Hölderlin und Beethoven

Jubiläum Sie verkörpern den künstlerischen Gipfel- und Scheitelpunkt des Deutschen Idealismus. Eine kulturhistorische Erkundung zum 250. Geburtstag

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Ludwig van Beethoven und Friedrich Hölderlin
Ludwig van Beethoven und Friedrich Hölderlin

Bilder: Henry Guttmann Collection/Hulton Archive/Getty Images (links) | Franz Karl Hiemer/Wikimedia (Public domain)

Wer, oder besser, was ist Diotima? Jene Figur, die der Fixstern nicht nur von Hölderlins einzigem Roman „Hyperion“, sondern im Grunde seines ganzen Werkes ist. Die rein biographische Auflösung, dass es sich dabei um Susette Gontard handelt, die Frankfurter Bankiersgattin, in deren Familie Hölderlin einige Zeit als Hauslehrer angestellt war und mit der ihn ein schwärmerisches Verhältnis verband, trägt relativ wenig dazu bei, zu verstehen, was hinter dieser geheimnisvollen Figur steckt.

Gerade Leser unserer Tage dürften sich mit den Diotima Passagen des „Hyperion“ eher schwer tun. Während die Teile, die von Hyperions jugendlichem Freund Alabanda handeln - mit dem Hyperion durch die wilde Natur tollt und eng umschlungen im Gras liegt, mit dem er Zukunftspläne schmiedet, sich leidenschaftlich streitet und wieder versöhnt - ohne weiteres auch in einem modernen coming-of-age Film denkbar wären, dürfte die „himmlische“ und „göttliche“ Diotima, die wie eine lebende Statue mit Hyperion wie durch einen undeutlichen Tagtraum wandelt, auf viele eher befremdlich wirken.

Im historischen Abstand und hinter der Biegung eines großen kulturellen Paradigmenwechsels fällt es uns nicht ganz leicht, zu verstehen, wovon Hyperion und Diotima so ergriffen sind. Dabei hat Hölderlin den Namen „Diotima“ durchaus bewusst gewählt. Sie ist die Figur in Platons „Symposion“, in deren Namen das Konzept diskutiert wird, das man als „platonische Liebe“ bezeichnet. Doch während unsere Zeit in der „platonischen“ Liebe eher eine reduzierte Version der Liebe sieht, ist das ursprüngliche platonische Konzept eigentlich umgekehrt gemeint: als eine Liebe, die durch die Eliminierung und Sublimierung des Sexuellen vielmehr in eine höhere, mächtigere und stabilere Form der Liebe transformiert wird. Und so versteht auch Hölderlin seine Liebe zu Diotima.

Das sexuelle Element von Eros wird dabei hin zum idealistischen und narzisstischen Pol verschoben. Das Gefühl von Erwählung, von Schicksalsbestimmtheit, spielt denn auch in den Diotima Passagen eine zentrale Rolle. Und insofern ist Diotima auch weniger eine Figur aus Fleisch und Blut als vielmehr Ausdruck dieser Idee von Schicksal, die das zentrale innere Feuer ist, das Hölderlins Existenz bestimmte und stabilisierte. Mit Diotima zusammen zu sein, war für ihn Symbol dafür, ganz in Einklang mit seinem höheren Schicksal zu sein.

„Diotima! seelig Wesen!

Herrliche, durch die mein Geist,

Von des Lebens Angst genesen,

Götterjugend sich verheißt!“

Hölderlin war ein schwärmerischer und fragiler Charakter, der sich unsicher war über fast alles in seinem Leben: über seinen Glauben, seine Philosophie, seine Sexualität, seinen Beruf, seinen Platz in der Welt. Wie ein dräuendes Leitmotiv zieht sich der Schauer vor der „Kälte des Lebens“ durch sein Werk und seine Briefe, jenes Funktionierens in der Realität des prosaischen Daseins. Nur im Dichten, für das er schon früh außerordentliches Talent zeigte, fand er einen Halt und einen Hort für sein empfindsames Ich.

„Denn Diotima lebt, wie die zarten Blüthen im Winter,

Reich an eigenem Geist sucht sie die Sonne doch auch.

