Ein feste Burg ist unser Gott

CD-Kritik Bachs Kantate BWV 80 und die kulturgeschichtliche Bedeutung von Martin Luthers Choral

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Vor etwa hundert Jahren, während des ersten Weltkriegs, schrieb Claude Debussy ein dreiteiliges Werk für zwei Klaviere mit dem Titel „En blanc et noir“. Im zweiten der Stücke, dem ein Zitat aus François Villons „Ballade contre les ennemis de la France“ vorangestellt ist, schält sich aus dumpf tumultösen Bassfiguren und Kriegssignalen bedrohlich eine Choralmelodie heraus.

Was es damit auf sich hat, ist nicht schwer zu erraten. Natürlich spielte Debussy mit „In weiß und schwarz“ nicht nur auf die weißen und schwarzen Tasten des Klaviers und die Ästhetik einer linienbetonten Schwarzweiß-Zeichnung an, sondern auch auf die aktuelle Weltlage. Und natürlich ist vollkommen klar, wer die dunkle Macht war, die „Feinde Frankreichs“: es war Deutschland, symbolisiert im Luther Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“.

Tatsächlich sollen während des ersten Weltkriegs deutsche Soldaten diesen Choral auf dem Schlachtfeld angestimmt haben. Für Debussy verband sich damit allerdings auch ein kulturhistorischer Hintergrund, der mit seinem eigenen Künstlertum eng verwoben war. Richard Wagner, der für Debussys künstlerische Entwicklung anfangs eine große Rolle spielte, gegen den er sich dann jedoch immer deutlicher antipodisch ausrichtete, hatte in seinem „Kaisermarsch“ zur Feier des Sieges Deutschlands über Frankreich 1870 motivische Anspielungen auf „Ein feste Burg ist unser Gott“ eingearbeitet.

Dabei konnte Claude Debussy, der 1918 starb, nicht ahnen, dass das Gemetzel von Verdun nur ein Vorspiel war, und der wahre deutsche Fürst der Finsternis, der, wie sollte es auch anders sein, leidenschaftlicher Wagnerianer war, noch auf seinen großen Auftritt wartete. Jetzt, da sich Jubiläen von 500 Jahre Reformation und 100 Jahre erster Weltkrieg kreuzen, mag man sich durchaus Gedanken machen darüber, wie es dazu kam, dass eine Hymne des Widerstands zum Symbol imperialistischer Unterwerfung wurde.

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Die Schwarz-Weiß Zeichnung ist bereits tief im Text des Chorals verankert. Da ist der „alte böse Feind“, da sind die „Teufel“, die uns „verschlingen wollen“. Und auf der anderen Seite steht Gott, der mit uns ist. Natürlich ist der Teufel immer der andere und im Laufe der Jahrhunderte wurde der Choral denn auch immer wieder unter neuen Vorzeichen interpretiert und instrumentalisiert.

Wenn es in der letzten Strophe heißt, man solle „Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib“ dahinfahren lassen für das Reich Gottes, ist auch der religiös-fanatische Terrorismus nicht weit. Wie in jeder Widerstandsbewegung gab es auch im frühen Protestantismus eine terroristische Fraktion. Und wer weiß, vielleicht wird Osama bin Laden in ein paar hundert Jahren zwischen Tunis und Peking als große transformative Figur gefeiert, die den dekadenten kapitalistischen Westen zu Fall brachte. Die Definition des Bösen, „groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist, auf Erd ist nicht seinesgleichen“, lässt sich praktisch auf jede Großmacht anwenden.

Gegen die Korrumpierung durch Macht und Geld war noch nie jemand gefeit. Es scheint das traurige Schicksal jeder ideologischen Bewegung, dass sie vom Hebel der Befreiung zum Knüppel der Unterdrückung wird. Deutschland fühlte sich 1870 noch als „Underdog“ und der Sieg wurde einhellig als Befreiung vom Napoleonischen Imperialismus gefeiert. Der erste Weltkrieg war Deutschlands Übertritt zur dunklen Seite. Thomas Mann wurde sich dieser schlimmen Versuchung in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ am eigenen Leib gewahr. Er distanzierte sich später moralisch von dem Buch, wollte es als Dokument der ideell moralischen Krise weiter für sich stehen lassen.

