Prophet der Apokalypse

Alexander Skrjabin Zum hundertsten Todestag des russischen Komponisten, einer Symbolfigur der epochalen Zeitenwende des ersten Weltkriegs

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Viele hielten Skrjabin schlicht für verrückt. Einen klein gewachsenen Mann mit Dandy Schnauzer, dessen Auftreten zwischen hoheitsvoller Würde und histrionischer Nervosität schwankte. Ein Augenzeuge berichtet, wie Skrjabin bei der Aufführung einer seiner Sinfonien vor Erregung immer wieder von seinem Sitz aufsprang. Er war so vollkommen durchdrungen, ja fieberhaft ergriffen von seinem Werk, von seinen Ideen, von seinen hochfliegenden Plänen, dass die einen von seinem messianischen Magnetismus fasziniert waren, die anderen verständnislos den Kopf schüttelten.

Irgendetwas an diesem Menschen war aus dem Lot. Es gab immer wieder Mutmaßungen über eine syphilitische Erkrankung, zu dessen Symptomen exaltierte Zustände und wahnhafte Vorstellungen zählen. Und es würde in der Tat wenig wundern, wenn er an der Krankheit Nietzsches gelitten hätte. Beide hielten sich vom Schicksal auserwählt, ein Werkzeug der Zerstörung zu sein. Allerdings war die deutsche Brachialität Nietzsches ("ich bin Dynamit") seine Sache nicht, vielmehr bevorzugte Skrjabin sich, narkotisiert von Farben, Düften, Berührungen und Klängen, in orgasmischer Ekstase mit der Menschheit ins Feuer zu stürzen.

Sein geplantes letztes, und in jedem Sinne ultimatives Werk, das "Mysterium", war die Begleitmusik zu jener apokalyptischen Feier. Diese sollte eine Woche dauern (wie die Erschaffung der Welt) und am Fuße des Himalaya (dem nähesten Punkt zum Himmel) stattfinden. Auf idiosynkratische Weise vereinigten sich in dieser Feier jüdisch-christliche, antike, buddhistisch-hinduistische Vorstellungen und Rituale. Westliche Mythen von Sündenfall und Apokalypse vermischen sich mit östlichen von Reinigung, Erleuchtung und zyklischer Wiederkehr.

Skrjabins Vorstellungen waren maßgeblich von der Theosophie Helena Blavatskys geprägt, die schon ihrerseits ein wildes Sammelsurium von mythischen, kultischen und religiösen Motiven ist. Einige Skrjabin nahestehenden Personen haben seine Gedanken in groben Zügen aufgezeichnet. Am Ende blieben sie doch vage und waren vor allem intuitive Selbstbefeuerung. Skrjabin konnte eine Schar von Anhängern um sich scharen, doch wirklich Ernst nahm man seine Pläne nicht, vielmehr berauschte man sich am adventlichen Gefühl eines großen kommenden Ereignisses.

Auch Skrjabin selbst schien es nicht eilig zu haben und schob, bevor er sich an die Komposition des "Mysteriums" machen wollte, noch eine große "Vorbereitende Handlung" ein, in der er zunächst einige Ideen des "Mysteriums" erproben wollte. Musikalisch fühlte er sich vorbereitet, doch über die dichterische Form und die tänzerischen Aktionen war er sich noch im Unklaren. Als dann der erste Weltkrieg ausbrach, sah Skrjabin darin einen Vorboten jener großen Ereignisse. Er arbeitete fieberhaft an der "Vorbereitenden Handlung", konnte sie jedoch nicht mehr vollenden. Völlig überraschend starb er vor hundert Jahren an einer Blutvergiftung in Folge eines Lippen-Abszess.

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Gewiss könnte man Scriabins Privatmythologie einfach als esoterische Spinnerei abtun, doch sind exzentrische Naturen wie er oft Seismographen ihrer Zeit. Lässt man seinen Blick über das Europa vor dem ersten Weltkrieg streifen, sieht man, dass Scriabins Mysterium nur eine hysterisch gesteigerte Version dessen ist, was allüberall gerade im Schwange war.