Aber die Sonne des Geists, die schönere Welt ist hinunter

Und in frostiger Nacht zanken Orkane sich nur.“

Äußerlich betrachtet war Hölderlins Laufbahn eine Serie des Scheiterns. Nahezu alle seine Anstellungen als Hauslehrer (bzw. „Hofmeister“, wie man es nach feudalistischem Sprachgebrauch nannte) endeten im Eklat. Weder sein Roman „Hyperion“ noch sein Dramenprojekt „Der Tod des Empedokles“, die versuchten an erfolgreiche aktuelle Vorbilder anzuknüpfen, trugen nennenswerte Früchte. Auch sein Zeitschriftenprojekt scheiterte kläglich.

In Diotima fließen auch all jene Sehnsüchte von Akzeptanz und Anerkennung ein, die ihm das reale Leben vorenthielt. Hölderlins Vater war früh verstorben, der Stiefvater nur wenige Jahre später, als Hölderlin neun Jahre war. Seine Mutter, eine protestantische Pfarrerstochter aus renommiertem bürgerlichen Hause, wollte unbedingt, dass ihr Sohn Pfarrer wird, und ließ ihn ihre Enttäuschung, als sich abzeichnete, dass Hölderlin das keinesfalls wollte, deutlich spüren.

Friedrich Schiller war wiederum für Hölderlin eine erwählte Vaterfigur, die er tief verehrte, und an die er sich immer wieder um Rat und Hilfe wandte. Dass Schiller seine Zuneigung nicht in gleichem Maße erwiderte, was oft weniger an Schillers Unwillen lag sondern einfach daran, dass der bereits Schwerkranke seine schwindenden Kräfte hart rationalisieren musste, kränkte Hölderlin tief und trug nicht unwesentlich zu seinem wachsenden Gefühl der Verlorenheit bei. Diotima ist auch eine Mutterfigur in ihrer bedingungslosen Akzeptanz auch im Scheitern, und eine Vaterfigur in ihren ermunternden Ratschlägen und Anfeuerungen.

Vom individuellen auf den gesellschaftlichen Kosmos übertragen kristallisierten sich in der Idee von Diotima auch die Ideale der noch jungen bürgerlichen Kultur. Hölderlin war 1789 mit 19 Jahren genau im richtigen Alter, um die großen zeitgeschichtlichen Umwälzungen als verwoben mit seinem eigenen Schicksal zu empfinden. Dass er eben zu dieser Zeit im Tübinger Stift ein Zimmer mit Schelling und Hegel teilte, kann man einerseits für einen kuriosen historischen Zufall halten, oder eben umgekehrt für eine schicksalhafte Konstellation, bei der in den lebhaften Diskussionen über Immanuel Kant, Friedrich Schiller und die aktuellen Ereignisse in einer Studentenstube das Feuer des Deutschen Idealismus zum Lodern gebracht wurde.

Diotimas Tod in der letzten Fassung des „Hyperion“ etwa 15 Jahre später antizipiert nicht nur Hölderlins eigenen Zusammenbruch, als die idealistischen Wälle von Hölderlins Imaginationskraft unter der Last der grausamen Wirklichkeit barsten. In einem kulturmythologischen Sinn antizipierte Hölderlin auch den Zusammenbruch des Deutschen Idealismus, der sich 150 Jahre später in der Deutschen Katastrophe des 20. Jahrhunderts vollzog.

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Auch Beethoven hatte seine Diotima. Naheliegender Weise mag man zunächst an jene unbekannte „unsterbliche Geliebte“ denken, an die drei kurze Briefe bei einem Kuraufenthalt in Treplitz vom 6. und 7. Juli 1812 gerichtet sind. Aus der Anrede „Mein Engel, mein alles, mein Ich“ und dem Schluss „ewig dein, ewig mein, ewig unß“ spricht ein ähnlicher zeittypisch-schwärmerischer idealistischer Absolutheitsanspruch wie bei Hölderlin.

Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. Das hohe Pathos weicht immer wieder prosaischen Bemerkungen, etwa über seine beschwerliche Reise, und verschwörerischem Getuschel über ein mögliches Stelldichein in seiner Wohnung. Was vermuten lässt, dass es dabei menschlicher zuging als in der hehren Götterwelt Hölderlins. Auch dass sich von diesem Liebesverhältnis jede Spur verliert, deutet eher darauf hin, dass es mit der Ewigkeit nicht so weit her war.