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Es ist interessant zu beobachten wie sich schon an der Transformation, die Luthers Choral bis zur Zeit Johann Sebastian Bachs durchgemacht hatte, eine Entwicklung ablesen lässt. Luthers originale Version war rhythmisch viel dynamischer, hatte noch etwas vom Elan eines Aufbruchs in sich. In Bachs Zeit, da der Protestantismus sich längst als staatlich sanktionierte Religion etabliert hat, ist die Rhythmik vollkommen eingeebnet. In durchgängigen Vierteln wir ein Modus des Selbstbewusstseins und der Beharrung zelebriert. Gleichzeitig eröffnete diese musikalische Neutralisierung der Kirchenchoräle erst die ästhetischen Möglichkeiten für Bach, dieses Material zur variieren und kombinieren.

Die Datierung von Bachs Kantate „Ein feste Burg ist unser Gott“ BWV 80 ist unklar, auch durchlief die Entstehung offenbar mehrere Stadien. Immerhin ist man sich weitgehend einig, dass die Chorteile (1, 5 und 8) in Leipzig komponiert wurden während die Arien auf Texte von Salomon Franck ursprünglich aus der Weimarer Zeit stammen. Die früheste erhaltene vollständige Abschrift (aus den1740er Jahren) stammt von Bachs Schüler und Schwiegersohn Johann Christoph Altnickol. Sie schreibt eine typische mittlere Besetzung von Oboen, Streichern und Basso Continuo vor.

Eine spätere Handschrift der Nummern 1 und 5 mit lateinischem Text, die auf eine Aufführung von Bachs Sohn Wilhelm Friedemann zurückgeht, enthält zusätzlich Stimmen für Pauken und Trompeten sowie in Nr. 5 drei eigenständig geführte Oboenstimmen (merkwürdiger Weise enthält Nr. 1 in dieser Fassung keine Oboen). Es ist unklar, ob es sich dabei um eine Bearbeitung von Wilhelm Friedemann handelt oder die zusätzlichen Stimmen auf originale, verloren gegangene Quellen zurückgehen. Ähnliche Modifikationen (die vom Personal abhingen, das Bach gerade zur Verfügung stand) sind zu anderen Kantaten auch aus Bachs eigener Hand überliefert.

Die in der Bach Forschung vorherrschende Meinung ist, dass die zusätzlichen Oboenstimmen in Nr. 5 authentisch sind (obwohl sie nicht in Altnickols Handschrift vorkommen) während die Stimmen von Pauken und Trompeten von Wilhelm Friedemann stammen. Ich würde mich nicht festlegen wollen. Die Trompetenstimmen wirken stilistisch authentisch und könnten durchaus original sein, doch vielleicht hat auch Wilhelm Friedemann einfach gute Arbeit geleistet.

Ohne Zweifel ist der Eingangschor das Glanzstück der Kantate. Wie in Bachs Choral-Kantaten die Regel, adaptiert Bach das Prinzip der cantus-firmus-Motette in die instrumentale Kantatenform. Dabei wird das Thema der jeweiligen Choralzeile zunächst in einem fugierten Satz antizipiert bevor es in langen Notenwerten als cantus firmus selbst erscheint. In „Ein feste Burg“ ist der cantus firmus in die Orchesterstimmen verlegt, mit dem zusätzlichen Clou, dass der Bass den cantus firmus des Diskants canonisch imitiert.

Es ist weniger die canonische Setzung der Choralmelodie an sich, die bemerkenswert wäre, das bekäme wohl jeder Kompositionsschüler mit etwas Tüftelei hin. Es ist die Souveränität, mit der Bach diese zusätzliche Komplikation in das bereits für sich komplexe, motivisch und harmonisch reiche motettische Gewebe integriert, die kontrapunktischen und harmonischen Konsequenzen antizipiert und als produktive Bereicherung nutzt.

