Wiederbegegnung mit Tolstoi

Krieg und Frieden Leo Tolstois monumentaler Roman erscheint viele Jahre nach der ersten Lektüre in neuem Licht. Er hat sich mit seinem Leser gewandelt.

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Als ich vor ein paar Monaten begann, Tolstois "Krieg und Frieden" nach vielen Jahren zum zweiten Mal zu lesen, war ich geradezu aufgeregt vor Vorfreude. Der Roman war eine der schönsten Leseerfahrungen meiner jungen Jahre gewesen. Doch gleichzeitig beschlich mich auch eine gewisse Bangigkeit. Würde sich der gewaltige Eindruck, den der Roman damals auf mich gemacht hatte, nochmal wiederholen lassen?

Um den Wermutstropfen gleich vorwegzunehmen: natürlich hat sich der Eindruck nicht in gleicher Weise wiederholt. Das aufregende Gefühl des "ersten Mal" lässt sich nun einmal nicht einfach reproduzieren. Bei all den begeisterten Lesestunden, die mir der Roman trotz allem bescherte, eine gewisse Trauer um diesen Verlust begleitete die Lektüre die ganze Zeit.

Was mir, vor allem im Vergleich mit "Anna Karenina", sehr deutlich bewusst wurde, ist, dass "Krieg und Frieden" das Werk eines noch relativ jungen Mannes ist. Tolstoi war in den 30ern als er den Roman schrieb und vielleicht konnte er dieses gewaltige Unterfangen auch nur deshalb bewältigen, weil er es in einem noch jugendlichen Gefühl der Unverwundbarkeit und ohne Zweifel an seinen Kräften und seinem Wissen ins Werk setzten konnte. Nicht nur, dass er alle Historiker und Kriegstheoretiker ständig belehrt, auch die psychologischen Kommentare und moralischen Verdikte haben eine kecke Selbstherrlichkeit von jemanden, der überzeugt davon ist, über alles und jedes Bescheid zu wissen.

Und man kann es ja auch nicht leugnen. Als Psychologe und Gesellschaftsanalytiker ist bereits von Anfang an nahezu ohne Vergleich, auch wenn manches in "Krieg und Frieden" vielleicht noch etwas zu eindimensional ist. Worin die gewaltige Kluft zwischen "Krieg und Frieden" und "Anna Karenina" besteht, ist, dass er dazwischen dahingehend "erwachsen" geworden ist, dass die psychologischen Zweifel die eigene Selbstsicherheit unterwandert haben. Dass unter der ersten psychologischen Dimension weitere komplexe und paradoxe Schichten zum Vorschein kommen.

Anna Karenina und Wronsky sind ja Wiedergänger zweier Gestalten, die in "Krieg und Frieden" mit einem klaren moralischen Verdikt verurteilt werden. Helene Besuchow und Anatol Kuragin sind die beiden vergnügungssüchtigen, moralisch degenerierten Gestalten, die das gute ideale Paar Pierre und Natalia vom rechten Pfad abbringen.

In "Anna Karenina" gesteht Tolstoi gewissermaßen ein, dass er es sich in "Krieg und Frieden" zu einfach gemacht hat. Er erkennt an, dass Liebe und Leidenschaft, auch wenn sie moralisch nicht akzeptabel sind, Lebenskräfte sind, die auf einer übergesellschaftlichen naturhaften Ebene wahrhaftiger und richtiger sind als aller gesellschaftliche Pragmatismus und moralische Idealismus, und errichtet ihnen ein tragisches Denkmal.

Man sagt landläufig, Tolstoi habe sich, wie in Lewin in "Anna Karenina", in "Krieg und Frieden" in Pierre Besuchow selbst portätiert. Daran glaube ich in seiner Ausschließlichkeit immer weniger. Gerade wenn man die frühen Romane und Tagebuchaufzeichnungen kennt, dürfte einem klar sein, dass Nikolai Rostow, und selbst Dolochow und Kuragin ihm rein biographisch eigentlich viel näher stehen. Die Jagdleidenschaft Nikolais kennt man aus den autobiographischen Jugendromanen und Tolstois eigene Militärzeit im Kaukasus, mit den übermütigen Tollheiten, Glücksspiel und sexuellen Ausschweifungen sind in den Tagebüchern sehr gut dokumentiert.

Zwar tragen auch Pierre Besuchow und Andrei Bolkonsky deutliche Züge Tolstois. Tolstoi unternahm ausführliche Bildungsreisen ins Ausland, interessierte sich für Philosophie und Freimaurerei und las viel, auch deutsche und französische Literatur, doch letztendlich stand ihm persönlich der Instinktmensch Nikolai doch am nächsten.

Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die Geschichten des Hauses Rostow um Nikolai, Natalia, Sonja und Petja schon immer und bis heute die größte Ausstrahlung haben und für die ungebrochene Popularität des Romans verantwortlich sind. Auch bei der erneuten Lektüre waren es diese Teile, die atmosphärisch am stärksten wirkten und haften blieben.

Wer daneben mehr in den Fokus meines persönlichen Interesses geriet, war weniger Pierre Besuchow als Andrei Bolkonsky. Er, der zweimal in der Schlacht schwer verwundet wird, symbolisiert gewissermaßen die persönliche offene Flanke Tolstois. Die Stelle, an der die Zweifel am Sinn des richtigen Lebens einsickerten, eben jene Zweifel, die Tolstois weiteres Leben und Wirken bestimmen werden.