Das deckt sich auch mit der Bemerkung des Komponisten und Pianisten Ferdinand Ries, zeitweise Schüler und quasi-Sekretär Beethovens, der in seinen Erinnerungen erzählt, dass Beethoven eigentlich permanent Frauengeschichten hatte, die jedoch nie lange andauerten. Er berichtet sogar von einem aus heutiger Sicht bedenklichen Fall, als eine Verehrerin Beethoven in seiner Wohnung besuchte, und dann empört die Wohnung verließ, als Beethoven offenbar zudringlich geworden war.

Nur wenige Tage nach seinen Treplitzer Briefen an die Geliebte, am 19. Juli 1812, traf Beethoven dort auch mit Goethe zusammen. Von dieser Begegnung rührt nicht nur die berühmte Anekdote vom Spaziergang mit Beethoven, der, als man der Kaiserin von Österreich mit ihrer Entourage begegnete, stur durch die Mitte der Straße weiterlief, während Goethe artig Platz machte und den Hut zog. Der exzeptionelle Menschenkenner Goethe formulierte danach auch die wahrscheinlich treffendste Bemerkung über Beethovens Persönlichkeit: „Zusammengefasster, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen.“

Es ist nicht zu leugnen, Beethoven war ein überlebensgroßer Mensch, mit einer titanischen Willenskraft und einem monumentalem Selbstbewusstsein. Doch auch mit einer brutalen Rigorosität, mit der nicht zu spaßen war, und unter der fragilere Naturen wie sein Neffe Karl, den Beethoven gewaltsam unter seine Fittiche genommen hatte, zerbrachen. Jemand, der wahrscheinlich den Jubilaren zum 250. Geburtstag ihr albernes „Bthvn“ wütend um die Ohren schleudern und zornig die Verkaufstische umstoßen würde, auf dem die Kulturindustrie jene Werke, die er sich über ein ganzen Leben hinweg abgerungen hatte, als läppische Duzendware verschachern.

Beethoven war nicht minder von der Welle des Deutschen Idealismus ergriffen wie Hölderlin, las ebenso begeistert (wenn auch wahrscheinlich nicht so gründlich wie Hölderlin) Schiller und Kant. Doch charakterlich war er das schiere Gegenteil von ihm. Während Hölderlin als Hyperion (dem Titanen des Lichts) der Menschheit die warme und versöhnende Sonne der Schönheit und pantheistisch göttlichen Ordnung schenken wollte, wollte Beethoven als inspirierender Feuerbringer Prometheus eine neue Welt jenseits des alten Olymp nach neueren und besseren Idealen errichten.

Als mythische Verkörperung war wohl eher Napoleon Bonaparte (wie Susette Gontard 1769 geboren) Beethovens Diotima. Jenes Ebenbild des heroischen Weltveränderers, in dem sich Beethoven wiedererkannte und dem er sein erstes wirklich bahnbrechendes Werk, die dritte Sinfonie (1803), „Eroica“ genannt, widmete. Doch auch Beethovens idealistische Projektion zerbrach, als Napoleon sich zum Kaiser krönte, und damit in jenen Olymp zurückkehrte, den Beethoven hinter sich lassen wollte.

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Es gab auch Begegnung zwischen Hölderlin und Goethe. Erstmals in Jena in einer Gesellschaft, wo Hölderlin ihn, den bereits weltberühmten, angeblich nicht erkannte. Nach einem späteren Besuch Hölderlins bei Goethe im August 1797, schreibt dieser über Hölderlin an Schiller: „Gestern ist auch Hölterlein bei mir gewesen, er sieht etwas gedrückt und kränklich aus, aber er ist wirklich liebenswürdig und mit Bescheidenheit, ja mit Ängstlichkeit offen.“

Besonders die letzte Beobachtung ist nicht minder treffend wie die Beschreibung Beethovens. Hölderlin war in der Tat auf eine fast bedenkliche Weise offen und ängstlich. Ihm mangelte nahezu völlig jene Robustheit und Lebenstüchtigkeit, sich die unvermeidlichen Härten des täglichen Lebens vom Leibe zu halten. So sehr er sich zu Schiller hingezogen fühlte, vor Goethe hielt Hölderlin ängstlich Abstand, dem kraftvollen und skrupellosen Pragmatiker und alles hinterfragenden und durchleuchtenden kritischen Geist, vor dessen mephistophelisch grausam durchdringenden Blick er sich fürchtete wie eine zarte Blume vor dem kalten Wind.