Der Satz ist voll von musikalischen Sinnigkeiten: allegorisch hintersinnigen Kontrapunkten, chromatischen Figuren (natürlich beim „bösen Feind“), und harmonischen Effekten, etwa wenn Bach kurz vor dem ersten cantus firmus Einsatz subtil vom subdominantischen C zum dominantischen Cis wechselt und damit ein Gefühl von „uplifting“ erzeugt. Doch nichts davon bleibt einzelner Effekt, sondern ist vollkommen in die formale und kontrapunktische Logik des Satzes integriert.

Der Canon ist denn auch nicht nur ein kontrapunktisches Kabinettstück sondern ein musikalisch genialer Einfall. Denn dass Bach sich durch die zusätzliche kontrapunktischen Komplexität des Canons nicht im geringsten aus dem Tritt bringen lässt, vermittelt psychologisch etwas von jener unerschütterlichen Glaubensgewissheit von „Ein feste Burg ist unser Gott“, die einen über Wasser gehen lässt.

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Man glaubt sich heute, was die Bach Interpretation angeht, eigentlich im sicheren Hafen. Nicht nur gibt es von Bachs Kantaten inzwischen Aufnahmen in beachtlicher Zahl, spätestens seit der Bewegung der historisch informierten Aufführungspraxis hat man oft den Eindruck, als sei man sich inzwischen völlig einig darüber, wie es klingen müsse, so sehr ähneln sich neuere Aufnahmen in ihrer klanglichen Ästhetik.

Doch schaut man etwas näher hin, tun sich doch Unterschiede und Problemstellungen auf, die sich auch als immer kritischer entpuppen, je länger und genauer man hinhört. So erweisen sich im Eingangschor von „Ein feste Burg“ weniger die Trompeten als instrumentaltechnisches Problem (die Aufnahmen mit und ohne Trompeten halten sich ungefähr die Waage) als vielmehr die cantus firmus Bassstimme.

Bach schreibt für den Bass Violone (Kontrabass) und Orgel (in Leipzig bedeutet das immer eine der Kirchenorgeln) vor, gibt aber keine Registervorgaben für die Orgel. Tatsächlich zeigt sich, dass es essentiell ist, dass die beiden canonisch geführten Stimmen, die sich an einigen Stellen auch synkopisch ineinander verhaken, als gleichwertig wahrgenommen werden. So verstärken denn auch John Eliot Gardiner (auf dem Label Soli Deo Gloria) und Ton Koopman (Challenge), die beide die Fassung ohne Trompeten eingespielt haben, den Bass mit einer Posaune bzw. einem kräftigen 16 Fuß Register der Orgel.

Das andere entscheidende Kriterium ist, dass der Satz ein gewisses Maß an kinetischer Energie entwickeln muss. Dabei ist weder das absolute Tempo noch die Instrumentierung entscheidend als vielmehr die Fähigkeit durch Artikulation ein rhythmisches Momentum zu erzeugen. Pieter Jan Leusink (Brillant) etwa gelingt das auch ohne Trompeten und mit Knabenstimmen ganz gut (allerdings hat er leider das Bassproblem nicht adressiert) während Graham Ross (Harmonia mundi) das selbst mit Trompeten, kräftigen Frauenstimmen und einem scharfen Tempo nicht recht hinbekommt, da alles rhythmisch zu verwaschen bleibt. Auch Nikolaus Harnoncourt (Warner) stellt sich durch eine Neigung zur textlichen Überartikulation selbst ein Bein, da so das Tempo nie recht in Fluss kommen kann.

Christoph Spering hat auf einer instruktiven CD (dhm), die alles überlieferte Material der Kantate enthält, beide Fassungen gegenübergestellt. Eigentlich sollte es ein Plädoyer für die Altnickol Fassung ohne Trompeten sein, gegenüber der Wilhelm Friedemann Fassung, die er für eine nationalistische Korrumpierung und effekthascherische Trivialisierung hält. Doch am Ende wirkt seine Version mit Trompeten, in der er auch den Bass mit einem Kontrafagott verstärkt, viel überzeugender, nicht zuletzt weil er in der originalen Fassung im Wunsch, dessen „Innerlichkeit“ herauszuarbeiten, ein zu behutsames Tempo wählt.

