Die pragmatische Familie

Bonita Avenue Peter Buwaldas Debutroman zeichnet ein beunruhigenes Bild moderner Familienverhältnisse.

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Vielleicht hatte Tolstoi tatsächlich Recht mit seinem Diktum, dass sich glückliche Familien gleichen, unglückliche aber auf unterschiedliche Weise unglücklich sind. Anders wäre wohl nicht zu erklären, warum das Genre vom Zerfall einer Familie durch die Jahrhunderte so unverwüstlich ist.

In Peter Buwaldas Debutroman “Bonita Avenue” geht es um die Familie von Siem Sigerius, der nach einer verunglückten Karriere als Judoka Mathematikprofessor wird und eine erstaunliche Karriere macht, die ihn über die Universität Berkeley, der Leitung eine niederländischen Universität bis ins Bildungsministerium führt.

Er hat einen ziemlich missratenen Sohn aus erster Ehe, Wilbert, der wegen sexueller Belästigung und Mord schon früh völlig auf die schiefe Bahn gerät, und zwei vergleichsweise musterhafte Stieftöchter aus zweiter Ehe, die sich dann doch als nicht so ganz unschuldig erweisen. Klassisches modernes patchwork. Und doch ist selbst diese Konstellation durchaus nicht ohne literarische Parallelen. Man kann an den Bastard Edmund in King Lear denken oder an den missratenen Sohn Dimitri aus den Karamasows.

Der Roman endet mit dem Tod von Siem Sigerius und Wilbert. Manche Rezensenten haben diese Konstellation auf die etwas wohlfeile Formel gebracht, dass hier eine Familienidylle durch eine verdrängte Vergangenheit eingeholt und zerstört wird. Doch so simpel ist der Roman nicht gestrickt.

So ganz heile Welt herrscht eigentlich von Anfang an nicht. Sigerius erste Frau verfällt dem Alkoholismus und selbst seine zweite Ehe leidet unter den typischen Ermüdungserscheinungen, samt einer fast unvermeidlichen Affäre von Sigerius mit einer jungen Studentin.

Wenn der Roman beginnt, hat man zwar das Gefühl einer intakten Familie. Die Tochter Joni kommt mit ihrem Freund Aaron zu Besuch in das schicke holländischen Landhaus nahe der Universität und man scheint eine gute Zeit zusammen zu haben. Sigerius ist als charismatischer Rektor bereits eine nationale Berühmtheit und versteht sich offenbar bestens mit Aaron. Sie trainieren gemeinsam Judo und teilen die Begeisterung für Jazz.

Zwar ist es mit dieser Jazz Begeisterung bei beiden nicht so weit her. Aaron landet einen Glückstreffer als Sigerius eine Platte auflegt, die er zufälligerweise ganz gut kennt, und schafft es mit ein paar Handbüchern in kürzester Zeit in den Ruf eines Kenners aufzusteigen. Sigerius wiederum verwechselt Namen, die ein echter Kenner nie im Leben verwechseln würde.

Diese kleine Episode ist bezeichnend und illustriert auf schöne Weise ein Phänomen unsere Zeit. Der Bluff und die Täuschung sind in der heutigen kompetetiven Gesellschaft zum natürlichen Handwerkszeug geworden. Wer sich dessen nicht bedient, ist schlicht dumm und im wettbewerblichen Nachteil.

Als Sigerius dann herauskommt, dass Aaron mit seiner Stieftochter Joni eine überaus erfolgreiche Porno-website betreibt, ist seine Reaktion dann auch vor allem Verwirrung. Nicht nur, weil er als Konsument dieser website nicht das Recht auf moralische Empörung hätte, sondern, weil seine Tochter im Grunde wie er nur mit cleveren Instinkt eine gute Gelegenheit ergriffen hat.

Denn im Grunde ist Sigerius der klassische moderne Karrierist. Wie es für einen Investmentbanker keine größere Sünde gibt, als eine sich bietende Gelegenheit vorbeiziehen zu lassen, zeichnet auch den Judoka Sigerius vor allem jener Raubtier-Instinkt aus, bei einer Karriereoption beherzt zuzugreifen und jegliche moralische Bedenken zu verdrängen.

Joni ist nicht viel anders. Schamlos schmeißt sie sich bei einer Hochzeitsfeier an einen leitenden McKinsey Mitarbeiter, von dem sie sich eine berufliche Perspektive verspricht. Schließlich landet sie in Kalifornien als erfolgreiche Pornoproduzentin.

Sie wirft Aaron, wie früher Sigerius seine erste Familie, als unnützen Ballast einfach ab. Auch weil ihr klar ist, dass der an Schizophrenie leidende Aaron für ihre größeren Karrierepläne nicht effektiv genug ist. Aaron ist wie Wilbert ein Ausgemusterter, der als suboptimales Menschenmaterial keinen Vorteil mehr bringt.

Als Sigerius Minister wird, sieht Wilbert seine Chance zur Rache gekommen. Doch selbst als Erpresser erweist er sich als untauglich, und als es im Haus Sigerius zu Handgreiflichkeiten kommt, vollenden Sigerius Judokainstinkte, was er insgeheim wohl schon immer gewünscht hatte. Sigerius scheinbarer Selbstmord am Ende bleibt undeutlich, ja ist vielleicht am Ende gar keiner.

Sigerius Familie zerfällt im Grunde deswegen so leicht, weil sie von vorneherein nur unter pragmatischen Vorbehalten bestand. Die Unbestimmtheit, mit der man der Knaben Wilbert behandelte, den man nicht mit nach Berkeley mitnehmen wollte, ihn dann später zurück in Holland doch zeitweilig aufnahm, ist bezeichnend für diesen praktischen Vorbehalt, der aus dem geschäftlichen Bereich auch in die familiären Verhältnisse durchsickert. Die Zeiten, in denen man altgediente Mitarbeiter aus Solidarität nicht feuert, sind endgültig vorbei. Und so muss man sich auch als Familienmitglied gefallen lassen, auf seine aktuelle Brauchbarheit hin validiert zu werden.

Der Roman wurde immer wieder mit denen von Jonathan Franzen verglichen. An diesem Vergleich ist durchaus etwas dran, doch eigentlich weniger im Hinblick auf die familiäre Dynamik als im Hinblick auf die Frage, welchen Preis wir für unsere Liberalität und Freiheit zahlen.

Was “Bonita Avenue” so faszinierend macht, ist, dass Buwalda seine Geschichte mit jener kalten Objektivität erzählt, die sich nicht zu billigem Moralisieren hinreißen lässt. Man ist durchaus fasziniert von Seim Sigerius und Joni, von ihrem Erfolg und dem Eros, der davon ausgeht. Und man ertappt sich selber dabei, sich diesen unangenehmen Wilbert irgendwie weg zu wünschen.

Gleichzeitig beschleicht einen aber eben auch ein Unbehagen vor einer Entmenschlichung, vor eine Desensibilisierung gegenüber der Brutalität einer totalen Freiheit, die immer die Freiheit des stärkeren ist.

Peter Buwalda

Bonita Avenue

Rowohlt

640 Seiten
ISBN 978-3-498-00672-3

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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