Ob man ihn nun mag oder nicht – man möchte dem umstrittenen neuen Gesundheitsminister einfach gerne glauben. „Wir werden die Pandemie besiegen", versprach Karl Lauterbach Anfang Dezember. Die Sehnsucht ist nach fast zwei Jahren im Ausnahmezustand denn auch riesig. Doch unabhängig vom weiteren Verlauf der Pandemie wird Corona nicht so einfach verschwinden. Die Rede ist hier nicht nur vom Virus und den Schäden, die es anrichtet, sondern vor allem von politischen Entscheidungen, psychischen Lasten und sozialen Verwerfungen. Diese bisher einzigartige globale Erschütterung wird uns noch lange beschäftigen. Weil die Auswirkungen der Corona-Politik die Welt nachhaltig verändern. Und weil diese Pandemie als eine Art Blaupause für eine noch schlimmere Krise dient: die Klimakatastrophe. Es lohnt also zu verstehen, welche Interessen und Sehnsüchte die herrschende Politik in letzter Zeit gestillt hat – und was dies für den Umgang mit der Klimakrise bedeutet.
Zunächst war da Hoffnung: Als Corona zur Pandemie erklärt wurde, nahmen die Regierungen das Heft des Handelns wieder selbst in die Hand. Gerade vielen Linken galt das als Erfolg. Nachdem der Neoliberalismus den Staat zunehmend zum Nachtwächter degradiert hatte, sollte dieser endlich wieder seine Kernaufgabe übernehmen: nämlich seine Bürger:innen vor Gefahren zu schützen und für sie da zu sein. Von all der Hoffnung ist aber leider nicht viel geblieben. Im Schatten der Krise hat sich unserer Gesellschaft vielmehr in ungeahntem Tempo verändert. Diese Transformation lässt sich auf eine einfache, zugespitzte Formel bringen: Mehr Wirtschaft, noch mehr Armut – und weniger Freiheit.
Gesundheit, das neue Supergrundrecht
Im Mantel der Fürsorge hat die Regierung die Menschen wochenlang zuhause eingesperrt, statt Risikogruppen zu schützen. In Hessen etwa wurde eine Testpflicht in Altenheimen erst im Dezember 2020 eingeführt. Und selbst als im vergangenen Sommer die heilige Marke der Inzidenz alle Zielmarken unterschritten hatte, wurden Jugendliche noch mit Polizeigewalt durch Parks gejagt. Das, was der französische Philosoph Michel Foucault bereits vor über 40 Jahren „Biopolitik“ nannte, ist in eine neue Epoche getreten: Gesundheit ist zum Supergrundrecht geworden – und zugleich zu einem Feigenblatt für eine unsoziale und autoritäre Politik. Wie sonst ist es zu erklären, dass die Regierung mit der Strategie des ewigen Lockdowns unabsehbare psycho-soziale Schäden in Gang setzte? Wen interessieren die zahlreichen Opfer häuslicher Gewalt – oder die Gesundheit von Familien, die am Belastungslimit sind und ständig mit geschlossenen Schulen oder Kitas kämpfen?
Während der helfende Staat also schneller als das Virus selbst mutiert ist und sich längst von seiner repressiven Seite zeigt, trifft seine Autorität nicht alle gleichermaßen: Als unsere Wohn- und Schlafzimmer kontrolliert werden sollten, waren ausgerechnet Büros von dieser Kontrolle ausgenommen. Während Menschen in ihrer freien Zeit isoliert werden, müssen sich Arbeiter:innen in Bahnen und Fabriken dicht an dicht drängen. Immerhin gilt am Arbeitsplatz nun 3G – während Kulturstätten aber mit 2G+ oder der kompletten Schließung kämpfen. Ganz im Sinne neoliberaler Ideologie erleben wir eine Art Individualisierung der Verbotspolitik: Massive Einschränkungen gelten zwar für das Kultur- und unser Privatleben, aber eben kaum für die Wirtschaft. Dasselbe passiert in der Klimadebatte, die sich allzu oft um Fleischsteuern oder die Moralisierung des Fliegens und Autofahrens dreht, statt um einen echten Systemwandel. Dabei verursachen gerade einmal 100 Konzerne 70 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen.
