Als im Zuge des Bürgerkriegs in Syrien in den kurdischen Gebieten des zerrissenen Staats ein Machtvakuum entstand, begann dort ein politisches Experiment, dessen Ausgang bis heute ungewiss ist. Auf der Grundlage von Abdullah Öcalans Konzept des „demokratischen Konföderalismus“ schuf die kurdische Autonomiebewegung im Sommer 2012 einen Verbund von Selbstverwaltungsorganen. Der seit Jahrzehnten von der Türkei inhaftierte PKK-Gründer hatte sich vom Marxisten-Leninisten zum Anhänger der anarchistischen Idee einer vom Zentralstaat befreiten, basisdemokratischen föderalen Gesellschaft verwandelt.
Mittlerweile umfasst das Autonomiegebiet in den drei Regionen Rojavas – Afrîn, Kobanî und Cizîrê – eine Fläche, die ung
e, die ungefähr ein Drittel Syriens umfasst und für rund fünf Millionen Menschen der unterschiedlichsten Ethnien und Glaubensrichtungen eine Heimat bietet. Gelingt es, dieses Gebilde langfristig lebensfähig zu machen, sodass es für die multikulturelle politische Neuordnung des gesamten Nahen und Mittleren Ostens ein Vorbild werden könnte? Mit seiner Reportage Land der Utopie? Alltag in Rojava legt der Soziologe Christopher Wimmer reichhaltiges Anschauungsmaterial vor, mit dem sich die Lage vor Ort besser beurteilen lässt.Bollwerk gegen IslamismusKlar wird, dass das ölreiche Gebiet die Begehrlichkeiten und strategischen Interessen der umgrenzenden Staaten tangiert. So gilt die Region einerseits als Bollwerk gegen dschihadistische Bedrohungen durch den Islamischen Staat (IS) und die Al-Nusra-Front sowie als Zufluchtsort für viele Tausend Kriegsflüchtlinge. Auf der anderen Seite haben sie sich des von Erdoğan verhängten Wirtschaftsembargos und der ständigen Übergriffe türkischer Truppen zu erwehren. Um die vom IS belagerte Stadt Kobanî zu befreien, gingen die Selbstverteidigungsstreitkräfte ein Zweckbündnis mit einer von den USA angeführten Koalition ein, die den am Boden kämpfenden Verteidigern die dringend notwendige Luftunterstützung gab.Interne Widersprüche und ungelöste Konflikte gibt es zuhauf. Der vielsprachige Schulunterricht ist fortschrittlich, aber die vorhandene Schulpflicht lässt sich aufgrund der schwierigen ökonomischen Situation nicht durchsetzen. Der Grund: Die Kinder werden in vielen armen Familien als Arbeitskräfte gebraucht. Die angestrebte Wirtschaftsverfassung ist umstritten. Die Vorstellungen bewegen sich zwischen einer sozialen Marktwirtschaft nach deutschem Vorbild und einem Sozialismus, dessen Umrisse noch unklar sind. Auf der einen Seite stehen Revolutionäre, die ein kommunales Leben aufbauen wollen, und auf der anderen Seite Menschen, für die das materielle Wohlergehen der eigenen Familie an erster Stelle steht. Eine Aktivistin erklärt es Christopher Wimmer so: „Mit vielen Menschen kannst du sprechen, so viel du willst, am Ende sagen sie, dass sie sich lediglich für ihr Geld und ihr Einkommen interessieren.“Auch in Sachen Geschlechtergerechtigkeit sind die hehren Ziele längst nicht erreicht. Zwar wird die politische, soziale und militärische Teilhabe von Frauen zunehmend anerkannt und ihre Rechte werden durch entsprechende Gesetze abgesichert, doch im Straßenbild der Region sind es nach wie vor die Männer, die man im Qualm der Wasserpfeifen plaudernd und Karten spielend in den Cafés sitzen sieht.Nicht immer funktioniert die Basisdemokratie auf kommunaler Ebene so, wie sie eigentlich sollte. Manchmal braucht es einfach zu lange, bis geklärt ist, welche Ebene für die Lösung eines bestimmten Problems überhaupt zuständig