Wer schrieb Shakespeares Werke - Ein Plädoyer aus aktuellem Anlass

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In wenigen Wochen kommt Roland Emmerichs neuester Film "Anonymous" ins Kino. Darin geht es um die These, ein gewisser Edward de Vere, Earl of Oxford habe die Werke William Shakespeares verfasst. Diese Theorie, die seit etwa 80 Jahren kursiert und eine wachsende Zahl von Anhängern hat, wird von der akademischen Shakespeare Forschung als völliger Blödsinn abgetan.

Oxfordianer, wie sich die Anhänger dieser These gegenüber den traditionellen Stratfordianern nennen, wissen nicht Recht, ob sie sich über diesen Film freuen sollen oder nicht. Einerseits verschafft er der These eine wohl bisher nicht erreichte öffentliche Aufmerksamkeit gleichzeitig hätte man sich dafür nicht gerade Roland Emmerich gewünscht. Man hört förmlich schon die süffisanten Kommentare von Englisch-Professoren, wie ernst man die These eines Filmemachers nehmen muss, der bisher Filme über Alien-Invasionen und Monster-Echsen gemacht hat.

Bereits vergangene Woche wurde der Film bei der Frankfurter Buchmesse vorgestellt und die Reaktionen in den Feuilletons fielen wie erwartet aus. Man amüsierte sich in erster Linie über die Erregung, die das Thema bei Experten auslöst.

Viele Jahre lang hatte ich ganz gut mit der Vorstellung gelebt, dass Shakespeare ein Autor ist, über den man schlicht zu wenig weiß, um aus seinem Leben irgendetwas fruchtbares für das Verständnis seiner Werke zu ziehen.

Vor allem die intensive Beschäftigung mit Goethe hat mir klar gemacht, dass zu großer Kunst, mehr noch als Bildung und Kunsthandwerk, die exzessive Ausbeutung des persönlichen Erfahrungs- und Erlebnishorizonts gehört. In den Gesprächen mit Eckermann äußert Goethe immer und immer wieder in der Kritik an jungen Autoren, dass sie über etwas schreiben, das jenseits ihres Horizonts liege. In Nebendingen fiele das nicht so sehr ins Gewicht, man kann schließlich nicht alles erlebt haben, doch wenn die zentralen Themen keine Unterfütterung in persönlichen Erfahrungen hätten, sei das Werk zum Scheitern verurteilt.

Eigentlich ist das eine Binsenweisheit und man braucht nicht nur auf Goethe zu schauen um das bestätigt zu sehen. Bei allen bedeutenden Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts, deren Biographien gut dokumentiert sind, kann man das in geradezu überwältigender Weise studieren. Dabei sollte man sich davor hüten auf das rein faktische zu starren. Natürlich hat Goehte nicht als junger Mann Selbstmord begangen und auch Thomas Mann ist in Venedig nicht gestorben. Es sind die zentralen, oft dramatisch zugespitzten oder idealisiert verklärten persönlichen Erfahrungen und Konstellationen, um die es geht.

Umgekehrt bedeutet das, dass man über das Werk sehr viel über den Autor erfahren kann, in gewisser Weise sogar mehr als vermittels jeder noch so detaillierten Biographie. Keine Biographie kann die Intensität von Tolstois Kindheit und Jugend spürbar machen wie Tolstoi selbst es in seinen ersten Romanen schildert und das Hören von Beethovens 5. Sinfonie offenbart Beethovens Charakter unmittelbarer als jeder noch so kluger Essay es je vermöchte.

Blickt man mit diesem Bewusstsein auf die Werke Shakespeares wie Hamlet oder King Lear, kann eigentlich kein Zweifel bestehen, dass diese Charaktere viel über Shakespeare, wer immer er nun war, verraten dürften.

Als ich vor einigen Jahren die Oxford Biographie von Alan H. Nelson, emeritierter Berkeley Professor und Stratfordianer reinsten Wassers, las, fiel es mir wie Schuppen, doch auch nicht ohne einen gewissen Schrecken, von den Augen.

Denn dieser Edward de Vere hat eine geradezu erschreckende Ähnlichkeit nicht nur mit Hamlet und King Lear sondern auch mit Richard III und Jago. Er war eine flamboyante, extrem narzisstische, doch eben auch ungeheuer charismatische und geistig brillante Erscheinung. In seiner jüngeren Jahren war er der Star am Hof Elisabeths, ein Theaternarr, der für seine höfischen Komödien und Divertissments berühmt war.

