Extinction Rebellion - Revolutionäre Momente

Dem Kollaps begegnen: Von (post)rebellischen Zuständen, einer moralischen Revolution, der Bildung zur Mündigkeit und solidarischer Genügsamkeit

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(Ein Essay aus 2019)

Zwei revolutionäre Momente und ihre Bedeutung

"Alles vermischt sich miteinander. Aus atomisierten Individuen entstehen Gruppen, entsteht eine Gemeinschaft." Cohn-Bendit


Worin liegt eines der revolutionären Momente der Bewegung Extinction Rebellion? Die Antwort
scheint offensichtlich. In der Gewaltlosigkeit!

Gewaltfreier ziviler Ungehorsam ist gewiss keine neue Erscheinung. Historisch prägnante Ereignisse wie die Schwarze Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre in den USA oder die Befreiung Indiens vom (traditionellen) Kolonialismus, in den 1930er Jahren, haben mit mehrheitlich gewaltfreien Protesten grundlegende Veränderungen bewirkt. Aber nicht nur Rosa Parks, Martin Luther King Jr. oder Mohandas Gandhi, als Gesichter dieser Ereignisse, wählten den Weg des gewaltfreien zivilen Ungehorsams oder untermauerten diese Art des zivilen Widerstandes theoretisch: Angefangen bei Henry David Thoreau, an dessen Werk(1) sich viele Denker*innen noch heute orientieren, über Leo Tolstoi, Herbert Marcuse, Hannah Arendt, John Rawls, Jürgen Habermas, Ronald Dworkin, Étienne Balibar bis hin zu Bewegungen wie Occupy, Ende Gelände oder schließlich Extinction Rebellion.(2)

Die Kraft dieser Form des zivilen Protestes ist immens und der Schlüssel scheint unweigerlich in der Abgrenzung zu anderen zivilen Widerstandsformen zu liegen. Von Revolten, Aufständen, Streiks, Revolutionen, Attentaten und anderen setzt sich der zivile Ungehorsam durch ein entscheidendes Moment ab: Dieses Moment des absoluten Gewaltverzichts ist der „[...]Ausweis der Zivilität des zivilen Ungehorsams“.3 Danach ist die Art und Weise des Ausdrucks von Unbehagen, bezüglich der – als fatal empfundenen – Missstände, innerhalb einer Gesellschaft, durch das Alleinstellungsmerkmal der Gewaltlosigkeit geprägt und kann so großen Zuspruch erhalten und sich als legitimes Mittel etablieren.

„Wenn demokratische Mehrheiten irren und ungerecht handeln können, dann bildet ziviler Ungehorsam eine ultima ratio, um innerhalb des bestehenden Systems auf diese Ungerechtigkeit hinzuweisen und die Mehrheit aufzufordern, ihr Handeln noch einmal zu überdenken. Die Rechts- und Verfassungsordnung als solche wird prinzipiell anerkannt, nicht aber jene speziellen Gesetze und Maßnahmen, die als ungerecht wahrgenommen werden.“(4)

Der Widerstand richtet sich folglich nicht gegen die Verfassung an sich, sondern lediglich gegen, als ungerecht empfundene, partikulare Gesetze, Verordnungen oder Maßnahmen. Gewaltfreier ziviler Ungehorsam ist somit eine akzeptierte als auch stabilisierende Form gesellschaftlichen Aufbegehrens.