Doch ihre Gewinne scheinen heilig – das lehrt die Coronakrise einmal mehr. Während viele Menschen immense Opfer brachten, konnten Global Player, die Digital- und Teile der Pharmawirtschaft sowie die Superreichen massiv von der Krise profitieren. So stieg ausgerechnet im Coronajahr 2020 die Zahl der Millionäre weltweit auf über 20 Millionen. Ihr Vermögen wuchs in dieser Zeit um fast 67 Billionen Euro. Gleichzeitig garantieren mit öffentlichem Geld geförderte Impfpatente auf unabsehbare Zeit Milliardengewinne – die Staaten des Globalen Südens aber liegen noch verwundeter am Boden. Die Parallelen zwischen dem herrschenden Impfnationalismus und der Klimapolitik jedenfalls sind unübersehbar: Was kümmern uns Zerstörung und Verwüstung in der Ferne (an der wir eine große Mitverantwortung tragen), so lange es uns gut geht? Ein nicht nur inhumaner, sondern auch ein ziemlich kurzsichtiger Blick, wie sowohl die weltweiten Auswirkungen der Klimakatastrophe als auch die immer neuen Virusmutanten zeigen.
Das Pendant zum Lockdown: der Konsumverzicht
Das Globale wiederum spiegelt sich im Lokalen: Die ohnehin schon Benachteiligten leiden am schlimmsten unter den Krisen – und geraten durch deren Bekämpfung noch weiter in Not. Statt vertrauensbildender Maßnahmen und mehr niedrigschwelliger Impfangebote wird nun entgegen früherer Versprechen laut über eine allgemeine Impfpflicht nachgedacht – als würden so vor allem Querdenker in die Knie gezwungen. Die Wahrheit aber ist, dass Marginalisierte und jene, die kein Vertrauen in öffentliche Institutionen haben, bestraft und aus dem öffentlichen Leben gedrängt werden – unter dem Beifall der bürgerlich-linksliberalen Lockdown-Lobby. Im Kontext der Klimakrise findet diese ihr Pendant in der grün-privilegierte Konsumverzichts-Blase: Man weiß, was gut ist – und kann es sich auch leisten. Auf jene, die nicht gehorchen, schaut man aber mit Verachtung. Und so werden vermutlich bald auch diejenigen, die sich den CO2-Ablasshandel nicht leisten können oder den geforderten Konsumverzicht nicht mittragen (etwa weil sie schon immer verzichten müssen), ausgegrenzt und sprichwörtlich im Kalten sitzengelassen werden.
Doch zurück zu Corona: Während unsere Grundrechte in dieser Krise unverhältnismäßig eingeschränkt werden, wird das Soziale kaum mitgedacht. Dadurch ist ebenso wie durch die schlechte Krisenkommunikation und das oft kurzsichtige Handeln viel Vertrauen in den Staat zerstört worden. So erfahren neoliberale Anti-Etatisten wie die FDP enormen Aufwind – aber nicht aufgrund ihres Widerstands gegen berechtigte Verbote von SUVs und Inlandsflügen, sondern weil sich die Liberalen eben gegen dystopische Maßnahmen wie Ausgangssperren oder Demonstrationsverbote gewandt hatten. Warum wir das eine haben und das andere nicht? Weil kaum jemand den heiligen Kern des neoliberalen Freiheitsverständnisses antasten mag: dass man sich alles kaufen darf, was man sich leisten kann. Dass diese Freiheit jedoch nicht nur in China, sondern auch in Europa mit autoritären Maßnahmen und Überwachung zusammenpasst, das hat die Coronakrise eindrucksvoll gezeigt. Noch ist nicht ausgemacht, ob die kritische Haltung der FDP innerhalb der Ampel-Koalition weiter bröckeln wird, oder sie als liberales Korrektiv wirken wird, das es zuletzt in der Großen Koalition nicht gab. Vielleicht verlegt sich die FDP auch darauf, das Gesundheitswesens gemeinsam mit dem Gesundheitsökonomen Lauterbach, der schon in der Vergangenheit für Privatisierung und Ökonomisierung stand, noch stärker der Verwertungslogik zu unterziehen.
Neoliberalismus statt Aufbruch
Die Bilanz der Covid-19-Krise jedenfalls ist auch ohne Korruptionsaffären und Misswirtschaft schon heute desaströs. Das ist katastrophal – vor allem im Angesicht der Klimakrise. Die Erde erhitzt sich, der Meeresspiegel steigt, Pflanzen und Tiere sterben aus, während Stürme, Überschwemmungen und Dürreperioden zum Normalfall werden. Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre ist in den letzten 60 Jahren um 30 Prozent gestiegen. Die Fakten zum Klimawandel sind eindeutig – gehandelt indes wird kaum. Bei Corona scheint es umgekehrt. Dabei hätte der Aktionismus der vergangenen Monate im besten Fall zum Ausgangspunkt einer progressiven Transformation werden können. Mit den riesigen staatlichen Investitionen hätte das Gesundheitswesen gestärkt und eine sozialökologische Wende massiv vorangetrieben werden können.
