Nachsommer

Adalbert Stifter Lange galt der Roman als konservative Erbauungsliteratur. Bis Friedrich Nietzsche und Thomas Mann die tiefen Risse im biedermaierlich soliden Fundament erkannten.

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Man muss das Phänomen Adalbert Stifter vom Ende her betrachten. Einem schrecklichen Ende. Der von Fresssucht, Alkoholismus und Depressionen gezeichnete öffnete sich mit einem Rasiermesser die Halsschlagader und starb wenige Tage später.

So makaber es klingen mag, doch auch und gerade Krankheit und Todesart eines Künstlers werfen ein bezeichnendes Licht auf die charakterliche Physiognomie einer Künstler- und Werkpersönlichkeit. Wie der Pistolen-Selbstmord Kleists merkwürdig das jähe und gewaltsame, das seinem Werk eigen ist, reflektiert, so ist auch Stifters Selbstmord auf seine Weise bezeichnend. Doch davon später mehr.

Stifter gilt als der klassische Repräsentant des Biedermaier und liest man seinen großen Roman "Nachsommer" unbefangen, erscheint einem diese Charakterisierung vollkommen zutreffen. In der Tat ist dieser Roman von einer kolossalen Biederkeit, Umständlichkeit und Ereignislosigkeit, die einem heutigen Leser geradezu grotesk vorkommen mag.

Über hunderte von Seiten hinweg tut der Held des Romans Heinrich, ein finanziell unabhängiger und bildungsbeflissener junger Mann, nichts anderes als durch das österreichische Voralpenland zu streifen um naturwissenschaftliche und künstlerische Studien zu betreiben. Dabei stößt er eines Tages auf einen gleichgesinnten älteren Herren, einen Freiherrn von Risach, der in seinem Besitztum eben dasselbe tut und von da an wird gemeinsam fortgefahren mit einer unermüdlichen Ausdauer, Kunstgegenstände und Pflanzen zu erforschen.

Zwischen den beiden fällt in den knapp 800 Seiten nicht ein unfreundliches Wort, gibt es keine Missverständnisse, unermüdlich versichert man sich gegenseitig der Vortrefflichkeit und Dankbarkeit. Im Hause Risachs lernt Heinrich eine Familie kennen, die ältere Mathilde, wie sich später herausstellt die Jugendliebe Risachs, mit ihren beiden Kindern Nathalie und Gustav. Heinrich verliebt sich in Nathalie, die seine Liebe erwidert und am Ende heiraten die beiden in einer Orgie von Harmonie und Einträchtigkeit, die nahezu unerträglich ist. Weder ökonomisch, beide Parteien sind reich und Nathalie zudem die Erbin Risachs, noch emotional, keine zwiespältigen Gefühle oder Nebenbuhler weit und breit, ist auch nur das kleinste dunkle Wölkchen zu erkennen.

Schon der zeitgenössische Dramatiker Friedrich Hebbel konnte soviel Idylle nicht ertragen und schrieb eine vernichtende Kritik über den Roman. Die lobende Erwähnung des Romans in Friedrich Nietzsches "Menschliches, Allzumenschliches", wo er als einer der wenigen Schätze deutscher Prosa bezeichnet wird, hat immer etwas Verwunderung ausgelöst. Auf den ersten Blick scheint es kaum einen größeren Gegensatz zu geben zwischen Stifter, der bis heute ein Heros konservativ religiöser Kreise ist, und dem Zertrümmerer der christlichen Mitleidsethik und Prediger dionysischer Enthemmung.

Nun sind Nietzsches Kunstäußerungen immer sowohl hellsichtig und tiefgründig als auch persönlich hintersinnig und idiosynkratisch. Dass er Goehtes Gespräche mit Eckermann an derselben Stelle als bestes deutsches Buch, das es gibt, bezeichnet, müsste eigentlich ebensoviel Verwunderung auslösen. Denn dabei handelt es sich ja in Wahrheit um Eckermannsche Prosa und um ein ungleichmäßiges Konvolut aus Tagebuchaufzeichnungen, Gesprächsnotizen und aus dem Gedächtnis zusammengeschustertes ohne eigentlichen Kunstanspruch.

Was Nietzsche an Eckermanns Buch unwiderstehlich anzog war die Konstellation zwischen Goethe und Eckermann, die ihn an das eigene Verhältnis mit Richard Wagner erinnerte. Ohne Zweifel war die Begegnung mit Wagner das wichtigste Ereignis in seinem Leben und die Briefe aus dieser Zeit belegen, in was für einem euphorischen Taumel sich Nietzsche befand. Wohl nie wieder fühlte er sich so lebendig, so im Zentrum der Welt.