Doch war seine mimosenhafte Empfindlichkeit und Hypersensibilität auch die Grundlage für sein außergewöhnliches dichterisches Talent. Er gewann der Deutschen Sprache eine Feinheit, Nervosität und Musikalität ab, die völlig einzigartig ist, und gegenüber der selbst die Dichtung Schillers oft grobmaschig wirkt. Insbesondere die Dichtungen seiner Reifezeit, von 1797 bis 1806, als er sich von seinen Vorbildern Schiller und Klopstock emanzipiert und auch weitgehend vom Reim gelöst hatte, sind rare Zeugnissen eines Künstlertums im freien Flug.

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Was beide, Hölderlin und Beethoven, in die Welt brachten, ist die Vorstellung vom Künstler als einer Heilsfigur, etwas, das die Deutsche bürgerliche Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat. Waren Haydn und Mozart, ebenso wie Goethe und Schiller, im Grunde noch damit zufrieden, als Künstler anerkannt und ernst genommen zu werden, ohne die alte Ordnung grundsätzlich in Frage zu stellen, treten Beethoven und Hölderlin mit einem neuen Selbstverständnis in die Welt.

Der utopische Moment eines Neuanfangs, einer neuen Ordnung und eines neuen Denkens und Fühlens, der sich durch die Französische Revolution auch in Deutschland am historischen Horizont abzeichnete, hat sich tief in ihr künstlerisches Selbstverständnis eingebrannt. Was Hölderlin dichtete und Beethoven komponierte, sollte nicht mehr nur Auftrag, Erfüllung oder Huldigung für jemand anderen sein. Es ist zuallererst Selbstfeier. Jedoch nicht in einem hedonistisch selbstbezogenen Sinn, sondern in einem exemplarisch identifikatorischen und enthusiastisch inspirierenden. Wenn Hölderlin und Beethoven „Ich“ sagen, meinen sie an den emphatischen Stellen gleichzeitig die gesamte Menschheit.

„Heilige Gefäße sind die Dichter,

Worinn des Lebens Wein, der Geist

Der Helden sich aufbewahrt“

Kunst wird zum Mittel der Sinnstiftung, und dass die Idee des Helden und des Heroischen für beide eine so zentrale Rolle spielt, hat eben damit zu tun. Der Held ist der „neue Mensch“, der aus eigener Kraft im Stande ist, sich selbst Sinn zu verleihen und im Einklang mit der selbstgewählten Bestimmung zu leben. Nicht mehr Untertan und Diener in der alten feudalistische Ordnung des Gottesgnadentums zu sein, sondern autonomes Geschöpf, inspiriert vom Licht und Feuer, das Hyperion und Prometheus den Menschen gebracht haben.

Warum Hölderlin so begeistert von der antiken Mythologie Griechenlands war, lag nicht zuletzt daran, dass diese das ideale Modell lieferte für diese Art der Sinnstiftung. Sich mit einem Gott, und damit mit dessen idealtypischen Konnotationen, zu identifizieren war der Weg, seinen Platz in der Welt zu finden und seinem Dasein Sinn zu verleihen. „Götternacht“ war in Hölderlins Terminologie die Chiffre für eine sinnlose Welt und ein passives Leben, und „Götterjugend“ eben jener Moment der Epiphanie, in dem sich dem Individuum das eigene Schicksal, die eigene Bestimmung offenbart.

Bei Beethoven kulminiert dieses neuschöpferische Element erstmals mit voller Kraft in der „Eroica“, die nicht umsonst gewissermaßen programmatisch Elemente seiner früheren Prometheus Ballettmusik aufnahm. Und es ist konsequenter Weise zuallererst Beethoven selbst, der als Held der Eroica seinen Auftritt hat. In manchen Aspekten ist diese Sinfonie noch Haydns Sinfonien Nr. 99 und 103 und Mozarts Sinfonie KV 543 in derselben Tonart nachgebildet. Im ersten Satz verzichtet Beethoven jedoch im Unterschied zu den Vorbildern auf die zeremonielle langsame Einleitung und wirft sich stattdessen mit zwei Ausrufezeichen sofort mitten ins Geschehen. Mit diesem demonstrativen Auftritt ebenso wie mit dem pathetischen Trauermarsch des zweiten Satzes tritt Beethoven unmissverständlich aus den Kulissen des untertänigen Lakaientums heraus und als selbstbewusster Künstler und inspirierende Identifikationsfigur auf die Weltbühne.