„Wird aber die Gesellschaft als ein System der Zusammenarbeit zwischen gleichen
aufgefasst, so brauchen sich die, denen schweres Unrecht geschieht, nicht zu fügen.
Vielmehr ist der zivile Ungehorsam (und ebenso die Verweigerung aus Gewissensgründen)
eine der Stabilisierungskräfte eines konstitutionellen Systems, wenn auch definitionsgemäß
gesetzeswidrig. […] Der Widerstand gegen Ungerechtigkeit im Rahmen der Gesetzestreue
trägt zur Verhinderung von Gerechtigkeitsverletzungen oder doch zu ihrer Berichtigung
bei. Eine allgemeine Bereitschaft zu gerechtfertigtem zivilen Ungehorsam bringt einer
wohlgeordneten oder fast gerechten Gesellschaft Stabilität.“(5)

Das gewaltfreie Agieren schenkt den Akteur*innen zwei grundlegende Vorteile. Erstens: Entgegen der anderen genannten Widerstandsformen, welche in der Historie und noch heute gegen Regierungskonstrukte angewandt wurden und werden, ist dem gewaltfreien zivilen Ungehorsam von Seiten der Regierung nur schwer etwas entgegenzustellen, ohne dass es zu einer einseitigen Ausübung von Gewalt kommen würde. Regierungen, die mit physischer Gewalt gegen Menschen vorgehen die sich jeglichem körperlichen und verbalen Widerstand entbehren, werden die Akzeptanz der Zivilgesellschaft nicht lange für sich beanspruchen können.

Zweitens: Wer glaubt Gewalt sei eine adäquate Lösung zur Durchsetzung ziviler Bedürfnisse, dessen/deren „[..]Argumentation gleicht der Behauptung, wir könnten ein schädliches Kraut pflanzen und eine Rose erhalten“(6) .Dies meint letztlich, dass Mittel und Zweck nicht voneinander zu trennen sind: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“(7). Danach ist das Anwenden von Gewalt(8) gewiss nicht jene Handlungsform, welche uns irgendwann zu einem friedlichen und gerechten Zusammenleben führt.


Das zweite revolutionäre Moment, welches sich in der DNA von Extinction Rebellion verortet, hat eine ebenso große Aufmerksamkeit verdient. Dieses Moment greift die Zustände während der Rebellion auf, und versucht alte Strukturen aufzubrechen und neue zu schaffen. Nach Bini Adamczak sind jene Zustände nahezu identisch mit denen der post-rebellischen Zeit.(9)

Was jedoch in den meisten Aufständen eintrat waren Zustände, welche sich etwa durch neu geschaffene Strukturen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen auszeichneten, diese jedoch nach der Revolution an Substanz verloren und alte Gewaltmonopole, oft gar in wenig neuem Antlitze, wieder an Struktur zurückgewannen. Die Veränderungen, welche die revolutionäre Zeit geprägt haben, verschwanden allmählich zwischen neu geschaffenen und insbesondere wieder erwachten Machtgefällen. Alte Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten sowie exkludierende Zustände wurden in den gesellschaftlichen Strukturen der postrevolutionären Zeit reproduziert. Eben dies war die Farce bisheriger Revolutionen, Aufstände und Revolten. Jahrelange Kämpfe endeten letztlich wieder in einem System, welches alte Machtstrukturen und Gewaltmonopole in neuer Semantik aber alter Gestalt auferstehen ließen. Um dieses Szenario zu umgehen, braucht eine Rebellion „bereits Momente der Utopie, die sie zu realisieren versucht“(10).

Eingebettet in einem transformativen Prozess, welcher sich von der Idee des Umsturzes insofern unterscheidet, dass die erstrebenswerten Veränderungen und Bedingungen, die Inhalte der Revolution sind, nicht aus dem Nichts geschaffen werden, sondern „bisher Unverbundenes in neuer Weise“ verknüpft wird.(11)

Eine Rebellion als soziale Transformation – in heutigem Kontext als eine sozial-ökologische Transformation – hat, statt Machterringung oder der Dekonstruktion der Herrschaftsverhältnisse, ein konstruktives Moment zum Ziel: Die Konstruktion von herrschaftsfreien Bedingungen innerhalb jenes transformativen Prozesses. Die Lebensweisen und Strukturen, welche die Akteur*innen in postrevolutionären Zeiten zu erreichen gesuchen, sind letztlich jene die bereits während revolutionärer Zustände entstehen.(12)
Bei Extinction Rebellion ist dieser Ansatz im Konzept des self-organizing-systems(13) ausfindig zu machen, welches sich durch Inklusivität, Dezentralität und Transparenz auszeichnet und die Grundlage für eine gelingende Rebellion darstellt.(14)