Doch statt einer wirkungsvollen Ordnungspolitik mit sinnvoll abgewogenen Verboten (die vor allem auf struktureller Ebene wirken) sowie klugen Anreizen (damit sich auch Solidarität endlich wieder lohnt), erleben wir eine umfassende neoliberale Entpolitisierung, indem nicht nur Verbote, sondern eben auch Schuld und Verantwortung zusehends individualisiert werden. Natürlich tragen wir alle Verantwortung – doch statt von den Produzenten wird sie heute einseitig vom Individuum eingefordert: Mit der richtigen Kaufentscheidung soll der homo consumens den Planeten retten. Dasselbe gilt in der Pandemie. So war im Deutschen Ärzteblatt Ende Oktober zu lesen, dass seit Jahresbeginn „4.000 Intensivbetten weniger“ zur Verfügung stünden. Doch statt einer Kritik am kapitalistischen Gesundheitssystem, am Kaputtsparen der Krankenhäuser und der Ausbeutung von Pflegekräften, werden lieber bestimmte Gruppen öffentlich zu Sündenböcken gemacht. Erst waren es feiernde Jugendliche oder Mallorca-Urlauber:innen, nun sind die Ungeimpften angeblich Schuld an der Pandemie.
Natürlich führt all das zu einer immer größeren Polarisierung. So haken sich manche ganz rechts außen ein oder schwadronieren von einer Diktatur – und sehen nicht, dass ihr Gerede, für das sie keine ernsthaften Konsequenzen fürchten müssen, der beste Gegenbeweis dafür ist. Die anderen wiederum, die endlich auf der Seite des Guten und der Macht stehen wollen, berauschen sich reflexartig an immer autoritäreren Maßnahmen – und verschließen dabei ihre Augen vor der neuen Biopolitik. Doch wo Empathie nur hinderlich wäre, sind auch sachorientierte Debatten beinahe unmöglich geworden. Das aber schadet nicht nur der Demokratie, sondern weil es nur noch ums Rechthaben geht, wird auch echte Systemkritik verunmöglicht. Dabei wäre diese bitter nötig.
Als Elon Musk Armin Laschet traf
Denn so wie eine Gesundheitsgefahr politisch eben nicht zur Stärkung des Gesundheitssektors geführt hat, so wird auch die Klimapolitik vermutlich nicht der Umwelt oder der Lebensqualität der Menschen zugutekommen, sondern den Interessen der Wirtschaft. Die Rettung des Planeten kann also wie heute der Infektionsschutz zu einem Alibi für eine unsoziale, autoritäre und marktradikale Politik werden. Wie das aussehen kann, konnte man beispielhaft im August beim Deutschlandbesuch des Tesla-Chefs Elon Musk beobachten. Da versprach der damalige Kanzlerkandidat Armin Laschet dem reichsten Menschen der Welt kürzere Genehmigungsverfahren – etwa, indem das Klagerecht von Umweltverbänden eingeschränkt wird. Vordergründig soll das dem Klima dienen, weil neue Batteriefabriken oder Stromtrassen so schneller gebaut würden. Eigentlich aber geht es um wirtschaftliche Interessen – auf Kosten von Demokratie und Rechtsstaat. Alles steht schließlich unter dem Stern des Wachstums; jenem Stern, der der Menschheit lauter Krisen beschert hat.
Insofern scheint es nicht unplausibel, dass wir uns mitten hinein bewegen in das Zeitalter eines grün angestrichenen Kapitalismus, der im Kern noch autoritärer wird. Irgendwie muss ein kaputtes System ja gestützt werden: mit Zuckerbrot und Peitsche, mit der Freiheit zum Konsum also sowie mit der Drohkulisse, dass alles noch schlimmer werden und es jederzeit zu weiteren Dammbrüchen in puncto Grundrechtseinschränkungen kommen kann.
Die Folge sind Angst und Misstrauen – die denkbar schlechteste Voraussetzung im gemeinsamen Kampf gegen eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte. Umso mehr gilt es, für einen progressiven Weg in der Klimakrise zu streiten. Einen Weg also, der neben den Einzelnen vor allem Politik und Wirtschaft in die Verantwortung nimmt und der das Soziale ebenso wie unsere Freiheitsrechte in den Mittelpunkt stellt, anstatt beides einem autoritären Kapitalismus zu opfern. Das wäre dann nicht weniger als ein echter Systemwandel.
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