Ob bei Mahler, Strauss oder Schönberg, bei Debussy, Ravel oder Strawinsky, allüberall konnte man ähnliche Tendenzen am Werk sehen. Das sich Hineinsteigern in einen orgiastischen Rausch, bei dem alle Tabus fallen. Ob man an den Tanz der Salome denkt, an den Schluss von Daphnis et Chloe oder an Sacre du Printemps. Das narkotisierte Hinabsteigen in die Tabuzonen des Bewusstsein im Expressionismus von Schönbergs Pierrot Lunaire oder im Symbolismus von Debussys Pelleas und Saint Sébastien.

Doch auch die Nietzscheanischen Zerstörungs-, Durchbruchs- und Neuschöpfungsgedanken, die sich bei Scriabin in den beiden Lichtbringer Gestalten Prometheus und Lucifer kristallisieren, begegnet man etwa bei Mahler immer wieder, ganz offensichtlich in der 2. und 8. Sinfonie, doch auch im kataklystisch noch vorne stürzenden Gestus vieler Allegro Sätze.

Vor allem Mahlers 8. Sinfonie und Schönbergs unvollendet gebliebenes Jakobsleiter Projekt sind im Grunde Schwesterwerke von Skrjabins Mysterium. Dass Thomas Mann, der Skrjabin nur am Rande zur Kenntnis nahm, Adrian Leverkühn während des 1. Weltkrieges seine Apocalypsis cum figuris komponieren ließ, zeigt wie sehr die apokalyptischen Gedanken diese Epoche bestimmt haben.

Ähnlich wie 150 Jahre früher, als die Aristokratie die Welle der französischen Revolution herannahen sah, und im Rokoko das Lebensgefühl von "nach uns die Sintflut" in hemmunglosem Hedonismus auslebte, so stürzte sich nun das Bürgertum in seine finale Orgie.

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In diesem Kontext erinnert die Gestalt Skrjabin an Marquis de Sade. Schon in Skrjabins frühen Werken ist der Hang zum Ausreizen aller sinnlichen Potenziale allgegenwärtig. Seine Stücke sind oft so sinnlich, so verfeinert, so schön, dass es schmerzt. Der postorgasmische Ennui und das damit verbundene Gefühl von existenzieller Verlorenheit sind bei ihm immer im Hintergrund fühlbar.

Die innere Logik dieser Dynamik ist die der exorzistischen Steigerung. Die Dosis muss immer weiter erhöht werden, die verblassende Lust mit immer wieder neuen Mitteln genährt werden. Die immer weitere Verschärfung der harmonischen Mittel bei Skrjabin haben nichts mit Logik oder Fortschritt zu tun, sondern hat seine Ursache gänzlich in jener sinnlichen Steigerungsdynamik.

Angefangen von den weichen Klängen aus kleiner Sept- und großer None Chopins werden die Terzschichtungen und Vorhalte immer schärfer, immer schmerzhafter, in einer sadomasochistischen Logik immer raffinierter. Dass im Spätwerk Quarten eine immer größere Bedeutung gewinnen, rührt nicht von Ideen einer neuen Kompositionsmethode wie bei Schönbergs 12 Ton Methode sondern entspringt ganz von am Klavier gesucht und gefundenen Spannungszuständen.

Die Quartklänge sind nichts als gespreizte Terzklänge. Die Vorhalte, die als Mittel der Suspension bei Skrjabin eine zentrale Rolle spielen, werden im Vorhalt der Quart zur Terz sowie der Sept zur Sext in den Quartakkorden zu einer geronnenen "Vorhaltigkeit". Der Berühmte Akkord aus Promethée vermittelt denn auch das Gefühl einer strangulierten Suspension.