Statt um Misstrauen und Kontrolle geht es um Vertrauen – Vertrauen in die Mitmenschen, dass ihre Entscheidungen und ihr Handeln zum Wohle der Gesellschaft beitragen. An Stelle von hierarchisch-patriarchalen Zuständen tritt eine holistische(15) Orientierung. Alle Teile einer Gesellschaft, gar der Weltgesellschaft – Individuen, Kollektive, Gruppen und jegliche Subsysteme – sind nicht nur Teil des Ganzen, sondern darüber hinaus die Zusammensetzung des Ganzen – und nicht als einzelne partikulare Bestandteile zu sehen. Alles Bestehende, alles Seiende steht im Zusammenhang zu jenem Kontext, von dem es umgeben ist. Diese Verbundenheit von allem mit allem, in Verbindung mit dem Vertrauen in unsere Mitmenschen, bildet das kommunikative und organisatorische Gerüst, des Zusammenarbeitens und -lebens, von Extinction Rebellion.

So wie die (Welt-)Gesellschaft einmal sein soll, so wird sie während der Rebellion bereits konstruiert und transformiert. Die Bedingungen und Zustände der Rebellion sind auch jene der postrebellischen Zeit.


Fazit: Die revolutionären Momente von Extinction Rebellion finden sich in erster Linie im unumstößlichen Bekenntnis zur Gewaltfreiheit und dem Bewusstsein, dass mit Gewalt keine friedliche Welt erkämpft werden kann. Dieses Moment ist jenes Mittel, welches eine tiefgreifende und rasante sozial-ökologische Transformation vorantreibt und im Falle des Gelingens, sich der Rebellion entsagen kann und als eine Konstante in der neu geschaffene Gesellschaft impliziert ist.
Das zweite revolutionäre Moment liegt in der Schaffung alternativer Zusammenlebensstrukturen, welche nicht als Übergangslösung ausgelegt sind, sondern darüber hinaus eine Gesellschaft konstruieren, die als einstige Realutopie(16) in der Zeit danach weiter existiert. Somit sind die neu geschaffenen Strukturen der Inbegriff der Mittel-Zweck-Beziehung und gewährleisten ein essentielles Fundament, um sich gegen Bestrebungen hinsichtlich der Installation von traditionellen Gewaltmonopolen zu schützen.


Die moralische Revolution – ein Zyklus für tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen

Moralische Werte sind „Werte die uns leiten, wenn es um die Frage geht, was wir anderen Menschen schulden." Kwame Anthony Appiah

Die erläuterten revolutionären Momente von Extinction Rebellion sind die Motoren für eine tiefgreifende Transformation, hin zu einer humanen, einer moralischen (Welt-)Gesellschaft. Doch wie gelange wir dort hin? Wie erreichen wir Zusammenlebens- und Umgangsformen, die für alle Menschen eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft mit sich bringen und der Erkenntnis zugrunde liegen, dass einstige Normen und Werte, als inhumane und menschenverachtende Abartigkeiten, der Geschichte angehören? Das Konzept der moralischen Revolution kann dahingehend adäquate Orientierungspfade aufzeigen.


Die Prozesse um die Abschaffung der Sklaverei und die Einführung des Frauenwahlrechts sind Beispiele für eine moralische Revolution, welche sich in fünf Phasen vollzieht.(17)

Phase 1: Die Ignoranz
Sie ist eine der größten Stützen menschlicher Untaten. In dieser Phase wird das Problem, aufgrund von tief verankerten Traditionen und Praktiken, nicht erkannt bzw. von der gesellschaftlichen Mehrheit nicht in Frage gestellt. Die moralischen Argumente sind jedoch bereits bekannt, besitzen aber nicht die Kraft und Tragweite, sich gegen die herrschenden Praktiken durchzusetzen.

