René Girard: Shakespeare - Theater des Neides

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Die Shakespeare Forschung hat enorm viel Anstrengung darauf verwendet die Rätsel und Seltsamkeiten zu erklären, die einem in Shakespeares Stücken immer wieder begegnen. Im 20. Jahrhundert haben unzählige Forscher Textquellen und den historischen und kulturellen Hintergrund auf ihren Einfluss auf Shakespeare beleuchtet. Manches wurde durchaus erhellt, doch besonders in Bezug auf Shakespeares Umgang mit seinen Quellen zeigte sich, dass die Merkwürdigkeiten meist nicht dort angelegt sind sondern ein Produkt von Shakespeares Bearbeitung sind. Klare Dramaturgien und Motive werden von Shakespeare oft verwischt.

Wie um dieses unbefriedigende Ergebnis selber in einen befriedigenden Befund zu verwandeln hat sich in den letzten Jahrzehnten das von Stephen Greenblatt geprägte Schlagwort einer "strategic opacity" etabliert, also einer ästhetisch bewusst eingesetzten Unklarheit, die Interpretationen in alle Richtungen zulässt. Zumindest die Rezeptionsgeschichte Shakespeares, die von gegensätzlichen Interpretationen gezeichnet ist wie wohl bei keinem anderen Schriftsteller, scheint dieser Sichtweise Recht zu geben.

Doch gab es immer wieder auch andere Stimmen. Vor allem Harold Goddard, meines Erachtens der intimste Shakespeare-Kenner des 20. Jahrhunderts, betonte die "Integrität", das heißt die geistige und künstlerische Kohärenz des gesamten Werkes. Bestimmte Motive, Charaktere und Konstellationen kehren in vielen Stücken obsessiv immer wieder, bilden gar ein übergeordnetes Beziehungssystem, was eher auf einen starken persönlichen Bezug verweist und dem Glauben an ein nüchtern ästhetisches Kalkül widerspricht.

Auch René Girard glaubt an einen werkübergreifenden und persönlich geprägten Gestaltungswillen Shakespeares und sein Ansatz ist so überzeugend, dass sich zwar nicht alles in Wohlgefallen auflöst, doch einige Aspekte bedeutend, manchmal sogar spektakulär erhellt werden. Dass der Hanser Verlag Girards Essay, der im Original bereits vor zwanzig Jahren erschien, als epochal bezeichnet ist tatsächlich kaum übertrieben.

Der Schlüsselbegriff von Girards Theorie ist das “mimetische Begehren”, also ein Begehren, das nicht aus sich selbst entspringt sondern durch Nachahmung eines Konkurrenten hervorgerufen wird. Der titelgebende Begriff vom “Neid” ist eher eine relative, allgemeinzugängliche Umschreibung des Phänomens. Es sind die Exzesse und ihre Mechanismen um die es bei Shakespeare geht.

Was Girard als “hypermimetische Charaktere” bezeichnet, ist eine Konstitution, die nach modernen Begriffen als narzisstische Persönlichkeitsstörung bezeichnet würde. Das brüchige Selbstbild dieser Konstitution ist die Ursache für die spezielle, von ständigen Umbrüchen bedrohte Dynamik, die das mimetische Begehren in Gang hält. Narzissten fehlt ein “soziales Gedächtnis“, das Beziehungen etabliert. Das Verhältnis zur Umgebung und anderen Menschen wird daher immer wieder neu konstituiert. Das macht sie extrem anfällig für spontane äußere Beeinflussung. Das mimetische Begehren ist nur eine Form der spontanen externen Induktion von Gefühlen, andere sind etwa Eifersucht und Aberglauben. Solche Induktoren können sowohl Menschen sein, Jago ist wohl der Prototyp eines solchen Induktoren, als auch Konstellationen. Da das fragile Selbstbild immer vom Zerbrechen bedroht ist, brauchen Narzissten immer wieder neue Nahrung um dieses aufrecht zu erhalten.

Die narzisstische Urszene bei Shakespeare ist der Beginn von König Lear. Aggressiv fordert Lear die Affirmation seines Selbstbildes als geliebter und verehrter Herrscher ein. Als Cordelia diese verweigert kommt es zu jenem Zusammenbruch durch narzisstische Kränkung, der für viele so schwer nachvollziehbar ist. Alle Erinnerungen an ein gemeinsames Leben mit der Lieblingstochter sind wie ausradiert, der ganze Mensch von einem Augenblick zum anderen entwertet.

Bereits in einem von Shakespeares ersten Stücken, “Die beiden Veroneser“, die Girard als Ausgangspunkt dient, kann man das Phänomen des “mimetischen Begehrens” exemplarisch beobachten. Girard beschreibt brillant wie die Induktionsmechanismen funktionieren.

Valentine lässt seinen Freund Proteus in Verona zurück um an den Mailänder Hof zu gehen. Der zurückgelassene Proteus wirbt heftig um Julia, die er auch gewinnt. Valentine seinerseits wirbt in Mailand um die Tochter des Fürsten Silvia, was sich schwierig gestaltet, da es einen vom Fürsten bevorzugten Mitbewerber gibt. Als Proteus nach Mailand nachkommt und von Valentines Werben um Silvia erfährt, vergisst er Julia vom einen Augenblick zum nächsten und begehrt ebenfalls Silvia. Um diese zu erlangen verleumdet er nicht nur seinen Freund Valentine beim Fürsten, der ihn darauf hin verbannt, er setzt Silvia, die nach Valentine in den Wäldern suchen will, immer weiter nach und versucht die Widerstrebende am Ende zu vergewaltigen. In diesem Augenblick tritt Valentine hinzu und, man höre und staune, als Proteus ihn reuig um Verzeihung bittet, verzeiht er ihm nicht nur, sondern demütigt im selben Augenblick Silvia, indem er den Freund vor ihren Augen sogar über Silvia stellt.