Gewiss entwickeln vor allem die neueren Aufnahmen von Philippe Herreweghe (mit Trompeten, bei Harmonia Mundi), John Eliot Gardiner, Ton Koopman und Christoph Spering mit hochprofessionellen Chören und Orchestern den nötigen Drive und sind auch technisch von höchster Güte. Doch erweist sich die lockere Mühelosigkeit, die, als die Alte Musik Bewegung ihren Siegeszug antrat, sensationell und erfrischend wirkte, doch auch als Grenze.

Die alte Aufnahme von Karl Richter (Archiv) mit Laienchor und einem Orchester, das technisch und stilistisch weit von den heutigen Standards entfernt ist, mag für heutige Ohren patinös und unausgeglichen klingen. Doch bietet sie auch etwas, das allen neueren Aufnahmen abgeht. Sie hat eine innere Energie, Herz und etwas von einem kommunitarischen bürgerlichen Idealismus, der sich im Zuge der Professionalisierung und Individualisierung weitgehend aufgelöst hat. Vielleicht muss man das Wirken des Teufels noch selbst erlebt haben, um mit vollem Herzen dagegen anzusingen.

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Man kann wohl davon ausgehen, dass Bach und Salomon Franck sich am Weimarer Hof regelmäßig begegneten. Franck war als Beamter dort tätig in der Zeit als Bach als Hoforganist angestellt war (von 1708 bis 1717). Doch wie Bachs Verhältnis zum deutlich älteren Franck war, und ob er seine Texte aus eigener Initiative vertonte oder weil er damit beauftragt wurde, ist unbekannt. Dass Franck (1659 geboren) durch die Bewegung des Pietismus geprägt worden war, steht außer Frage auch wenn er sich in jenen späteren Jahren der von Erdmann Neumeister initiierten, die Opernformen von Rezitativ und Arie aufgreifenden, moderneren ästhetischen Ausrichtung anschloss, die sich im Fahrtwind der allmählich aufziehenden Aufklärung wieder vom Pietismus lösen wollte.

Der Pietismus war gewissermaßen eine Reformation der Reformation. War es um der ideologischen Reinigung willen notwendig gewesen, die christliche Lehre von der subjektivistischen Patina, die sich unter anderem in der Heiligenverehrung manifestierte, zu befreien, entwickelte sich danach allmählich ein stille Sehnsucht nach eben jener subjektiv Qualität des religiösen Gefühls. Was die katholischen Marien- und Heiligenverehrung an sentimentalen Identifikationsangeboten bot wird im pietistischen Barock über den Umweg der Allegorisierung in den Protestantismus zur Hintertür wieder hineingeschmuggelt.

Dabei spielt der sublimierte Eros eine zentrale Rolle. Die emotionale Erfüllung durch Religion wird ganz wesentlich aus der Bewältigung und Sublimierung von sexuellen Energien gespeist. Salomon Francks Text der mittleren Sopranarie Nr. 4 aus „Ein feste Burg ist unser Gott“ ist dafür ein klassisches Beispiel: „Komm in mein Herzenshaus, Herr Jesu, mein Verlangen! Treib Welt und Satan aus, und laß dein Bild in mir erneuert prangen! Weg, schnöder Sündengraus!“

Völlig unmissverständlich wird das „Vieni, mio tesoro“ der Verführerinnen aus den aktuellen italienischen Opern, die Aufforderung zur intimen Vereinigung, allegorisch adaptiert und in einer Mischung aus Exorzierung und Sublimierung in religiöse Ekstase transformiert. Selbst der Erotomane Richard Wagner konnte diesem Gefühl der heroischen Entsagung in seinem Tannhäuser und Parsifal noch einiges abgewinnen.

Das wäre darstellerisch durchaus eine Herausforderung, doch ist es angesichts des heutigen Ideals des Oratoriengesangs, einer geschmackvoll statuarischen Neutralität, völlig vergeblich auf Erfüllung zu hoffen.