Aber er war eben auch ein völlig rücksichtloser, egomanischer, nach heutigen Maßstäben krimineller Charakter. Schon als Jugendlicher tötete er beim Fechten einen Koch, was als Unfall vertuscht wurde. Später gab es weitere Fälle, in denen seine Leute, ein Gemisch aus Bediensteten, Schauspielern und zwielichtigen Gestalten in Mordanschläge verwickelt waren.

Er brachte nicht nur mit unglaublicher Verschwendung sein immenses Vermögen durch, sondern brachte es durch seine hemmungslosen sexuellen Eskapaden, bei denen er nichts ausließ, dazu, dass er in den späten Jahren gesellschaftlich geächtet war. Er starb, Alkoholiker und von körperlichem Verfall gezeichnet 1604.

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Man konnte sich schon immer wundern, warum der Mann aus Stratford in späten Werken wie "King Lear", "Macbeth", "Timon", "Perikles", "The Tempest", zu einer Zeit als die Geschäfte blendend liefen und er zu einem der wohlhabensten Männer in Stratford aufstieg, Stücke schrieb, die immer düsterer und depressiver werden und ausnahmslos von Männern handeln, die ihr Geld, ihre Macht und ihr Ansehen verloren haben.

Noch heute ist "King Lear" ein unverdaulicher Brocken, der bei den meisten Menschen Abscheu und Unverständnis auslöst. Warum Shakespeare, dem es angeblich nur ums Geldverdienen ging, sich die Mühe machen sollte ein solches überlanges, inkommensurables Stück zu schreiben, ist nur eines der zahllosen Widersprüche, die schon immer Verwunderung ausgelöst haben.

Denn auch wenn die Verfasserschaftsdiskussion erst im 19. Jahrhundert aufkam, Verwunderung über das Phänomen Shakespeare gab es schon viel früher. Schon Nicholas Rowe (1674-1718), der sich als erster für die Biographie Shakespeares interessierte schrieb angesichts der schmalen Bildung, die dieser genossen hatte: „it cannot but be a Matter of great Wonder that he should advance Dramatick Poetry so far as he did“.

Andere Seltsamkeiten sind, dass seine Tochter Susanna Analphabetin war (zur damaligen Zeit nicht ungewöhnlich, doch für die Tochter eines Schriftstellers doch merkwürdig), dass sein Testament weder Bücher noch Manuskripte erwähnt und dass alle Dokumente, die sich auf seine Person beziehen lassen, immer nur vom "player", d.h. Schauspieler sprechen.

Das stärkste und im Grunde einzige Beweisstück für die Verfasserschaft des Mannes aus Stratford ist die sogenannte Folio Ausgabe der Werke von 1623, die zweifelsfrei den Mann aus Stratford als Autor der Stücke proklamiert. Doch wenn man weiß, dass die Brüder William und Philip Herbert, denen diese Ausgabe gewidmet ist und die sie wahrscheinlich auch finanziert haben, enge Vertraute Oxfords waren und Philip Ehemann der jüngsten seiner drei Töchter Susan war, erscheint selbst dies in anderem Licht.

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The Tempest, eines seiner letzten Stücke, reflektiert ziemlich exakt die Situation des späten Oxford, des vom Hofe ausgestoßenen, der als Zauberer in seinem eigenen Reich mit Ariel und Caliban, seinen dichterischen bzw. animalischen Neben-Ichs, lebt und auf Rache sinnt. Als Miranda und Ferdinand sind unschwer seine Tochter Susan und Philip Herbert zu erkennen (in ähnlicher Konstellation übrigens auch als Cordelia und King of France in King Lear). Dessen Vater Henry Herbert war Vertrauter von Robert Dudley, Earl of Leicester, einer von Oxfords Erz-Rivalen, der eben jene Karriere am Hofe machte, für die auch er prädestiniert gewesen wäre.

Doch wie sich die Rache in The Tempest in Bitterkeit und Verzweiflung umschlägt, so entspricht die Tonart der letzten Stücke, allen voran King Lear, Macbeth und The Winter's Tale, der Agonie von Oxfords letzten Jahren, des gefallenen Gottes, der vielen furchtbares angetan und seinen Namen und sein Geschlecht ruiniert hat.