Die Musik Skrjabins ist deswegen auch nie atonal. Sie mag manchmal äußerlich den Anschein erwecken, doch die Abwesendheit von tonalen Dreiklängen ist eine Täuschung. Auch wenn sie selber nicht vorkommen bilden sie dennoch immer die Gravitationsfelder, an denen sich die Klänge ausrichten.

Hinzu kommt das Mittel der Blasphemie. Wie bei Nietzsche, der in seinem Zarathustra die Bibel parodiert, spielen auch bei Skrjabins Poéme satanique oder der Weißen und Schwarzen Messe (der 7. bzw. 9. Klaviersonate) dabei exorzistische Motive eine Rolle. Die alten Götter müssen entweiht und vernichtet werden um spirituellen Resonanzraum für die neuen zu geben. Zudem bietet das satanistische in seinem transgressiven Moment auch einen erotisierenden Reiz.

Den Zusammenhang von de Sade und Robespierre, den man im Rückblick sah, er besteht auch hier. Der Impuls von Enthemmung und Exorzismus hat in der Folge im Sowjetkommunismus und Faschismus auf monströse Weise politisch Karriere machte

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Skrjabins Werk steht symptomatisch für diese Epoche des nach vorne Stürzens. Der Abgrund der zwischen den frühen Chopin-nahen Stücken und den letzten am Rande der Tonalität balancierenden besteht, ist so eklatant wie bei kaum einem anderen Komponisten.

Das besondere an Skrjabins musikalischer Sozialisierung ist, dass er mit Wagners Spätwerk erst relativ spät in Berührung kam. Als Abkömmling russischen Militäradels wuchs er in sehr konservativen Kreisen auf und bestimmenden Figuren an den musikalischen Einrichtungen wie Sergej Tanejew versuchten ihre Schützlinge nach Kräften vom unheilvollen Einfluss Wagners fernzuhalten.

Nur so ist überhaupt zu erklären, warum Skrjabin eine so intensive Beziehung zu Chopin entwickelte, zu einer Zeit als man im übrigen Europa schon vollkommen vom Wagnerismus ergriffen war. Diese fast inzestuöse Nähe, die Skrjabin zu Chopin hatte, hätte zu einem bedenklichen Epigonentum werden können. Doch die zeitliche Distanz, Chopin war schon 50 Jahre tot und die kulturelle Atmosphäre hatte sich stark gewandelt, und die psychologische Affinität erwiesen sich als eine Konstellation, in der Skrjabin tatsächlich gelang, innerhalb der alten Formen etwas neues und eigenes entstehen zu lassen. Und dadurch, dass Chopin einen sehr großen Einfluss auf Wagners Harmonik gehabt hatte - seine Mazurka op. 68/4 nimmt die berühmte Tristan Akkordfolge fast wörtlich vorweg - war die Musik Skrjabins auch unter diesem Aspekt untermittelbar anschlussfähig.

Davon abgesehen war Chopin auch eine hervorragende Schule. Ohne die kompositorische Disziplin, die Ökonomie und Präzision, die er von Chopin gelernt hatte, wäre er den kommenden Herausforderungen nicht in dem Maße gewachsen gewesen. Wie Ravel, der ebenfalls ein großer Chopin Verehrer war, verstand auch Skrjabin, dass mit den wachsenden Möglichkeiten auch die organisatorische Disziplin wachsen muss, will man nicht vom Ozean an Möglichkeiten verschlungen werden.

Als Skrjabin dann um die Jahrhundertwende enger mit Wagner in Berührung kam geschah das unvermeidliche und er verschrieb sich Wagner mit derselben Leidenschaft wie vorher Chopin. Doch blieb diese Konstellation aus vielerlei Gründen unfruchtbar, wie Skrjabin später rückblickend auch selbst feststellte. Die drei Sinfonien, die er zu dieser Zeit komponierte, sind trotz zahlreicher Schönheiten und Interessantheiten insgesamt verunglückt.

