenden Familie in Brescia geboren, wollte er ursprünglich Geiger werden, musste dann jedoch aus gesundheitlichen Gründen auf das Klavier umsteigen. Man meint das seinem Klavierspiel auch noch anzumerken, dessen Klang das Massive und Üppige meidet und selbst bei dichtesten Akkord-Ballungen durchsichtig und schlank fokussiert bleibt.

Mit seiner makellosen Klaviertechnik setzte er sich schnell durch und machte international Karriere. Dass er trotzdem kein „Star“ wurde sondern immer eher Geheimtip für Insider blieb, lag nicht nur an seinen hohen professionellen Ansprüchen, die ihn schnell ein Konzert absagen ließen, wenn die Bedingungen nicht ideal waren. Er war bald als schwierig berühmt berüchtigt. Er gab überhaupt eigentlich nicht gerne Konzerte, ja man hatte immer ein wenig das Gefühl, dass er sich dazu herab ließ, vor Publikum zu spielen. Die Miene von Gleichgültigkeit und milder Verachtung, die er auf der Bühne zur Schau trug, war legendär.

Umso erstaunter war man, zu sehen, dass er im Gespräch sehr zurückhaltend, ja fast schüchtern wirkte, den Blickkontakt mit seinem Gegenüber vermeidend. Er war ein sehr in sich gekehrter, mimosenhaft empfindlich und empfindsamer Mensch, und die abweisende Aura zu einem guten Teil ein Abwehrmechanismus.

Doch auch die Verachtung war nicht gespielt. Michelangeli hatte grausam hohe Ansprüche an sich selbst. Es macht einen manchmal frösteln, sich vorzustellen, wie viele Stunden zähen Übens in manche vertrackte Klavierpassage geflossen sein müssen, um sie in dieser Mühelosigkeit präsentieren zu können. Wer streng mit sich selbst ist, ist es auch mit anderen.

Dabei war Perfektion nicht Michelangelis primäres Ideal, auch wenn der Begriff sehr oft mit ihm in Verbindung gebracht wird, sondern Klarheit. Die konstruktiven Formen einer Komposition, die geschichteten Strukturen einer Passage, die geschwungenen Bögen einer Melodie, die eigentümlichen Farbmischungen zweier Akkorde – die essenziellen ästhetische Ingredienzen eines Stückes sichtbar zu machen, daran arbeitete er wie ein besessener Restaurateur alter Kunstwerke.

Es lag daher auch in der Natur seiner spezifischen Begabung, dass er sich auf weniges beschränken musste. Denn wertvolle Kunstwerke werden umso wertvoller je seltener sie sind. Sein Repertoire war schmal und im Laufe der Zeit musterte er mehr Stücke aus als er hinzunahm. Dafür sind umgekehrt viele seiner Aufnahmen exzeptionell. Vor allem jene, die er auch selber sanktioniert hat. Es gibt eine ganze Reihe von Radiomitschnitten, die natürlicherweise nicht ausnahmslos auf der vollen Höhe seines Anspruchs sind, und die er wohl nicht freigegeben hätte, hätte er noch Einfluss darauf gehabt.

Seine Aufnahme von Debussys „Images“ ist für mich die schönste Debussy Aufnahme, die es gibt. Sie spielte auch für mich persönlich eine wichtige Rolle, da sie meine Debussy Begeisterung eigentlich initiiert hat. Auch wenn ich sie heute höre, finde ich immer noch, dass sie ein Glücksfall ist. Michelangeli war auf der Höhe seiner Kunst, und Instrument und Aufnahmetechnik waren auf Augenhöhe seines Klaviespiels. Die folgenden Aufnahmen der „Préludes“, so superb sie sind, erreichen für mich nicht ganz das gleiche Niveau.

Chopin schien eigentlich prädestiniert für Michelangelis Ästhetik, doch die späte Chopin Aufnahme zeigt, wo der riskante Bereich dieser Ästhetik lag (eine Ästhetik ohne Risiko ist eigentlich gar keine). Joachim Kaiser nannte die Aufnahme durchaus treffend einen „Chopin hinter Glas“. Es ist der Fluch der Schneekönigin, eines zerebralen Zugangs zur Schönheit, der vor allem die späten Aufnahmen von Michelangeli bedrohte. Sie drohen ein wenig zu eisig gläsern blutleer zu werden. Bei manche Scarlatti Sonaten wiederum bewährte sich die Kälte ganz wunderbar, sie glitzern unter Michelangelis Händen wie prezios perfekte Schneeflocken.

Dass er von Schumann eher die brillanten und im öffentlichen Raum spielenden Zyklen „Carneval“ und „Faschingsschwank aus Wien“ spielte, doch etwa die intim individualistischen Stücke wie die C-Dur Fantasie und die „Kreisleriana“ außen vor ließ, war eine kluge Wahl, und zeigt, wie bewusst sich Michelangeli auch über die eigenen Grenzen war.

Auch bei Beethoven mied er die passionierten und entfesselten Sonaten und spielte vor allem die klassizistischen wie, sehr häufig, die C-Dur Sonate aus op. 2. Die Aufnahme von Brahms „Paganini Variationen“ ist berühmt, und durchaus verblüffend darin, wie elegant Michelangeli die technischen Vertracktheiten des Stückes meistert. Doch eigentlich ist es eher ein Kuriosum, denn der Gemütsmensch Brahms stand ihm denkbar fern.

Der Komponist, der ihm wiederum wahrscheinlich am nächsten stand, war Maurice Ravel. Im Sinn für klare Formen und scharfe Linien, für aparte Schönheit und raffiniert preziose Details waren sie ein „perfect match“. Seine Einspielung des G-Dur Konzerts ist unübertrefflich. „Gaspard de la nuit“ war eines seiner „pièce de résistence“, das er immer wieder aufs Programm setzte.

In „Gaspard de la nuit“, das märchenhafte Sujets wie die Meerjungfrau Ondine (Undine) oder den Kobold Scarbo behandelt, kam auch das enigmatisch-in-sich-gekehrte Michelangelis besonders zum Vorschein, das er mit einer eisig klaren Schönheit zelebrierte. Dass es davon keine Studioaufnahme gibt, ist wahrscheinlich die bitterste Fehlstelle in seiner Diskographie (es gibt ein paar Radiomitschnitte, von denen jedoch keine aufnahmetechnisch wirklich vollkommen befriedigend ist).

Gleichermaßen berühmt ist seine Aufnahme vom 4. Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow. Es mag manche damals verblüfft haben, dass Michelangeli sich in diese slawisch sentimentalen Bereiche begibt, wenn auch nur dieses einzige Mal. Doch auch in diesem Fall bewies er ein klares Auge. Er demonstrierte eindrücklich, dass der schwitzend emotionale und klebrig sentimentale Rachmaninow ein ästhetisches Missverständnis ist, und erst kühl distanziert präsentiert zu seinem eigentlichen selbst kommt. Für mich ist diese Aufnahme die beste Aufnahme eines Rachmaninow Konzertes, die es gibt.

Als Arturo Benedetti Michelangeli 1995 starb, schien die Zeit ein wenig über ihn hinweggegangen. Er wirkte wie ein alter Aristokrat, der in einem verwunschenen Schloss mit seinen wertvollen Schätzen wohnte. Zum Glück sind einige seiner schönsten Stücke tatsächlich für die Ewigkeit in Aufnahmen gebannt. Wer Muße hat kann sich mit ehrfürchtigem Erstaunen über diese Wunder an Schönheit und Klarheit beugen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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