Wie sehr sich das 19. Jahrhundert von dieser Vorstellung vom Künstler als Heilsbringer überzeugen ließ, zeigt sich exemplarisch daran, dass man das eigentlich blasphemische Mottos der „Missa solemnis“ (1823), „Von Herzen – Möge es wieder – zu Herzen gehen“, als völlig selbstverständlich aufnahm. Denn Beethoven hatte in das noch bei Bach übliche Motto „Soli deo gloria“ („Einzig zur Ehre Gottes“) nicht nur die Menschheit als Empfänger eingesetzt, er hatte auch sich selbst an die Stelle des Spenders gesetzt, aus dessen prometheisch entflammten Herzen das Feuer des Heils fließt.

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Hölderlins Kunst ist eigentlich nicht vermittelbar. Ihr epiphanistischer Charakter erlaubt nur das Drinnen oder Draußen. Entweder offenbart sich einem Hölderlins Vorstellungswelt, und man wird ergriffen vom Kathedralen-haften kosmischem Echo seines ins göttliche idealisierten Weltgefühls und euphorisch weltumarmenden Pathos. Oder man blickt unverständig von außen auf die dann überspannt und kryptisch wirkenden Verse.

Das größte Missverständnis gegenüber Hölderlin ist wahrscheinlich, ihn aus einer romantischen Perspektive zu betrachten. Gerade das, was man an den romantischen Dichtern liebt, idyllische lokale Atmosphäre, Naturpoesie, wärmendes Sentiment, Melancholie, Humor und Ironie, wird man bei Hölderlin nur sehr sporadisch finden. Hölderlin ist noch vollkommen „klassisch“, nicht nur weil er sich zum Teil elaborierter alter Versformen bedient, sondern auch weil sich seine Dichtungen in einem Gedankenraum und nicht in einem Stimmungsraum abspielen. Entsprechend ist Hölderlins Perspektive auch keine realistische sondern eine allegorische. Der „Hyperion“ kommt weniger von Rousseaus „Julie“ oder Goethes „Werther“ als von Fénelons „Les Aventures de Télémaque“.

Am klarsten lässt sich das wahrscheinlich an der topographischen Komponente ablesen. Der „Hyperion“ spielt nominell im zeitgenössischen griechischen Befreiungskampf gegen die Türken 1770. Doch schon die anachronistischen antiken griechischen Namen machen klar, dass dieses Griechenland ein allegorischer Raum ist, in dem sich ebenso die aktuellen französischen Revolutionskämpfe sowie der schwäbische autobiographische Lebens-Kosmos seines Autors spiegeln. Nicht nur hinter Diotima, auch hinter Alabanda und Bellarmin (dem väterlichen Freund, an den die meisten Briefe adressiert sind) lassen sich unschwer ein oder mehrere reale Vorbilder ausmachen.

Es geht also weniger um einen sinnlich realistischen Nachvollzug der Wirklichkeit sondern um eine idealisierte Abstraktion derselben. Allen Handlungen und Ereignissen ist eine symbolische, über sich hinaus weisende Komponente beigemischt. Dafür hat unsere Epoche kaum ein Sensorium. Was nicht kulinarisch oder erotisch bzw. emotional oder empörend unseren Bauch oder Unterleib anspricht, zählt in der heutigen hedonistischen Populärkultur nichts. Das Hochgefühl des Idealismus, eine erwartungsvolle Erregung des Herzens und eine vom Intellekt induzierte Ergriffenheit von Harmonie und Schönheit, hat aktuell keine Konjunktur.

Hoffnung ist vielleicht der exemplarische Ausdruck dieses Weltgefühls. Nicht nur Beethoven hat mit seiner einzigen Oper „Fidelio“ diesem Topos ein Denkmal gesetzt, auch Hölderlin hat mit seinem berühmten, und gerne zitierten Diktum „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ das mächtig inspirierende und emphatisch tröstende dieser Empfindung exemplarisch zum Ausdruck gebracht.