Phase 2: Die Anerkennung – ohne eine persönliche Bezugnahme
Herrschende Praktiken werden als schlecht und verwerflich erkannt. Dadurch wird das Ehrgefühl geweckt, Unmut macht sich breit und das Individuum oder staatliche Gebilde sehen Ruf und Anerkennung in Gefahr.

Phase 3: Die Anerkennung – persönlicher Bezug wird erkannt, Gründe für das Nichthandeln sind
jedoch noch vorhanden
Scham und Verachtung gegenüber herrschenden Praktiken machen sich breit. Die Befürchtung vor dem Verlust von Respekt und Status wächst, was dem Bedürfnis nach Anerkennung große Sorge bereitet. In Teilen der Bevölkerung treten Verhaltensänderungen ein, Widerstände wachsen, Versammlungen und Auflehnungen nehmen zu. Neue Möglichkeiten werden sichtbarer und attraktiver.

Phase 4: Das Handeln
Die revolutionäre Wandlung beginnt. Alte normative Vorstellungen und ihre Träger*innen verlieren an Zustimmung. Neue Regelwerke werden von den Gesellschaften aufgezeigt und schließlich kommt es zu neuen Verhaltens- und Gefühlsmustern.

Phase 5: Das Unverständnis
„Was haben wir uns nur dabei gedacht? Wie konnten wir das all die Jahre tun?“(18) Alte Praktiken werden nicht nur verworfen sondern auch als verwerflich und schändlich angesehen. Die moralische Revolution hat Altes verworfen und erklärt Neues für richtig.

Obwohl unser Denken und Fühlen moralisch durchaus bedeutsam sind, geht es in der Moral doch eigentlich um unser Handeln. Da wir unter Revolutionen einen großen Wandel innerhalb kurzer Zeit verstehen, müssen moralisch Revolutionen von einer raschen Veränderung des moralischen Verhaltens und nicht nur des moralischen Empfindens geprägt sein.(19)

Bei der moralischen Revolution handelt es ich um das Überwinden eines Wissen-Handeln-Paradigmas. In den verschiedensten zwischenmenschlichen Situationen taucht dieses Paradigma oft in konfuser Gestalt auf. Wissen wir längst, dass die Kleidung die wir tragen, der Kaffee den wir trinken, die Südfrüchte die wir essen, unter bestialischen und zutiefst verwerflichen Bedingungen angebaut, geerntet und produziert wurden, so bedienen wir uns doch weiter der materiellen Reichhaltigkeit.
Schauen wir dann eine Dokumentation, in der diese Szenarien thematisiert werden, sind wir zu Tränen entsetzt und verstehen die Welt nicht mehr. Doch eine Änderung ist in weiter Ferne.

Das „weiter so“ ist der Inbegriff unserer westlichen wohlständigen Lebensführung. Bis dato verläuft der Prozess der moralischen Revolution – so auch die Überwindung des Wissen- Handeln-Paradigmas schleppend und ist nicht annähernd eine adäquate Reaktion auf die rasant voranschreitenden Bedrohungen durch die ökologisch-klimatische Katastrophe., deren Ergebnis ein sozialökologischer Kollaps sein wird.

Die öffentlich wirksame Aktionsform von Extinction Rebellion tritt an dieser Stelle als ein Motor auf. Durch das stetige Hereintragen der Zustände und Dringlichkeiten in die gesellschaftliche Öffentlichkeit und die darauf folgende Eröffnung alltäglicher sowie politischer Debatten, ist die Hoffnung groß, dass die moralische Revolution an Fahrt aufnimmt. Die Adressat*innen finden sich in allen (Sub-)Systemen der (Welt-)Gesellschaft wieder; in der Wirtschaft, der Politik und der Zivilgesellschaft. Die Message ist klar: Die existentielle Bedrohung durch die ökologisch-klimatische Katastrophe betrifft uns alle!