ist. Da kann ein geplatztes Wasserrohr, das von einer gut funktionierenden staatlichen Bürokratie rasch repariert worden wäre, zu einem Dauerärgernis werden. Bei aller Transparenz und Öffentlichkeit der Sitzungen werden Entscheidungen häufig bereits vorab von Spezialisten getroffen. Vielerorts lässt die Beteiligung an den vorhandenen Räten und Komitees deutlich nach. Was um so schwerer ins Gewicht fällt, als die basisdemokratischen Strukturen in den Gebieten mit mehrheitlich arabischer Bevölkerung, die mit politischer Selbstverwaltung und der Theorie des demokratischen Konföderalismus noch wenig Erfahrung gesammelt hat, eher hingenommen als wirklich akzeptiert werden.Die fortdauernde militärische Bedrohung trägt dazu bei, dass an ein Zurückdrängen zentralisierter militärischer Strukturen nicht zu denken ist und die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens einem Staat immer ähnlicher wird. Die Abhängigkeit der Streitkräfte von den USA, die fast die gesamten Ausgaben bereitstellen, ist enorm, in diesem Jahr sind es über 180 Millionen Dollar. Auch der syrische Staat hat noch großen Einfluss. Er kontrolliert nach wie vor Teile des Gesundheitswesens, der Wasser- und Elektrizitätsversorgung und unterhält eigene Bildungseinrichtungen in der Region. Die Gehälter vieler staatlicher Angestellter, darunter auch Lehrer, werden weiterhin aus Töpfen des verhassten Assad-Regimes bezahlt. Das so entstandene Geflecht von Machtstrukturen ist kaum zu durchschauen und erschwert Prognosen über die Zukunft des Demokratieprojekts. Zum Zeitpunkt von Wimmers Reportage herrscht ein vom Exekutivrat beschlossener Ausnahmezustand, in dem die lokalen Räte nur ausführenden Charakter haben.In ökonomischer Hinsicht ist die Autonomieregion weitgehend von der Steuer- und Wirtschaftspolitik des Assad-Regimes betroffen – Inflation und Wechselkursschwankungen des Syrischen Pfunds inbegriffen. Die Probleme des Alltags sind groß. Wir erfahren vom Wassermangel und großer Armut insbesondere unter der Landbevölkerung. Man will eine kostenlose medizinische Versorgung bereitstellen. Aber für Verbände, Tabletten oder Rollstühle müssen die Patienten in der Regel selbst aufkommen und für Volkskrankheiten wie Bluthochdruck und Diabetes sind die Medikamente rar und teuer. Die Mitarbeiterin einer Stadtverwaltung sagt: „Wir haben manchmal keinen Strom und dann kann ich nicht für meine Kinder kochen. Klar, es ist besser als im Rest Syriens, aber es fehlt uns an allem. Ich wünsche mir für meine Kinder doch nur ein ruhiges Leben in Frieden.“Während die Situation in Rojava großen Teilen der Öffentlichkeit nach wie vor völlig unbekannt ist, haben viele radikale Linke die Region zur Projektionsfläche für die eigenen revolutionären Hoffnungen gemacht – ähnlich wie das zapatistische Chiapas und chavistische Venezuela in den 1990ern. Am Ende von Wimmers Buch angelangt, weiß man jedoch, warum der Begriff der Utopie im Titel mit einem Fragezeichen versehen ist. Der Alltag in Rojava ist weit davon entfernt, die Realisierung einer emanzipatorischen Vision zu sein. Trotzdem ist das Projekt nicht chancenlos. Vonnöten wäre mehr internationale Solidarität und die Bereitschaft der hiesigen Medien, sich ernsthaft mit der Situation vor Ort zu befassen. Christopher Wimmer hat dazu einen wertvollen Beitrag geleistet. Seine Reportage verbindet die empathische Neugier des Journalisten mit dem Blick des Soziologen für gesellschaftliche Widersprüche und politische Konfliktlagen.Placeholder infobox-1