Griechisches Alphabet dank Covid-19

Coronapandemie Wie weit müssen und wollen wir angesichts der Pandemie das griechische Alphabet noch lernen?

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Delta, Epsilon, Zeta, Eta, ...

Neuerdings werden die Virus-Mutationen offensichtlich nicht mehr nach dem Land des ersten Auftretens bezeichnet, sondern nach den Buchstaben des griechischen Alphabets. Das ist erstmal eine erfreuliche Entwicklung - reduziert es doch rassistische Ressentiments, Diskriminierung und Beleidigungen, wie wir sie bei der "britischen" oder "südafrikanischen" Variante gesehen haben. Die nüchterne Klassifizierung nach wertneutralen griechischen Buchstaben könnte darüber hinaus dabei helfen, die Debatten über die Gefährlichkeit der Infektionskrankheit und die angemessenen Schutzmaßnahmen etwas zu entemotionalisieren und die beiden Lager der Maßnahmenbefürworter und -ablehner wieder etwas näher zu bringen.

Doch was diese neue Nomenklatur ebenso im Subtext übermittelt, kann auch erschrecken. Denn sie lautet: Wir haben noch 23 weitere Buchstaben in petto, um weitere Varianten des Virus zu benennen. Dieser Umstand holt eine Frage hervor, die angesichts sinkender Infektionszahlen und des anstehenden Sommers erfolgreich verdrängt wurde:

Wann ist die Pandemie vorbei und eine Rückkehr zur "Normalität" denkbar?

Zweifelsfrei zu beantworten ist diese Frage sicherlich nicht. Bereits jetzt, vor dem eigentlichen Beginn des Sommers, (von dem SPD-Gesundheitsexperte und Pandemieforscher Karl Lauterbauch mehrfach öffentlich bekundete, dass es ein "guter Sommer" werden könnte), warnen diverse Virolog:innen, die vierte Welle stünde uns schon im Herbst vor der Tür. Und tatsächlich: Lehrer:innen gehen Umfragen zufolge auch nach den Sommerferien noch nicht von einem normalen Regelunterricht aus, und die Aussetzung der Maskenpflicht in Schulen und Supermärkten erscheint uns wie eine verrückte Utopie. Wenn ich Spielfilme anschaue, in denen sich Menschen in den Arm nehmen, zucke ich manchmal reflexartig zusammen. In einigen Regionen und Ländern explodieren die Fallzahlen der Delta-Variante. Erst gestern (26. Juni) wurde eine weit greifende Reiserückkehrer-Quarantäne für Portugal und Russland beschlossen. Hinzu kommt, dass die einschlägigen Impfstoffe gegen Covid-19 offenbar diversen Studien zufolge eine geringere Schutzwirkung vor Infektionen haben.

Gleich mehrere Hoffnungsfunken

Dennoch bin ich optimistisch und möchte dagegen halten: Eine potentielle vierte Welle trifft die Gesellschaft als Ganze, die Politik und die individuellen Immunsysteme nicht unvorbereitet, denn:

Das Virus ist nicht komplett unbekannt für jedes Immunsystem

Nach über 18 Monaten der Pandemie sind diverse Varianten des Virus in die Breite der Gesellschaft diffundiert. Selbst wenn Infektionsschutzmaßnahmen und Abstandsregeln streng eingehalten wurden, ist es nicht unplausibel, dass einige Menschen, die nicht erkrankt sind, dennoch mit geringen Dosen des Virus in Kontakt gekommen sind. Diese Dosen reichten möglicherweise nicht für eine Infektion, jedoch ist das Virus für das Immunsystem vieler Bürger möglicherweise nicht mehr komplett unbekannt, so wie es noch im Februar 2020 der Fall war. Auch die Zahl der so genannten "Genesenen" ist gestiegen, und die Dunkelziffer der Genesenen ist unerforscht: Wer asymptomatisch erkrankt war, weiß möglicherweise gar nicht, dass er zu den Genesenen zählt, da Flächen deckende Antikörpertests bisher nicht durchgeführt werden. Gemeint sind damit nicht die verbreiteten Schnelltests und Selbsttests, die zu den Antigentests gehören.

Wenn diese Annahmen zutreffen, dürfte die Zahl der schweren Verläufe mit Intensivstation-Aufenthalt, die bisher das Nadelöhr darstellten (zumindest wenn man Spahn & Wieler & Co. Glauben schenken darf), geringer ausfallen. Auch wenn neue Varianten auftreten und diese infektiöser oder gefährlicher sind als vorherige, so dürfte der Stamm aller dieser Viren sich so weit ähneln, dass nicht jedes Immunsystem bei der Bekämpfung und Entwicklung einer Immunantwort nicht bei "0" anfängt.

Die Impfstoffe sind gegen Delta zwar weniger wirksam, aber nicht unwirksam. Die Impfkampagnen laufen auf Hochtouren

Nach über 18 Monaten der Pandemie ist auch der Impffortschritt beachtlich. Wenn auch die vorhandenen Impfstoffe eine geringere Wirksamkeit gegen einige Varianten des Virus aufweisen, so ist dennoch ein gewisser Schutz da, der die Zahl der Infektionen etwas geringer halten sollte und auch die Schwere der Verläufe abmildern sollte. Zumindest für die Delta-Variante berichten Wissenschaftler und Politiker unisono von einer gewissen Schutzwirkung, wie hoch auch immer diese nun tatsächlich ist.