Die Generationen unserer Zeit, stehen vor der größten Aufgabe, die es seit Menschengedenken zu bewältigen gilt. Dies bedeutet, dass diese Generationen jene werden können, von denen die Menschen einmal singen, Gedichte schreiben und Held*innensagen verbreiten. Die Generationen, die den sozialökologichen Kollaps, die essentielle Bedrohung allen Lebens auf der Erde, aufgehalten hat.

Oder sie werden jene, von denen zuvorderst Erklärungen verlangt werden und wohl nicht allzu viel später, nicht mehr erzählt wird, denn die Zivilisationen oder gar das Leben auf der Erde, gibt es dann nicht mehr.


Ein essentieller Aspekt, der ebenso der DNA von Extinction Rebellion entspringt, ist das Vertrauen in die Menschen. Das Vertrauen darin, dass es uns gelingt die nötigen Veränderungen in Gang zu bringen. Dies impliziert die Mündigkeit eines jeden Individuums, unabhängig davon welche gesellschaftliche Position sie*/er* besetzt.
Schon Immanuel Kant fasste einst zusammen; „(...)selbstverschuldet sei diese Unmündigkeit, wenn die Ursachen derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegen, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen“(20).
In Anbetracht der Tatsache, dass die Menschen in der heutigen Zeit in Wissensgesellschaften leben und ihnen nahezu grenzenloser Zugang zu sämtlichen Informationen zu Füßen liegt, ist die Möglichkeit sich selbst der Kunst um die Erweiterung der eigenen Mündigkeit zu bedienen, in greifbarer Nähe.

„Die Forderung zur Mündigkeit scheint einer Demokratie selbstverständlich“, so ist die Willensbildung des Individuums für eine funktionierende Demokratie grundlegend.(21)
Jedoch wird an dieser Stelle nicht nur etwa wie Adorno(22) einst schrieb, die Erziehung zur Mündigkeit als Schlüssel für eine aufgeklärtes Dasein relevant. Vielmehr können wir heute von der Bildung zur Mündigkeit sprechen, von einem Prozess, den das Individuum selbst bestimmen kann und in einer Zeit, in der Bildung die Erziehung in vielen gesellschaftlichen Bereichen zunehemend ersetzt.

Hierbei geht es um das Vertrauens, welches Extinction Rebellion der (Welt-)Gesellschaft entgegenbringt. Die Rebellion will nicht erziehen, sie will nicht bevormunden und sie will gewiss keine fertigen Lösungsvorschläge vorlegen.
Mit der Forderung zur Einberufung einer Bürger*innenversammlung wird ein grundständiges Vertrauens aufgegriffen und die Bildung zur Mündigkeit in die Hände aller Beteiligten gelegt. In die Hände der Wirtschaft, der Politik und der Zivilgesellschaft, für ein großes gemeinsames Projekt zur Bewahrung einer lebenswerten Welt, zur Rettung der Zivilisation.

Die Bildung zur Mündigkeit kann zur Erkenntnis führen, dass wir Menschen und unsere Arten und Weisen zu leben verantwortlich für die bestehende ökologisch-klimatische Katastrophe sind. Verantwortlich für die rasante Erwärmung der Erde, für die Übersäuerung der Ozeane, für das Verschwinden des arktischen Eises und den daraus folgenden Anstieg des Meeresspiegels, für die Vermüllung und insbesondere die Verseuchung der Erde mit Plastik, Kunststoffen und Chemikalien, für den rasanten Abbau der Biodiversität und letztlich der daraus resultierenden Bedrohung für das
Überleben allen Lebens auf dem Planeten, eingeschlossen uns Menschen.