Auch wenn Hölderlin sowohl die Philosophie als auch die Religion in ihren konkreten institutionalisierten Formen verwirft – im Hyperion spottet er immer wieder über die „Denker“ und „Pfarrer“ – dem Wesen nach ist Hölderlins Dichtung tief philosophisch und religiös. Eben im platonischen Gedanken, dass hinter der chaotischen Wirklichkeit irgendwo ein darauf bezogener sinnvoller höherer Horizont existiert, und im Glauben an eine Prädestination, eine Bestimmung des Lebens.

Der Knaben- oder Mädchenhaften Zustand ist für Hölderlin der Ideale (auch Diotima spricht Hyperion fast immer als „Mädchen“ an). Wenn man unbewusst und unschuldig, und dadurch unverbildet und mit natürlicher Anmut durch die Welt geht. Das Erwachsenwerden ist wie eine Korruption, eine Vertreibung aus dem Paradies und Hölderlins künstlerisches Streben ist Ausdruck dieser Sehnsucht und Hoffnung, zurück in jenes Paradies zu gelangen, in einen Zustand der Harmonie und eines pantheistisch natürlichen Daseins.

Schicksallos, wie der schlafende

Säugling, atmen die Himmlischen;

Keusch bewahrt

In bescheidener Knospe,

Blühet ewig

Ihnen der Geist,

Und die seligen Augen

Blicken in stiller

Ewiger Klarheit.

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Auch Beethoven ist unter formalästhetischen Gesichtspunkten noch vollkommen „klassisch“. Bis hin zu seinen letzten Werken, den späten Streichquartetten, bleibt die von Haydn und Mozart etablierte Sonatenform der unumstößliche Goldstandard seines Komponierens. So sehr er sich auch sein Leben lang transformativ daran abgearbeitet hat, die sinnspendende Kraft dieser Form stellt Beethoven nie in Frage.

Mehr noch ist die Sonatenform das zentrale Projekt von Beethovens heroischem Steigerungs- und Vervollkommnungsgedanken. Bei zahlreichen Sonaten, Streichquartetten und Sinfonien sind Bemerkungen Beethovens überliefert, dass dieses Werk sein bis dato bestes sei, und er damit einen neuen Weg eingeschlagen habe. Angekommensein und Konsolidierung waren nicht Beethovens Sache, beständig mussten neue Territorien erschlossen und erobert werden.

Ähnlich wie bei Hölderlin, der in der heutigen Kultur weniger als Idealist denn als der verkannte Verrückte im Turm abgeheftet ist, ist auch bei Beethoven die aktuelle Rezeption merkwürdig verquer. Zwar hat Beethoven genug emotionalen Überschuss und transgressiven Elan um auch heute noch einen gewissen Eindruck zu machen. Doch die Intellektualität der Sonatenform, die das Gravitationszentrum seines künstlerischen Denkens ist, ist völlig jenseits des heutigen Radars. Die Sonatenform wird heute eher für eine Gebrauchsanweisung oder ein Kochrezept gehalten denn für ein Instrument musikästhetischen Diskurses. Als Musikdenker wird Beethoven heute kaum wahrgenommen.

Ebenso hat man keine rechte Vorstellung davon, wie expansiv und aggressiv Beethovens Projekt der künstlerischen Welteroberung in seiner Breite und Tiefe tatsächlich war. Vom Streichtrio bis zum Oktet, vom Klavier- bis zum Tripelkonzert, von der Overtüre bis zur Sinfonie, vom Lied bis zur Oper, vom Oratorium bis zur Messe, gibt es kaum eine der zeitgenössischen Formen, die Beethoven sich nicht angeeignet hätte.

Beethoven nähert sich dabei jeder Form mit dem Anspruch, sie vollkommen auszuschöpfen. Dabei arbeitet sich Beethoven mit handwerklichem Ehrgeiz nicht nur durch die verschiedenen Genres und Formen durch sondern beschäftigt sich auch beständig mit aktuellen Ereignissen und aktuellen kulturellen Topoi und Moden. Selbst historisch frisst sich Beethoven sowohl nach hinten und nach vorne durch. Im Spätwerk gewinnt nicht nur die Kontrapunktik des Barock wachsende Bedeutung, sondern gleichermaßen auch ganz neue Idiome wie Schuberts Walzer und Ecossaisen oder die Musik Rossinis und Bellinis. Praktisch nichts ist vor Beethovens aggressiver Aneignungswut sicher.