Was das Eckermann Buch tatsächlich auszeichnet und daher Nietzsches Urteil unter gewissen Aspekten zutreffend macht, ist der ähnlich glückliche Moment. Wie bei Wagner und Nietzsche war es auch im Fall von Goethe und Eckermann eine günstige Konstellation von Charakteren und Lebenssituationen. Goehte fühlte sich gerade jetzt und gerade mit diesem Eckermann in der Laune, seinen immensen Erfahrungsreichtum zu teilen. Und gerade die Unabwägbarkeiten und Zufälligkeiten, denen ein Gespräch ausgesetzt ist, waren der rechte Katalysator, den Reichtum sprudeln zu lassen. Das Buch ist voll von großartigen Einsichten wie es sie sonst in dieser gedrängten Fülle auch in Goethes eigenem Werke nicht gibt.

Für Nietzsche war die Zeit im Hause Wagners gewissermaßen das intellektuell dionysische Initationserlebnis, dem der eigentlich zu apollinischer Einsamkeit bestimmte ein Leben lang nachtrauerte. Womit wir wieder bei Stifter wären. Nietzsches tiefe Sympathie mit dem "Nachsommer" liegt wohl vor allem darin, dass Nietzsche sehr gut spürte, dass Stifter in Wahrheit wie er gegen eine verzweifelte Einsamkeit, gegen das Gefühl eines katastrophal verfehlten Lebens anschrieb.

Thomas Mann hat das mit seinem unvergleichlichem Kunstinstinkt erkannt, wenn er schreibt, dass "hinter der stillen, innigen Genauigkeit gerade seiner Naturbetrachtung eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen wirksam ist“. Die schreckliche Förmlichkeit und Überkorrektheit, die bei Stifter alle Menschen an den Tag legen und die umständliche Wiederholung der immer selben Rituale hat in der Tat stark neurotischen Charakter. Scheint wie die gewaltsame Verdrängung eines tiefen Traumas.

Kurz vor der Hochzeit erzählt Risach seinem jungen Freund seine Lebensgeschichte. Dieses Leben trägt, vielmehr als das Heinrichs, autobiographische Züge Stifters. In dieser Geschichte befindet sich der einzige dunkle Fleck. Risach erzählt davon wie er sich als junger Hauslehrer in die noch minderjährige Mathilde verliebt. Zwar lieben auch sie sich gegenseitig, doch als er die Liebe deren Eltern offenbart, muss er das Haus verlassen. Keineswegs im Bösen, sondern durchaus mit der Aussicht, die Angelegenheit nach einigen Jahren und mit gewonnener Reife nochmals zu prüfen.

Mathilde jedoch empfindet das als Verrat und bricht mit Risach. Risach macht Karriere, beide heiraten solide aber emotional unglücklich, doch die Gatten sterben frühzeitig. Jahrzehnte später treffen sie sich wieder, verblüht, doch im Gefühl tiefer Verbundenheit und beschließen den Rest ihres Lebens in freundschaftlicher Nachbarschaft zu verbringen. Zwar wird dieses Wiedersehen als abgeklärt resignativer Nachsommer (daher der Titel) gefeiert und man spürt, dass mit der Heirat von Heinrich und Nathalie gewissermaßen diesmal alles richtig und wieder gut gemacht werden soll.

Allerdings scheint alles eben doch zu schön um wahr zu sein. Unter der krampfhaften und krankhaften Idealisierungs- und Sublimierungssucht wird der existenzielle Schmerz über ein katastrophisch gescheitertes Leben niedergehalten. Während Nietzsche die Energie der eigenen Verzweiflung in einen heroischen Akt der Selbstüberwindung umleitet, betreibt Stifter Palliativmedizin.

Doch selbst diese hat ihren künstlerischen Mehrwert. Hat man sich einmal an die Biederkeit und Langatmigkeit gewöhnt, kann Stifters Prosa durchaus einen Sog angespannter Schönheit entwickeln. Darin ähnelt Stifters Kunst merkwürdig der seines Landsmanns Franz Schubert. Auch in dessen Spätwerk begegnet man dieser verzweifelten Schönheitssucht, diesem nicht enden wollenden Schwelgen in hypnotisch palliativer Schönheit. Der langsame Satz aus Schuberts kurz vor seinem Tode entstandenen Streichquintett etwa hat etwas von der schmerzlich schönen herbstlichen Pracht, die auch Stifter im "Nachsommer" beschwört.

Stifters Ende nun: es erscheint wie das Öffnen einer Wunde. Als ob der Ausfluss des Blutes nun endlich und endgültig den ein Leben lang niedergehaltenen und angestauten Schmerz rausschwemmen könne.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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