So komplex wie diese Aufzählung erscheint, ist auch jener Erkenntnisprozess zur Realisierung der gegenwärtigen Bedrohung. Gepaart mit Empfindungen wie Angst, Furcht, Verleugnung, Scham und Schuld ist dieser Prozess ein steiniger und von Rückschlägen geplagter Anstieg. Doch ist dieser Berg der Erkenntnis, erst einmal bestiegen und die ersten Hürden genommen, dann macht sich Übersicht breit. Eine Übersicht in Form von Erkenntnissen, die uns Menschen so klar erscheinen, dass wir in der Rückschau nicht mehr verstehen können wie wir einst denken, handeln und leben konnten.

Doch wie gelangen wir Menschen dort hin? Wie schaffen wir es unsere Erkenntnisse und unser Wissen – welches bereits schon heute sehr vielen Menschen innewohnt – in Handlungen umzusetzen?

Eine Möglichkeit ist es uns selbst gegenüber einzugestehen, dass wir nicht perfekt sind, dass wir lernfähige Wesen sind und dass wir Gegebenheiten, Traditionen, Normen, Werte und entsprechenden Handlungsformen, zwar heute noch vertreten oder in ihnen gefangen sind, aber uns schon morgen in Lern- und Erkenntnisprozesse begeben können, welche uns später verdutzt, reumütig und von Scham ergriffen zurückblicken lassen.
Der Schlüssel zu diesen Erkenntnissen und der davon abhängigen und nötigen sozial-ökologischen Transformation, in Form einer rebellisch angeleiteten moralischen Revolution, ist das Vertrauen.

Das Vertrauen in uns selbst, das Vertrauen in unsere Mitmenschen, das Vertrauen in uns als Kollektive, als vernunftbegabte Menschen, die Gegenwart derart zu revolutionieren und zu transformieren, das eine lebenswerte Zukunft, für Menschen, Tiere und Pflanzen, möglich ist. Das Vertrauen in die Fähigkeit sich auf einen emanzipierten Pfad zum Erlangen der selbst gebildeten Mündigkeit zu begeben, an dessen Ende die Rettung der Zivilisation aufwartet.


Solidarische Genügsamkeit als Erkenntnisessenz – Ein Appell

„Devided we fall, united we stand.“
Bini Admaczak

Solidarität zwischen Menschen, Kollektiven, Gruppen, Gemeinschaften, Gesellschaft und ebenso zwischen Staaten ist eines der grundlegendsten zwischenmenschlichen Beziehungskonzepte des Zusammenlebens aller Menschen auf der Erde. Doch ebenso essentiell das Empfinden und Praktizieren von Solidarität ist, so komplex ist es auch.

„Das mag damit zu tun haben, dass sich die Solidarität als affektiver Appell leichter fassen lässt, aber als rationales Konzept schwer greifen lässt. Stärker als Gleichheit und Freiheit, die sich eher an einem äußerlichen Maßstab manifestieren – Verteilung von Gütern, Abwesenheit von direkten Zwängen –, erfordert das Verständnis der Solidarität ein Denken jenes zwischen, das den eigentlichen Lebensraum der Beziehungen bildet.“(23)

Solidarität ist also ein Netz zwischen den Menschen, ein Netz zwischen den Beziehungen, ein Netz des Miteinanders und somit auch Bedingung für Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit.

Dieses Dazwischen ist rasch ausgesprochen – etwa wenn Geflüchtete vor dem Tod, nach Hilfe suchend, auf überfüllten Booten über die Ozeane schwimmen, oder wenn von Klimakatastrophen heimgesuchte Landstriche völlig verwüstet zurückbleiben.Doch dieses Beziehungsnetz beinhaltet schlicht mehr als offene Bekundungen. Viel tiefer ist das Konstrukt der Solidarität verankert. In einem Gemenge von Gefühlen und Praxen– wie Mitleid, Empathie, Reue, Scham, Schuld, Angst, Entsetzen, Trauer auf der einen und Hilfe, Verteidigung, Hinhalten aber auch Konkurrenz, Neid und Verzicht auf der anderen Seite – ist das Ausleben, das Zugeständnis real greifbarer Solidarität eine Kunst des Zusammenlebens, welche erfahren, gelernt und gelebt werden muss.