Der Epilog nach Andreis Tod, hat, das spürte ich schon damals, trotz des happyendings mit den beiden glücklich zusammengefundenen Paaren etwas merkwürdig halbherziges. Man meint schon hier zu spüren, dass Tolstoi nicht mehr mit ganzem Herzen dabei ist und in gewisser Weise schon über den Roman hinausgewachsen ist.

Bestimmt die Hälfte des Romans kam nur vage in meiner Erinnerung vor oder war mir komplett entfallen. Manches liest man also tatsächlich nochmal wie zum ersten Mal. Insbesondere die Passagen über Historie, Krieg und Machtpolitik habe ich diesmal mit weit mehr Interesse gelesen wie damals.

Ich kann mich erinnern, dass mir damals die Geschichtsphilosophie Tolstois konfus vorkam. So wirkte sie zum Teil auch diesmal, doch begreife ich inzwischen mehr, worauf Tolstoi hinauswill. Für Tolstoi sind historische Entwicklungen wie tektonische Bewegungen und ihre Protagonisten eigentlich nur Statisten, auf deren Handeln es im einzelnen überhaupt nicht ankommt. Dass Napoleons Größenwahn irgendwann an seine Grenzen stoßen und seine Welteroberung kollabieren würde, war im Grunde vorprogrammiert. Der Verlauf der Kriege sei weder der Klugheit der russischen Generäle noch das Versagen der französischen, sondern Ergebnis eines untergründigen kollektiven Bewusstseins und Handelns.

Tolstoi hatte selber einige konkrete Kriegserfahrung und daher besitzten seine Beschreibung der Kriegsereignisse einiges an Glaubwürdigkeit. Natürlich beruht es auch auf antifranzösischem und antideutschem Ressentiments, dass Tolstoi jede strategische Kriegsplanung für überflüssige Schulmeisterei hält. Doch damit, dass sich alle ausgefeilten Kriegspläne im Getümmel der Schlacht schnell in nichts auflösen, scheint er wohl nicht ganz unrecht zu haben.

Zu den beeindruckendsten Passagen zählen tatsächlich jene, in denen die Kriegseuphorie angesichts der gnadenlosen Realität des Kanonenfeuers nicht nur in pure Angst umschlägt, sondern in Momente der Epiphanie münden, in denen Nikolai und vor allem Andrei sich selbst existenziell in einem überhistorischen Kontext erfahren.

Tolstoi hatte selber etwas stark kreatürliches und gerade nach erneuter Lektüre bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass es jene kreatürlichen Elemente sind, die über alle psychologische und gesellschaftliche Analyse hinaus, für die ungeheure Wirkung Tolstois verantwortlich sind.

Die große Strahlkraft Nataschas rührt von ihrer kreatürlich katzenhaften Selbstbezogenheit, von der auch Anna Karenina einiges hat. Und die Jagdleidenschaft Nikolais rührt daher, dass er sich auf dem Pferd jagend selbst fast in ein Tier verwandelt. Im Kapitel mit der großen Hetzjagd schreibt Tolstoi an einer Stelle auf dem Höhepunkt der Jagd fast beiläufig, dass Nokolais gerade den schönsten Moment seines Lebens hatte. Ich bin bei dieser Stelle (an die ich mich nicht erinnerte) geradezu erschrocken. Sie war vielleicht die Schlüsselstelle meiner diesmaligen Lektüre.

Bei der ersten Lektüre als junger Mensch schien mir Tolstois Welt noch wie ein Versprechen. Auch wenn es historisch natürlich nicht meine Welt war, schien sie doch in ihren elementaren Erfahrungen auch für mich zugänglich und vorstellbar. Dass diese Welt tatsächlich selbst fragil und transistorisch ist, nimmt man als junger Mensch gar nicht wahr. Schon zu Beginn des Romans ist der finanzielle Bankrott des Hauses Rostows ja schon absehbar, die Mütter schachern fast panisch darum ihre Kinder unter die Haube zu bringen, im vollen Bewusstsein der rasch verwelkenden jugendlichen Reize. Und wie volatil die Staatsgeschäfte sind, zumal unter einem schwachen und beeinflussbaren Herrscher wie Alexander I., davon gibt Tolstoi auch einen guten Eindruck.

Diesmal spürte ich dieses Element der Brüchigkeit, der permanenten Zerstörung und des beständigen Wandels als zentralen Eindruck der Lektüre. Gewiss korreliert das auch mit eigener Lebenserfahrung. Man blickt ja selber mit einer gewissen Fassungslosigkeit auf seine Jugend zurück. Auch ohne Krieg hat sich die Welt gewaltig gewandelt. Alleine das Internet dürfte die Welt stärker verändert haben, als so mancher Krieg.

Jene Epiphanien, wie Natascha sich auf dem Ball im Spiegel sieht, jener schönste Moment Nikolais auf der Jagd, wie Andrei bei Austerlitz verwundet am Boden liegend den Himmel betrachtet, gehören in ihrer Unvorhersehbarkeit auch zu jener chaotisch unberechenbaren Welt. Doch sind sie eben auch Momente der Tröstung und Selbstvergewisserung. kreatürliche Momente des existenziellen bei-sich-selber-seins. Dass Tolstoi einen an dieser Erfahrung teilhaben lässt, dafür war ich ihm auch dieses Mal unendlich dankbar.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Thomas.W70

Was vom Leben übrig bleibt / Thomas.W70@web.de

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