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Claude Debussy kannte „Ein feste Burg ist unser Gott“ auch aus einem anderen musikalischen Kontext, nämlich aus der meistgespielten Oper des 19. Jahrhunderts: Giacomo Meyerbeers „Les Huguenots“ (1836), der französischen Oper eines deutschen Juden, die den Choral als Signatur für die französischen Protestanten, eben jene Hugenotten verwendet. Kurz zuvor hatte auch Felix Mendelssohn Bartholdy, ein zum protestantischen Glauben konvertierter Jude, den Choral in seine Reformationssinfonie, zum 300. Jubiläum der Confessio Augustana 1830 komponiert, einbezogen.

Meyerbeers Oper schildert eine fiktive Romeo und Julia Geschichte im historischen Kontext der Bartholomäus Nacht (1572), als die Hugenotten in Paris in einer Pogromnacht in großer Zahl ermordet wurden. Es ist ziemlich offensichtlich, dass Meyerbeer und sein Librettist Eugène Scribe, wenige Jahre nach der Juli Revolution von 1830, im Konflikt von Katholiken und Protestanten den aktuellen Konflikt von Adel und Bürgertum implizierten. Der junge Hugenotte Raoul ist ein Emporkömmling, der Valentine, die Tochter eines adeligen Katholiken, liebt. Wie Julia brennt Valentine durch und konvertiert zum Protestantismus, das Liebespaar stirbt gemeinsam, den Luther Choral auf den Lippen, einen Opfertod unter dem Schwert der Katholiken.

Unverkennbar identifizierte sich die bürgerliche Aufklärung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts stark mit dem Protestantismus als Bewegung einer moralischen Reinigung und pragmatischen Neuausrichtung. Reform war das Schlagwort der Stunde, als vernunftgeleitete Alternative zur gewaltsamen Revolution. Felix Mendelssohns Großvater Moses Mendelssohn war eine der zentralen Figuren der deutschen Aufklärung und die Konversion der Familie war im Lichte dessen ein fast logischer Schritt.

Gleichzeitig entsprang sie dem Wunsch nach Assimilation, da mit dem Aufkeimen des Nationalbewusstseins Minderheiten wie das Judentum wieder unter Druck gerieten. Auch in Meyerbeers Oper schwingt latent eine jüdische Identifikation mit dem frühen Protestantismus als einer Minderheiten- und Außenseiter Gruppierung mit, die selbst bereits viele Male Opfer von Pogromen geworden war.

Es liegt eine merkwürdige historische Kontinuität darin, dass Richard Wagner, 1848 als Revolutionär und Anarchist auf den Barrikaden, in seinem Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ eben jene zwei Komponisten angriff. Im Antisemitismus Wagners vermischten sich auf merkwürdige Weise Neid-Komplexe mit antiaufklärerischen Impulsen und antifranzösischen Ressentiments. Dass „Ein feste Burg ist unser Gott“ so mühelos wieder die Seiten wechseln konnte, lag nicht nur an seiner kriegerischen Rhetorik, sondern auch am Antisemitismus Luthers, der, auch wenn er in einem anderen historischen Kontext stand, im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts auf fruchtbaren Boden fiel.

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Die 5. Nummer von Bachs Kantate „Und wenn die Welt voll Teufel wär“ zielt eben auf jene kriegerische Rhetorik. Das Stück zählt musikalisch zur Sorte militärischer Aufputschstücke im 6/8 Takt, die auch Händel häufig in seinen Opern und Oratorien verwendet (wie „Sound an alarm“ aus „Judas Maccabäus“). Bach kehrt hier das Prinzip des Eingangschores um, der Chor übernimmt jetzt den cantus firmus über einem Concerto-mäßig geführten Instrumentalsatz. Ausnahmslos alle Aufnahmen bleiben hier zu behäbig und erfassen die rhythmisch intrikaten, präzipitatorischen Elemente daran nicht. Doch vielleicht sollte man sich nicht zu sehr darüber grämen, dass dieser Modus in unseren pazifistischen Zeiten unverwirklicht bleibt.