Neben all diesen Schlagwörtern, braucht es allem voran solidarische Genügsamkeit und dafür ist eines besonders von Bedeutung. Noch vor Konkurrenz und Neid tritt der Verzicht als ein entscheidendes Kriterium auf. Denn das verhindern des sozialökologischen Kollapses, ist grundlegend abhängig von einem Weniger - in Produktion und Konsum, von Akkumulation und Ausbeutung, von Zerstörung und Austoß - oder anders gesagt, einem mehr von Genügsamkeit.

Doch Verzicht ist eine, gewiss für viele Menschen, existentiell bedrohliche wirkende Forderung. Daher kommt dem Begriff der Genügsamkeit an dieser Stelle eine entscheidende Bedeutung zu. Während bei Verzicht(24) mehrheitlich negative und nachteilige Konnotationen mitschwingen, ist die Genügsamkeit(25) weitaus positiver besetzt und kann u.a. Gemütlichkeit, Bewusstsein und Dankbarkeit suggerieren.(26)

Im Zusammenspiel der beiden Begriffe, Solidarität und Genügsamkeit, lässt sich das Potential für eine tiefgehende Wirkung und Veränderung erkennen. Beide birgen (Anerkennungs-)Potentiale in sich und können in einem bedeutsamen Leben zum Ausdruck kommen. Bedeutsam hinsichtlich dessen, dass eine Transformation der Lebens-, Konsum- und vor allem Produktionsweisen, andere Menschen in weiter Ferne, Menschen die uns nahe sind, uns selbst und schließlich die Erde und allem Leben darauf, vor einem Niedergang bewahrt.

Wir können unserem Leben, unserem Dasein – in diesen bedrohlichen Zeiten – eine Bedeutung geben, in dem wir uns als Weltgemeinschaft verstehen und unseren Mitmenschen und der Natur solidarisch und genügsam begegnen.


Wie, wenn nicht durch eine Rebellion? Eine Rebellion der Gewaltfreiheit, der Mündigkeit, der Genügsamkeit, der Solidarität und vor allem eine Rebellion für ein neues Miteinander und des Vertrauens!

Warum, wenn nicht für das Überleben? Wann wenn nicht jetzt? Wer wenn nicht wir?


Eine Zusammenschau

"Wenn die Hoffnung stirbt, dann beginnt die Rebellion.
Die Rebellion endet, wenn die solidarische Genügsamkeit
Einhalt gewonnen hat."

Die Adressat*innen dieses Appells sind Regierungen, Konzerne und ebenso die Zivilgesellschaft, denn dies bildet das gesellschaftlich „wir“.

Eine Quintessenz die letztlich aus den Köpfen der Menschen in entsprechende Handlungsformen transformiert werden muss, ist nicht nur ein weniger von Vielem und ein mehr von Wenigem. Tatsächlich ist es die Einsicht, dass wir uns auf die Suche nach neue Lebensphilosophien begeben müssen.

Dies könnte bedeuten, dass wir es uns zur Aufgabe machen eine neue Besetzung des Wohlstandbegriffs zu konstruieren, welcher durch ein Langsamer, Gemütlicher, Miteinander und Genügsamer definiert ist. Die Konnotationen eines neuen Wohlstandsbegriffs währen sehr vielseitig, wie etwa eines körperlichen Wohlstand (in Form von gesunder Nahrung, sauberem Wasser und sauberer Luft), eines sozialen Wohlstandes (in Form von weniger Konsum, mehr Zeit mit den Mitmenschen und einer Gesellschaft des Miteinanders und des Teilens) und eines seelischen Wohlstandes (in Form von Entschleunigung, Gemütlichkeit und Genügsamkeit).

Mit dem Antrieb von Extinction Rebellion, ihrem Potential für das Vorantreiben einer teifgreifenden gesellschaftlichen Transformation und der Aktivierung innerer Kräfte, durch die Bekenntnis zu einem grundständigen Vertrauen in uns uns und unsere Gegenüber, liegt ein möglicher Weg direkt vor unseren Füßen. Doch gehen müssen wir in selbst.