In diesem Aspekt schließt sich auch ein Kreis zum dritten Deutschen Jubilar dieses Jahres, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ebenfalls 1770 geboren. Kein zweiter Philosoph war von einem ähnlich idealistischen und kartographischen Ehrgeiz durchdrungen, jeden Aspekt des menschlichen Daseins und der Welt zu erkunden und mit einem Sinn zu versehen. So ragt denn auch das Werk Hölderlins, Beethovens und Hegels wie ein gewaltiger Gipfel hinein in die Deutsche Kulturepoche zwischen Martin Luther und Adolf Hitler.

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So geradezu furchteinflößend Beethovens künstlerische Leistung ist, und so überwältigend Hölderlins dichterische Potenz: hinter dem hochfliegenden und absoluten Anspruch ihres Idealismus war von Beginn an eine gefährliche dunkle Schattenseite verborgen. Schiller äußerte sich besorgt über Hölderlins „Überspanntheit“ und „Haltlosigkeit“. Und Haydn beobachtet die systematischen Grenzverletzungen Beethoven, vor denen er seinen Schüler fürsorglich warnte, ironisch distanziert mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination.

Dabei hatten Hölderlin und Beethoven auch selbst ein intuitives Bewusstsein von der Nachtseite ihrer überlebensgroßen Existenz. Hölderlins letztes großes dichterisches Projekt, das unvollendet gebliebene Drama „Der Tod des Empedokles“ hat etwas Beklemmendes und hellseherisch Autobiographisches. Es widmet sich dem Philosophen Empedokles, der sich, enttäuscht vom Leben und überwältigt von der Erkenntnis von der Vergeblichkeit seines Lehrens in den Vulkan Aetna stürzt. Und auch Beethoven spannt sein Schlusswort an die Menschheit, die weltumarmende Freudenhymne der 9. Sinfonie, über den Abgrund eines dämonisch lodernden d-moll Kopfsatzes.

Als mächtige Kulturelemente wirkten Hölderlin und Beethoven weiter fort, und es führt eine direkte Achse von Hölderlin zu Nietzsche und Heidegger wie von Beethoven zu Mahler und Schönberg. Nietzsches Zarathustra ist ein zynisch gewordener Empedokles, der nicht sich selbst sondern die Menschheit in einer reinigendes Feuer schicken will. Und Mahler braut aus dem gefährlichen Gift, mit dem Beethoven in seinen späten blasphemisch spekulativen Quartetten in cis-moll und a-moll hantiert, seine apokalyptischen Sinfonien Nr. 5 und 6 in derselben Tonart zusammen.

Kulturmythologisch offenbarte sich dann auch die gefährliche Doppelgesichtigkeit der Lichtbringer-Gestalten Prometheus und Lucifer. Dass die Ermächtigung der Unterdrückten Befreiung bedeutet, jedoch die Ermächtigung der Mächtigen Terror und Zerstörung. Dass das mächtige Schwert des Idealismus gefährliche Unwuchten entwickelt und fast immer in Totalitarismus und Verblendung mündet. Dass der einzelne Idealist an der Menschheit verzweifelt, jedoch ein Volk von Idealisten die Menschheit ins Verderben stürzt.

Dass Hölderlin und Beethoven zu Säulenheiligen des Nationalsozialismus wurden, war einerseits ein Missbrauch. Hyperion bricht in Verzweiflung aus, als seine Kameraden im Befreiungskampf beginnen zu morden und zu vergewaltigen, und Beethoven meinte es mit seinem „alle Menschen werden Brüder“ vollkommen ernst. Doch wurden sie die Geister, die sie riefen, nicht mehr los. Und so mussten Hölderlin und Beethoven mitansehen, wie ihre patriotischen Heldengesänge und Menschheitsoden die feierliche und ergriffene Begleitmusik zu einem der größten Schlachtfeste in der Geschichte der Menschheit wurden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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