Schon viel früher hat Oxford Traumata erlebt, die sein Leben erschüttert haben und im Werk Shakespeares tiefe Spuren hinterließen. Das erste waren die Zweifel an seiner legitimen Geburt, mit der er als 13jähriger konfrontiert wurde. Zwar konnte er letztendlich seinen Titel behalten, doch tauchen das Thema des Bastardentums obsessiv immer wieder bei Shakespeare auf, am prominentesten sicher in King Lear.

Das andere Trauma war das der Eifersucht. Als Oxford frisch verheiratet jedoch alleine in den 70er Jahren durch Italien reiste, erfuhr er, dass seine Frau ein Kind bekommt und war lange Zeit fest davon überzeugt, dass es nicht von ihm ist. Als narzisstische Persönlichkeit besonders anfällig für krankhafte Eifersucht, brachte ihn der Gedanke schier um den Verstand. Es ist schrecklich mit anzusehen wie er seine Frau jahrelang damit quälte, doch woher Othello und Jago ihre Überzeugungskraft haben, fragt man sich angesichts dessen nicht mehr.

Dass Oxford homosexuell war, war ein offenes Geheimnis, und es scheint, dass vor allem seine päderastischen Eskapaden ihm gesellschaftlich das Genick brachen. Den Leser der Sonette dürfte das wenig verwundern, dokumentieren sie doch Oxfords wahrscheinliche größte Leidenschaft, die zu Herny Wriothesley, dem Earl of Southampton, dem auch die beiden Versepen "Venus and Adonis" und "The Rape of Lucrece" gewidmet sind.

Die Merkwürdigkeit, warum der Autor der Sonette den Angebeteten zunächst zur Heirat drängt, löst sich einmal mehr völlig selbstverständlich auf. Denn Southampton sollte, vor allem aus dynastischen Gründen, Oxfords älteste Tochter Elizabeth heiraten. Doch obwohl es bereits ein schriftliches Arrangement gab, weigerte sich hartnäckig und musste dann tatsächlich eine Strafe wegen Vertragsbruch zahlen.

Die andere Protagonistin der Sonette, die ominöse "Dark Lady", ist eine weitere wichtige Persönlichkeit in Oxfords Leben. Die meisten Leute haben ja eine völlig falsche Vorstellung von dieser Dark Lady. Sie ist keine junge rassige Schönheit sondern eine Dame fortgeschrittenen Alters mit verblühenden Reizen, falschen Zähnen und Mundgeruch. Es handelt sich um Oxfords zweite Frau Elizabeth Trentham, zu der er, anders als zu seiner ersten Frau Anne Cecil, auch ein intensives persönliches Verhältnis hatte. Sie war selbstbewusst und besitzergreifend, was Oxford ausgeprägte spielerische Triebe weckte. Was übrigens auch eines der bevorzugten Themen von Shakespeares Komödien ist: Liebe, die zunächst nicht vorhanden ist, durch Spiel und Wettkampf zu induzieren.

Als Oxfords älteste Tochter dann William Stanley, Earl of Derby, heiratete, wurde bei den Feierlichkeiten The Midsummernights Dream durch Shakespeare's Schauspieltruppe gegeben. Oberon und Titania spiegeln wohl ungefähr das Verhältnis wieder, das Oxford und seine Frau zu dieser Zeit verband und auch im Verhältnis zwischen Anthony und Cleopatra dürfte einiges aus dieser Beziehung eingeflossen sein.

Wie Elizabeth Trentham war auch Anne Vavasour eine maid of honor von Elizabeth I. gewesen. Als Oxford eine Affäre mit ihr hatte, war er noch mit seiner ersten Frau Anne Cecil verheiratet. Anne Vavasour, die Southampton übrigens verblüffend ähnlich sah, war gerade frisch an den Hof gekommen, als Oxford sich ihr näherte. Die maids of honor waren eigentlich für Männer tabu und Oxford bekam auch mächtig Ärger dafür. Doch war es wohl genau das, was ihn daran reizte. Er war diese Art von Spielernatur, denen die Gefahr eine Steigerung des Lebensgefühls bedeuten.

Das ist es auch, was Romeo and Juliet den besonderen Reiz verleiht. Ohne die verfeindeten Häuser wäre es eine völlig konventionelle Liebesgeschichte, erst der Widerstand der Gefahr und der Aussichtslosigkeit verleihen ihr diese existenzielle Wucht. Doch diesmal musste Oxford dafür mit seiner Gesundheit bezahlen. Denn in den Straßenkämpfen, die Anne Vasavours Bruder und Onkel als Vergeltung für die Entehrung mit Oxfords Leuten anzettelten, wurde nicht nur einer von Oxfords Leuten getötet (wofür er ihn als Mercutio unsterblich machte) sondern auch Oxford trug eine ernsthafte Verletzung davon, die ihn für den Rest seines Lebens hinken machte.

