Am 13. August 1996 erscheint in Het Laatste Nieuws, der größten Tageszeitung Belgiens, ein Polizeifoto von Marc Dutroux. Der 39-Jährige stehe durch die Aussagen mehrerer Zeugen unter dem Verdacht, heißt es, sechs Mädchen beziehungsweise junge Frauen entführt zu haben. Es sind Fälle, die das Land schon ein Jahr lang in Atem halten. Das Blatt titelt: Lasst ihn nie wieder los!, was von seinem Boulevardcharakter zeugt, doch ebenso zeigt, wie sehr die belgische Öffentlichkeit über das Verschwinden von Julie Lejeune und Mélissa Russo (beide 9 Jahre alt), An Marchal (18), Eefje Lambrecks (20), Sabine Dardenne (12) und Laetitia Delhez (14) erschüttert ist.
Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand weiß – auch Dutroux wird die Belgier noch lange und heftig beschäftigen. Die Ereignisse dieses Sommers, die Schlag auf Schlag folgen, sind derart, dass die Dimension eines Kapitalverbrechens schnell erkennbar wird. Nachdem Dutroux die Entführung von Sabine Dardennes und Laetitia Delhez zugegeben hat, bringt er die Fahnder am 15. August zu seinem Haus in Charleroi. In einem Keller findet man die Mädchen eingesperrt und erfährt, Dutroux hat sie vergewaltigt. Die Bilder ihrer Befreiung gehen um die Welt.
Nur zwei Tage vergehen, bis im Garten eines weiteren Dutroux-Hauses in Sars-la-Buissière die dort vergrabenen Leichen von Mélissa Russo und Julie Lejeune entdeckt werden. Auch sie, ein Jahr zuvor entführt, sind im Kellerverlies von Charleroi gefangen gehalten worden und allem Anschein nach verhungert. Am 3. September schließlich findet man die sterblichen Überreste von Eefje Lambrecks und An Marchal unter einem Schuppen, der neben einem dritten Dutroux-Haus bei Charleroi steht. Beide galten ebenfalls seit 1995 als vermisst. Vor Gericht wird Jahre später enthüllt: Sie wurden lebendig begraben.
Schock und Bestürzung im Land wandeln sich im Laufe des Spätsommers in Empörung und Wut. Wie konnte es sein, wird allenthalben gefragt, dass Dutroux, schon 1988 wegen der Vergewaltigung von fünf Mädchen zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt, bereits 1992 wegen guter Führung wieder auf freien Fuß kam? Weshalb wurde der Aussage eines Polizeiinformanten nicht entschlossen nachgegangen, der berichtete, Dutroux habe ihn um Hilfe bei der Entführung eines Mädchens gebeten? Auch Dutroux’ Mutter hatte die Polizei gewarnt, ihr Sohn hielte womöglich jemanden in seinem Haus gefangen. Man erfährt weiter, dass es lange schon Hinweise darauf gab, Dutroux stecke hinter dem Verschwinden von Julie Lejeune und Mélissa Russo im Juni 1995. Erst zwei Monate später hatte die Planung einer „Othello“ genannten Polizeibeobachtung begonnen. Noch gravierender, um nicht zu sagen desaströs, erscheint der Umstand, dass die Kamera, mit der das Haus in Charleroi observiert wurde, jeden Tag ab 18 Uhr abgeschaltet war.
Bekannt wird außerdem, dass im Dezember 1995, als Dutroux wegen eines geringfügigen Vergehens kurzzeitig in Haft war, eine Hausdurchsuchung stattfand. Dabei hörte ein die Beamten begleitender Schlosser Kinderstimmen – es waren die von Julie Lejeune und Mélissa Russo, die im Kellergefängnis festsaßen. Der die Maßnahme leitende Kriminalist hatte indes darauf bestanden, die Stimmen kämen von draußen. „Es gibt eine Grenze dessen, was man als Inkompetenz bezeichnen kann“, kommentierte Douglas De Coninck, Kriminalitätsexperte der Zeitung De Morgen und Autor mehrerer Bücher zur Dutroux-Affäre. Der Journalist wird später einer von denen sein, die hinter seltsam gehäuften Fahndungspannen mehr vermuten als Unvermögen. Er fragt, was die aufgedeckten Verbrechen mit Michel Nihouls zu tun haben, einem zwielichtigen Brüsseler Geschäftsmann, der im August 1996 unter dem Verdacht verhaftet wird, mit Dutroux kooperiert zu haben. In den 1980ern zählte Nihoul zur Sex-Party-Szene von Brüssel, die manch Prominenten anzog.