In den medizinisch betrachteten Risikogruppen gibt es eine hohe Impfquote

Die vulnerablen Gruppen, die mit höchster Priorität geimpft wurden, da sie erstens den mit Abstand größten der Intensivstation-Patienten stellten und zweitens einen extremen Anteil an den Todesfällen mit oder an Covid-19 stellten, genießen einen gewissen Schutz. Das reduziert den Druck auf die Politik für harte Lockdown-Maßnahmen.

Erfahrungsschatz der Wissenschaft und Politik

Völlig überrumpelt und hilflos standen wir im Februar 2020 einem völlig unbekannten Gegner gegenüber. Politik, Verwaltung und Bürokratie stampften Infektionsschutzmaßnahmen aus dem Boden, über die so mancher heute rückblickend die Haare rauft: Es fehlte die Spezifität, die Filigranheit, die zielgerichteten Feininstrumente. Stattdessen wurde der Holzhammer mit pauschalen Regeln und Beschränkungen erlassen in der Hoffnung, dass irgendeine davon schon Wirkung tragen sollte. Dieses Vorgehen brachte viel Politikverdrossenheit und Protest. In Zukunft, auch durch die wissenschaftliche Auswertung der Zahlen und Daten, sind wir in der Lage, sehr viel feinere und weniger beschränkende Einzelmaßnahmen zu erlassen, die trotzdem wirksam sind. Ein weiterer pauschaler Lockdown wie es ihn gab, rückt auch für den Herbst aus meiner Sicht in weite Ferne und wird zunehmend unwahrscheinlicher. Auch der Protest in Teilen der Bevölkerung sowie diverse Urteile von Gerichten zur Güterabwägung zwischen Schutzbedürfnissen und Freiheit der Bürger machen pauschale Beschränkungen für die Zukunft unwahrscheinlicher.

Sinn und Unsinn der 7-Tage-Inzidenz

Sorgenvoll wird täglich auf die 7-Tage-Inzidenz geschaut. Es muss weiterhin erlaubt sein, diese Zahl als Messgröße für politische Infektionsschutz-Entscheidungen in Frage zu stellen: So lange die Zahl der Intensivbetten abzüglich eines Puffers ausreicht, und so lange ein großer Teil der Infektionen harmlos verläuft, dürften keine harten neuen Lockdown-Maßnahmen im Herbst oder Winter mehr zu erwarten sein bzw. nach gerichtlicher Überprüfung zurückgenommen werden.

Ob all diese Faktoren nun einen Weg in die "Normalität" ebnen, oder ob sie uns in eine "neue Normalität" (für mich das Unwort des Jahres 2020) führen, das bleibt abzuwarten. Man mag das anzweifeln, aber ich bin vor diesem Hintergrund hoffnungsvoll, dass wir infektionsbiologisch-medizinisch noch einige Herausforderungen zu bestehen haben werden, aber "das Schlimmste hinter uns haben". Allerdings haben wir bei all unseren Maßnahmen etwas aus dem Blick verloren:

Wann können wir uns um die neuen, SOZIAL vulnerablen Gruppen kümmern?

Ist es nun also Zeit, sich im Herbst trotz zu erwartender steigender 7-Tage-Inzidenz und trotz möglicher neuer Virusmutationen den neuen gesellschaftlich und sozial vulnerablen Gruppen unserer Gesellschaft zuzuwenden, nachdem die medizinisch vulnerablen Gruppen in den letzten Monaten stark in den Blick genommen wurden? Gemeint sind beispielsweise

- Jugendliche, die sich nach sozialer Nähe zu Freunden und Gruppen sehnen und deren Identitätsbildung davon abhängt;

- Kindergartenkinder, die in Interaktion mit Gleichaltrigen heute die Grundlagen von friedfertiger Konfliktkultur und des Zusammenlebens lernen;

- Jugendliche an weiterführenden Schulen, deren Berufs- und Lebenschancen von einer durchgängigen und guten Schulbildung abhängen;

- Jugendliche, die durch Sportlosigkeit und Bewegungsmangel adipös werden und ihre Gesundheit und Psyche gefährden;

- Alleinerziehende, deren Karrierechancen durch die eingeschränkte Betreuung ihrer Kinder eingeschränkt werden;

- Ältere Menschen, die als Teil der Risikogruppe durch die Kontaktbeschränkungen vereinsamen und möglicherweise allein sterben;

- Personen, die durch die Verlagerung des Lebensmittelpunkts auf das Haus noch stärker als sonst unter häuslicher Gewalt leiden;

- Solo-Selbstständige, Kleinunternehmer, Künstler und mittelständische Betriebe z.B. aus der Unterhaltungsbranche, der Gastronomie, dem stationären Einzelhandel und andere nicht abhängig Beschäftigte, die wirtschaftlich stark unter den Lockdowns gelitten haben;

- Kurzarbeiter, die ihre Familien ernähren und Kredite bezahlen müssen;

Diese Liste könnte man vermutlich um eine Handvoll weiterer Punkte verlängern. Deutlich ist für mich jedenfalls: Falls uns der kommende Herbst von einer schweren vierten Welle verschont, dann ist das noch kein Grund zum Aufatmen, denn nach der Pandemiebekämpfung steht die Pandemiefolgenbekämpfung auf der Tagesordnung. Wünschen wir uns dabei in unser allem Interesse viel Erfolg!

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