Hamlet schließlich führt zurück in Oxfords junge Jahre, ist gewissermaßen sein Werther oder Tonio Kröger. Wie auch manche Stratfordianer vermuten ist Hamlet wohl eigentlich ein frühes Stück, das Shakespearer in den späten 90er Jahren nochmal grundlegend überarbeitet hat.

Es ist nicht nur das Stück, das in der Figur des Hamlet am unmittelbarsten den Charakter Oxfords offenbart, es ist auch das Stück mit den deutlichsten biographischen Parallelen. Als Oxford 12 Jahre alt war, starb sein Vater, der 16. Earl of Oxford überraschend. Seine Mutter heiratete nur kurz darauf erneut. Der junge Edward de Vere wurde darauf hin unter die Obhut von William Cecil, Lord Burghley, Schatzmeister und engster Vertrauter der Königin, gestellt und wuchs in dessen Haushalt und damit in nächster Nähe zum Hofe auf.

In diesem Haushalt lebten auch Cecils Tochter Anne, spätere erste Frau von Oxford und sein Sohn Robert. Diese Konstellation ist genau so in Hamlet abgebildet, mit Polonius, Ophelia und Laertes. Robert Cecil tat auch in Wirklichkeit wie Laertes Spionagedienste für seinen Vater. Und Lord Burghley war wohl genau dieser harte, doch durchaus verbindliche Pragmatiker, der Polonius ist.

Oxford war genau jener bücherverliebte, narzisstische und theaterverrückte junge Adelige, der Hamlet ist. Schon Oxfords Vater unterhielt eine kleine Theatergruppe, die auch sein Sohn sein Leben lang unterhalten wird. Die Abkehr der Mutter, die er wie einen Verrat empfinden musste, das schwierige Verhältnis zum autoritären Lord Burghley, das ambivalente Verhältnis zu Anne Cecil, deren Liebe und Bewunderung seinem Narzissmus schmeichelten, zu der er sich aber eigentlich nicht hingezogen fühlte. Überhaupt der Weltschmerz eines jungen Mannes, der sich Rache- und Weltuntergangsphantasien hingibt. Alles das entspricht vollkommen dem Erfahrungs- und Erlebnishorizont, der sich in Hamlet spiegelt.

Und dann schließlich noch dieses kuriose Detail, als Hamlet bei seiner Rückkehr nach England von Piraten überfallen wird und nackt mit dem Leben davonkommt. Genau das, etwas das einem auch damals nicht alle Tage passierte, ist auch Oxford zugestoßen.

Die genannten Beziehungen sind nur die alleroffensichtlichsten, man könnte noch lange weiter fortfahren. Einzelne Parallelen könnten sicher Zufall sein, doch bei dieser kummulierten kohärenten Übereinstimmung, nicht nur von einzelnen biographischen Details sondern vor allem von charakterlichen Dispositionen und persönlichen Konstellationen, mag ich kaum mehr an Zufall glauben.

Was mich vollends zum Konvertiten machte, war jedoch kein pro-Oxford Buch sondern Stephen Greenblatts Biographie "Will in the world". Was dieser von mir hoch geschätzte Shakespeare Forscher an Beziehungen zwischen dem Leben des Mannes aus Stratford und Shakespeares Werk zutage förderte, war so läppisch und kümmerlich und hielt sich an völlig peripheren Aspekten von Shakespeares Werk auf, dass alle Skepsis, die ich der Oxford-Verschwörungstheorie noch entgegenbrachte, sich auflöste.

Denn das muss man zugeben, es ist eine Verschwörungstheorie. William und Philip Herbert und Susan de Vere müssen die Öffentlichkeit bewusst getäuscht haben, als sie den Strohmann William Shakespeare offiziell zum Autor der Stücke Oxfords erklärten. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Ich halte es durchaus für möglich, dass es auf Oxfords eigenen Wunsch zurückging. Es entspricht durchaus der extremen dialektischen Dynamik zwischen Weltbeherrschung und Selbstauslöschung, das Shakespeares Werk prägt. Am Ende muss immer tabula rasa gemacht werden. Schon in Hamlets berühmten letzten Worten schwingt das mit: The rest is silence.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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