Anders als bei Chopin kam es nie zu einer Synthese, alles blieb in einer kompromisslerischen Heterogenität stecken. Traditionelle Sinfonik und Wagnerische Klangflächen, deutsches Pathos und französisches Sentiment, eine an der Pianistik Chopins und Liszts geschulte Biegsamkeit und Wagnerische orchestrale Kompaktheit. Das alles ging einfach nicht zusammen.

Außerdem musste er feststellen, dass er damit immer noch der europäischen Moderne hinterherhinkte. Spätestens bei seinem Paris Aufenthalt 1907, als seine Werke von Serge Diaghilev in Konzerten mit russischer Musik vorgestellt wurden, musste er wohl mit der Musik Debussys, Ravels und Strawinskys in Berührung gekommen sein und in einem erneuten evolutionären Schritt wendet er sich mit dem Poème d'extase beherzt dem Impressionismus zu.

Auch wenn man diesem Stück seine neuen Abhängigkeiten noch deutlich anmerkt, man kann wohl sagen, dass Skrjabin damit und mit der unmittelbar darauf geschriebenen 5. Klaviersonate nicht nur in der musikalischen Gegenwart angekommen war sondern vor allem seine ganz eigenen Assoziationsräume endgültig gefunden hatte. Sein letztes vollendetes sinfonisches Werk Prométhée (Poème du feu) war dann auch vollkommen auf der Höhe der Zeit.

Trotz der skizzierten stilistischen Heterogenität, die Skrjabins Werk kennzeichnet, gibt es dennoch kaum ein anderes Werk, das auf einer gestischen Ebene so kohärent und spezifisch ist wie das Skrjabins. Es lag wohl an seiner Natur, sich einer Sache, wenn er sich dafür entschieden hat, mit Haut und Haaren zu widmen, das seinem Werk diese völlig eigentümliche Ausrichtung gab.

Ähnlich wie Chopin war er frühreif und schon in seinen ersten Kompositionen ist dieses ganz eigene Fluidum zu spüren. Die Sinnlichkeit, das morbide Verfeinerte, das ekstatisch Hochfliegende, die orgasmischen Entladungen und das müde Hinsinken, schon in den Etüden op. 8 oder den Preludes op. 11 ist das schon alles da.

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Im Blick zurück auf die Welt vor hundert Jahren, muss man feststellen, dass Skrjabin und Schönberg die radikalsten und kompromisslosesten Komponisten dieser Zeit waren. Doch paradoxer Weise gerade durch und in ihrer Radikalität dem 19. Jahrhundert verhaftet blieben.

Gerade am Fall Skrjabin lässt sich ablesen, dass eine gewisse Art des Modernismus im Grunde weniger zukunftsgerichtet als vielmehr ein Phänomen der Überreife und Dekadenz war. Denn trotz der Fortschrittlichkeit der Mittel bleibt die Musik Skrjabins in der Salonkultur des 19. Jahrhunderts verankert. Auch und gerade der Okkultismus, dem Skrjabin anhing, war seiner sozialen Dynamik nach ein Salonphänomen. Ähnliches ließe sich über Schönberg sagen, der im Gestus der Musik Beethovens, Brahms und Wagners verhaftet blieb.

Beide spürten sehr wohl, dass ihre Welt, die Welt des bürgerlichen Idealismus und der verfeinerten Salons ihrem Ende entgegen ging. Eine Welt, die uns fremd geworden ist, die uns hoffnungslos überspannt und befremdlich schicksalstrunken erscheint, deren Ideale von Lebensernst, Verfeinerung und Bewusstsein von Wachstum und Reife wir nicht mehr teilen.

Im destruktiven Impetus Skrjabins und Schönbergs lag ein verzweifelter faustischer Zug, ein Urschrecken über die Endlichkeit des eigenen Lebens und der Vergänglichkeit der Welt, in der sie lebten. Im Wunsch die Uhr noch einmal zurückzudrehen beschlossen sie die Flucht nach vorne anzutreten, um in der Apokalypse die eigene Wiederauferstehung zu erleben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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