Mit anderen Worten: Die revolutionären Momente von Extinction Rebellion beinhalten die Initialzündung, sind die treibende Kraft und die Vision, für eine moralische Revolution auf Ebene der Weltgesellschaft. Gemeinsam mit dem Vertrauen in uns alle, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Mit etwas Mut zur Mündigkeit können wir dieses Vertrauen zurückgeben und mit der solidarischen Genügsamkeit ein Zusammenlebensform kreieren, welche Mensch, Tier und Natur das zurück gibt, was den Wert des Lebens ausmacht: Eine intakte und Lebenswerte Erde!


AUFSTAND ODER AUSSTERBEN? JOIN THE REBELLION!

Quellenangaben

1 „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“.
2 An dieser Stelle wurde lediglich eine Auszug von Theoretiker*innen und Bewegungen dargelegt. Die Zahl der
Bekundungen, Theorien und praktischen Umsetzung des gewaltfreien zivilen Ungehorsams ist bei weitem
umfangreicher.
3 Ziviler Ungehorsam 2017, 15.
4 a.a.O., 16.

5 Rawls, John 2017, 123.
6 Gandhi, Mohandas Karamchand 2015, 38.
7 Kant, Immanuel 2004, 79.
8 Gegen jemanden oder etwas rücksichtslos angewendete physische oder psychische Kraft, mit der etwas erreicht wird.
9 Adamczak, Bini 2018, 225.
10 a.a.O.

11 a.a.O., 226.
12 a.a.O., 225.
13 https://extinctionrebellion.de/og/potsdam/downloads/starterkit/ SOS-Handbuch (lang)
14 a.a.O.
15 Holismus: Lehre, die alle Erscheinungen des Lebens aus einem ganzheitlichen Prinzip ableitet.
16 Utopie, die sich verwirklichen lässt.

17 Schneidewind, Uwe 2018, 27.
18 Appiah, Kwame Anthony 2011, 9.
19 a.a.O.

20 Kant, Immanuel 1784, 481.
21 Adorno, Theodor W., 1971, 133.
22 a.a.O., 133-147.

23 Adamczak 2017, 227.
24 Synonyme: Entbehrung, Opfer, Trennung, Abgang, Entsagung.
25 Synonyme: anspruchslos, dankbar, enthaltsam, uneitel, bescheiden.
26 An dieser Stelle ein Hinweis auf das konvivialistische Manifest:
https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/40/e3/0f/oa9783839428986.pdf und die Degrowth-Bewegung:
https://www.degrowth.info/de/was-ist-degrowth/.

Literaturverzeichnis

Adamczak, Bini (2018). Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Berlin, 3. Aufl.


Appiah, Kwame Anthonyn (2011). Eine Frage der Ehre. Wie es zu moralischen Revolutionen Kommt.
München.


Braune, Andreas (Hrsg.) (2017). Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy. Stuttgart.


Gandhi, Mohandas Karamchand (2015). Hind Swaraj oder die indische Selbstregierung. In:
Dharampal-Frick, Gita (Hrsg.). Mahatma Gandhi. Mittel und Weg. Ausgewählte Reden und Schriften.
Leipzig, 38-50.


Kant, Immanuel (1784). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift 4
S. 481–494.


Kant, Immanuel (2004). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Stuttgart.


Rawls, John (2017). Eine Theorie der Gerechtigkeit. Aus dem Amerkanischen von Hermann Vetter. In:
Braune, Andreas (Hrsg.). Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy. Stuttgart, 101-128.


Schneidewind, Uwe (2018). Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst
gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt a.M., 2. Aufl.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tino Pfaff

Umweltaktivist, Campaigner, Sozialarbeiter/-pädagoge, Student MA Gesellschaftstheorie

Tino Pfaff

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