Auch die Bass Arie Nr. 2 „Alles, was von Gott geboren, ist zum Siegen auserkoren“, in der die zweite Strophe von „Ein feste Burg ist unser Gott“ von Solo-Sopran und Oboe als cantus firmus gegeben wird, hat eine kämpferische Note. Allerdings ist hier eher die Gefahr, dass das Tempo zu schnell gerät und die angedeuteten fanfarenartigen 32tel Figuren der Oboe (die in Barockarien häufig als leiseres und flexibleres Trompetensubstitut fungiert) nicht mehr herauskommen. Selbst Dietrich Fischer-Dieskau (bei Karl Richter) wirkt gehetzt. Herrewhege und Spering (in der Einspielung nach Altnickol) treffen das Tempo noch am ehesten.

Schon in der originalen Weimarer Kantate war in den drei Arien die Idee angelegt, dass Thymos der Bass Arie (Nr. 2) und Eros der Sopran Arie (Nr. 4) im Duett „Wie selig sind doch, die Gott im Mund tragen“ (Nr. 7) zur Synthese kommen. Bach bildet diese Synthese mehrfach ab: in der Verschränkung der beiden mittleren Stimmlagen Alt und Tenor, in der Kombination von Solo Violine und Oboe, und in der musikalischen Faktur. Der erste Teil, der sich auch textlich auf das „Herz“ der Sopranarie bezieht, ist im Sarabanden Modus mit Vorhalten und melismatischen Auszierungen, der dann bei „es bleibet unbesiegt“ (in Bezug zur Bassarie) in einen harmonisch geradlinigen Polonaisen Modus wechselt.

Interpretatorisch ist das Duett unproblematisch und in vielen Aufnahmen kommt das Stück schön heraus. Während neuere Aufnahmen geschmeidiger klingen, bringen herausragende Sängerinnen wie Janet Baker (bei Wolfgang Gönnenwein, auf Warner) oder Trudeliese Schmitt (bei Karl Richter) ein tröstliches Element der Erdung in das Stück.

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Als Thomas Mann während des zweiten Weltkriegs seinen „Doktor Faustus“ schrieb, verortete er nahezu selbstverständlich den Beginn der Deutschen Kultur- und Verhängnisgeschichte eben in der Zeit Martin Luthers, was nicht zuletzt deswegen nahe lag, da der historische Doktor Faust in der Tat ein Zeitgenosse Luthers war.

Er sah in Martin Luther und Doktor Faust zwei mächtige Elemente, die die deutsche Geschichte nachhaltig geprägt haben. Den Moralismus und Lebensernst Luthers, der die Saat legte für den Deutschen Idealismus. Und den Forscherdrang des Doktor Faust, der nach den innersten und ursprünglichsten Ursachen der Dinge forscht. Man kann in Johann Sebastian Bach, dessen Arbeitsethos immens war und der die musikalische Wissenschaft mit dem Ehrgeiz eines unermüdlichen Forschers und Experimentators betrieb, eine der erstaunlichsten Emanationen dieser Kulturelemente sehen.

Thomas Mann erkannte jedoch auch, dass der Kombination dieser Elemente eine gefährliche Dynamik innewohnt, sich die totalitären Prinzipien beider Elemente gegenseitig verstärken und eine verhängnisvolle Unwucht entwickeln. In einem der zentralen theologischen Auseinandersetzungen des Buches wird über die dialektische Bedingtheit von Gott und Teufel philosophiert, dass es den einen nicht ohne den anderen geben kann, und dass je mächtiger der eine desto mächtiger auch der andere. Tatsächlich hatte Goethe, der gewissermaßen den Dreh- und Angelpunkt der Deutschen Kulturgeschichte markiert, in seinem Faust bereits ein volles Bewusstsein davon, dass da, wo der Mensch nach Höherem strebt, der Teufel immer anwesend ist. Die schreckliche Konsequenz daraus ist, dass der Teufel aus einem Prinzip kosmischer Entropie auch irgendwann zum Zuge kommen muss. Und so kam es denn, dass aus dem strahlenden D-Dur, in dem „Ein feste Burg ist unser Gott“ als cantus firmus bei Bach daher kommt, ein dräuend dunkles Es-Dur des Unheils wurde.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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