Gegenüber seinen Ermittlern behauptet Dutroux, nur der Zulieferer für Nihouls Pädophilen-Netzwerk gewesen zu sein, das einflussreiche Klienten bediente. Eine Personalie scheint diesen Ansatz zu bestätigen: Im September 1996 besuchte Jean-Marc Connerotte, der zuständige Untersuchungsrichter, eine Benefiz-Veranstaltung für die Eltern der Dutroux-Opfer, aß einen Teller Pasta, bekam einen Kugelschreiber geschenkt und wurde schließlich Mitte Oktober 1996 wegen mutmaßlicher Befangenheit von den Ermittlungen abgezogen. Sein Nachfolger Jacques Langlois konzentrierte sich in den folgenden Jahren auf Dutroux als psychopathischen Einzeltäter und auf die Mitangeklagten: Ehefrau Michelle Martin, die Handlanger Michel Lelièvre und Michel Nihoul.
Das Ergebnis ist eine Welle des Volkszorns, wie sie Belgien noch nicht erlebt hat. Studenten demonstrieren, Fabrikarbeiter, die Post und Verkehrsbetriebe streiken, am Justizpalast werden Richter und Staatsanwälte beschimpft. Es wird befürchtet, dass die Menge diese Bastion stürmt. Feuerwehrleute richten symbolisch ihre Schläuche auf staatliche Gebäude, und die Eltern der Opfer beschweren sich über nachlässige Ermittlungen.
Paul Marchal, der Vater von An Marchal, erklärt, er habe jedes Vertrauen in die Justiz verloren. Wie ihm ergeht es vielen. Menschen schämen sich in diesen Monaten, Belgier zu sein. Das Bild eines dysfunktionalen Staates im Griff empörender Korruptionsskandale verfestigt sich. Man erinnert den unaufgeklärten Mord am sozialistischen Politiker André Cools im Jahr 1991 oder die von Verschwörungstheorien flankierten Überfälle der „Bande von Nivelles“ in den 1980er-Jahren. Belgien wirkt wie ein Absurdistan der Kinderschänder, in dem der Rechtsstaat zur Fassade schrumpft.
Die Folgen dieser Systemkrise wiegen schwer. Im Herbst 1996 entsteht die „Weiße Bewegung“, die eine politische Erneuerung des Landes verlangt. Am 20. Oktober machen 300.000 Menschen den „Weißen Marsch“ durch Brüssel zu einer der größten Kundgebungen in der Geschichte Belgiens. Vielerorts bestehen „Weiße Komitees“ auf einer unerlässlichen Kontrolle staatlicher Instanzen. Paul Marchal ruft die „Partei für eine neue Politik“ (PNPb) ins Leben. Nach einem Umfragehoch scheitert sie bei den Wahlen 1999, ohnehin geht der Bewegung etwas der Schwung verloren. Auch das Ende einer 40-jährigen Regierungszeit der Christdemokraten zugunsten einer liberal-sozialen Koalition resultiert aus einer tiefen Vertrauenskrise. Schließlich stellt die parlamentarische Untersuchungskommission zum Fall Dutroux Polizei und Justiz ein vernichtendes Zeugnis aus. Es führt dazu, dass die Polizei so umstrukturiert wird, dass künftig Konkurrenz zwischen einzelnen Einheiten vermieden wird. Auch im Justizwesen greifen Reformen, neu sind eine föderale Staatsanwaltschaft und ein Hoher Rat der Justiz, der die Rechtsprechung stetig im Blick haben soll.
2004 wird das Verfahren gegen Dutroux, Martin, Lelièvre und Nihoul eröffnet. Der Hauptangeklagte muss lebenslang in Haft, Martin erhält 30, Lelièvre 25 Jahre Gefängnis. Nihoul wandert wegen Drogenhandels und Bandenbildung für fünf Jahre hinter Gitter, wird aber von einer Beteiligung an den Entführungen freigesprochen. Womit der Urteilsspruch jene bestätigt, die keine Anzeichen für ein verzweigtes Netzwerk gesehen haben. Was jedoch nicht bedeutet, dass ein solches Fazit in Belgien unumstritten ist. Dass potenzielle Zeugen kurz vor ihrer Aussage unter teils mysteriösen Umständen versterben, gilt bis heute als Indiz einer Verschwörung. Der Journalist Douglas De Coninck hält fest: „Ich glaube nicht, dass es irgendjemanden in diesem Land gibt, der die ganze Geschichte kennt.“ Was bleibt, ist ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlicher Autorität. Als sich der rechtsextreme Elitesoldat und militante Corona-Kritiker Jürgen Conings im Mai 2021 in einem Wald verschanzt und von mehreren Hundertschaften vergeblich gesucht wird, kursiert sogleich das Gerücht, die Elite wolle ihn zum Schweigen bringen, „weil er zu viel weiß“.
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