Dieser Schluss bereitet den meisten Lesern großes Kopfzerbrechen, fast alle Kommentatoren halten ihn für unglaubhaft. Dabei handelt es sich um dasselbe Phänomen wie in König Lear, nur unter anderen Vorzeichen. Durch die Unterwerfungsgeste führt Proteus bei Valentine jenen Umschwung herbei, durch dessen Verweigerung ihn Cordelia bei ihrem Vater in die andere Richtung ausgelöst hat. Auch bei Valentine ist alle Erinnerung augenblicklich ausgelöscht und statt der Entwertung der Cordelia erfährt Proteus eine spontane Erhöhung ungeachtet allem, was zuvor gewesen war. Was Girard nur andeutet, ist die homoerotische Komponente der Geschichte. Die Gleichgültigkeit, mit der beide mit den Frauen umspringen, lässt vermuten, dass diese eigentlich nur Instrumente sind, um beim jeweils anderen Eifersucht zu induzieren.

Am beeindruckensten bewährt sich Girards Theorie vielleicht beim Quartett der Liebenden im Sommernachtstraum. Mit scharfsinniger Präzision zeigt Girard das ständige Umadressieren der Liebe als Kettenreaktion des mimetischen Begehrens. Doch auch in Troilus und Cressida ist die Folgerichtigkeit, mit der Girard die Rolle des Pandarus als kupplerischer Induktor des Begehrens beschreibt, verblüffend.

Eine weitere Stufe des mimetischen Begehrens, die “mimetische Rivalität”, beschreibt Girard in Julius Cäsar. Ging es beim mimetischen Begehren darum, auf das Begehren des anderen einzuschwenken, ist die Dynamik der mimetischen Rivalität die eines gleichgerichteten Doppelgängertums, das sich gegenseitig hochschaukelt und in einem Opferungsmechanismus entlädt. Diesen Mechanismus kann man übrigens nicht nur in Julius Cäsar, an Hand dessen Girard ihn beschreibt, beobachten sondern auch an Richard II., der wie Julius Cäsar Opfer jener Dynamik wird.

Girard führt seine Theorie noch an einer Handvoll weiterer Stücke aus, besonders interessant etwa die selbstzerstörischen Aspekte, die Girard in Othello hervorhebt oder die Dreiecksdynamik in den Sonetten. Ist man erstmal sensibilisiert für die interne Dynamik dieser Theorie, entdeckt man sie noch in vielen anderen.

Das überzeugende an Girards Theorie ist, dass sie wie bei Goddard ein kohärentes Gewebe von Zusammenhängen ergibt, das sich über das gesamte Werk erstreckt. Die Dynamik des jähen Umschwungs, die einem bei Shakespeare immer wieder begegnet, gewinnt unter dem Aspekt der mimetischen Aktion eine merkwürdige psychologische Folgerichtigkeit. Und gerade Stellen, die einen als Zuschauer oder Leser immer ein wenig ratlos zurückließen, wie etwa das Quartett im Sommernachtstraum oder die seltsame Liebeshandlung zwischen Troilus und Cressida, erscheinen als exemplarische Beispiele dieses Phänomens.

All die vielen Debatten über Shakespeare, ob der Kaufmann von Venedig antisemitisch ob Othello rassistisch, ob Der Widerspenstigen Zähmung frauenfeindlich ist, ob die Historien affirmativ oder subversiv sind, ob Maß für Maß Komödie oder Tragödie ist, mögen interessant und unterhaltsam sein. Betrachtet man die Werke wie René Girard jedoch unter Aspekten einer inneren Dynamik erscheinen einem all diese Fragen als eher sekundär und von außen herangetragen. Dass man auf die moralischen und dramentechnischen Fragen bei Shakespeare immer mehr Fragen aufwirft als Antworten bekommt liegt dabei in der Natur der Sache. Die Opacity, der trübe Blick, den Shakespeares Werk von außen gewährt, weicht einer fast schmerzhaften Klarheit, wenn man die passende Linse einer initiierten inneren Ansicht wählt.

Denn das eine soll am Schluss nicht verschwiegen werden. Bei diesem klaren Blick treten Dinge zu Tage, die so manchem Shakespeareliebhaber nicht gefallen werden. Die Außenansicht machte es einem immer leicht, Shakespeare selbst auf der richtigen Seite zu vermuten und die “schlechten” Charaktere von Richard III. bis Jago als exemplarische Darstellungen zu betrachten. T.S. Eliot hatte in seinem Misstrauen gegenüber einem idealisierten Shakespearebild wohl den richtigen Instinkt. Denn die konzentrischen Kreise der Intensität der von Girard beschriebenen inneren Dynamik lassen einen vermuten, wo Shakespeare persönlich verortet ist. Dass einiges von Shakespeare in Hamlet, King Lear und Prospero steckt, hat man schon immer vermutet. Und Harold Goddard bemerkte scharfsinnig, dass sowohl Desdemona als auch Jago einige Züge von Hamlet trägt. So manches deutet darauf hin, dass Shakespeare mehr von den monströs narzisstischen Charakterzügen seiner Figuren trug als manchem lieb sein dürfte.

René Girard: Shakespeare - Theater des Neides
Aus dem Englischen übersetzt von Wiebke Meier
Carl Hanser Verlag München 2011

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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