Bagger marsch!

Frankreich In Calais schlafen die Migranten im Gebüsch und träumen von England. Manche finden den Tod
Ausgabe 14/2018
Manch einer bezahlt den Traum von Großbritannien mit dem Leben
Manch einer bezahlt den Traum von Großbritannien mit dem Leben

Foto: Philippe Huguen/AFP/Getty Images

Es war der Tod, der die Migranten zurück in die Stadt brachte. Natürlich wussten man in Calais auch zuvor schon, dass draußen im Industriegebiet noch immer Männer aus Eritrea oder Afghanistan in den Büschen schliefen. Bekannt war auch, dass sie an einer Autobahnauffahrt Nacht für Nacht versuchten, auf Trucks zu kommen und als blinde Passagiere mitzufahren. Doch im Zentrum hatte man sie lange nicht mehr gesehen. Bis sich eine Gruppe beim Parc Richelieu versammelte – dem Ort, an dem Migranten traditionell jener gedenken, die den Traum von Großbritannien mit dem Leben bezahlen.

Der Mann, den sie diesmal betrauerten, war ein 25-jähriger Afghane. Man fand ihn mit einer tödlichen Stichwunde im Rücken, nicht weit von einem Hospital, in dessen Nähe der französische Staat seit Anfang März Essen an Migranten verteilen lässt. Noch fehlt vom Täter jede Spur, doch geht man in der Unterstützerszene von einem möglichen Streit zwischen dem Opfer und einem anderen Migranten aus – der zweite Tote in diesem Jahr. Anfang Januar war ein junger Eritreer leblos an der Autobahn A16 gefunden worden, zu deren weiträumigen Truck-Stationen sich ein Teil des Geschehens verlagert hatte, seit im Oktober 2016 der berüchtigte „Dschungel von Calais“ geräumt wurde. In diesem inoffiziellen Camp lebten bis dahin mehrere tausend Menschen, die glaubten unterwegs nach Großbritannien zu sein. Die Behörden verkündeten nach ihrer Aktion, in Calais sei das Migrantenproblem gelöst.

Natürlich war das Wunschdenken. Schon im Vorjahr war zu beobachten, wie sich die Szenerie wieder belebte, wie es immer der Fall war, nachdem die Repressionsschraube angezogen und dafür gesorgt wurde, dass die Migranten in andere Küstenorte abgedrängt wurden.

Schlepper und Schüsse

Doch nahm das öffentliche Bewusstsein davon nicht weiter Notiz, was sich im Februar schlagartig änderte. Anlass war eine Massenschlägerei zwischen Eritreern und Afghanen, zwei der größten Migrantengruppen im Umfeld von Calais, die sich mit Steinen und Stöcken attackierten. Fünf Menschen wurden lebensgefährlich verletzt, weil auch geschossen wurde. Wofür Schlepper verantwortlich gewesen sein sollen, für die der Ärmelkanal in den letzten Jahren immer attraktiver geworden ist: Je verzweifelter die Lage der Migranten, desto größer der Bedarf an den Diensten der Fluchtlotsen. Die Schießerei war ein Zeichen von Rivalitäten um Reviere am Kanal.

In den Wochen danach schien es so, als habe jemand eine Pausentaste gedrückt – der oder die vermeintlichen Schmuggler hätten sich abgesetzt, hieß es unter den Bürgern von Calais, die seit Jahren für eine minimale Versorgung mit Essen und Kleidung sorgen. „Die Migranten waren deprimiert und verängstigt. Viele wollten es an anderer Stelle probieren, auf die andere Seite des Kanals zu gelangen“, meint François Guennoc, Vizepräsident der Organisation L‘Auberge des Migrants. Dass der Innenminister zwei zusätzliche Einheiten der Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) entsandte, ließ darauf schließen, dass die Regierung der trügerischen Ruhe in Calais nicht traute. Und sie hatte allen Grund dazu, die alltäglichen Dramen setzten sich fort. Jeder Versuch einer Ansiedlung wurde weiter im Keim erstickt.

„Noch immer müssen Migranten erleben, dass ihnen nachts einfach die Schlafsäcke weggenommen werden“, erzählt eine Aktivistin der Gruppe Utopia56. Von einer Räumung im Industriegebiet Anfang März kursieren Videoaufnahmen, die zeigen, wie Flüchtlinge mit ihren paar Habseligkeiten von dannen ziehen und im Hintergrund ein Bagger die Spuren ihres vorübergehenden Aufenthalts tilgt. Szenen, wie sie Calais seit fast zwei Jahrzehnten produziert.

Die Anzahl der Migranten hat sich zuletzt bei etwa 500 eingependelt. Neu ist, dass es seit Anfang März die staatliche Essensausgabe gibt, um die Situation besser beherrschen zu können. Frühstück und eine warme Mahlzeit am Nachmittag, verteilt durch Helfer der Organisation La Vie Active, die bereits im „Dschungel“ eine Unterkunft für Frauen und Kinder sowie ein separates Container-Camp betrieben hatte. Die Mahlzeiten werden auf einem Gelände ausgegeben, das mit Zäunen und Stacheldraht gesichert ist. Augenscheinlich verhindert eine starke Polizeipräsenz, dass dieser Beistand auch in Anspruch genommen wird. Man hoffe, dass bald mehr Hilfsbedürftige kämen, meint Sylvain de Saturne, der sich bei L‘Auberge des Migrants engagiert. Er könne diese Verteilung von Essen nur gutheißen, andererseits müsse ein Staat nun einmal die Grundversorgung von Personen garantieren, die sich auf seinem Gebiet aufhalten.

Seit kurzem gibt es eine Art Übereinkunft mit der Stadt Calais, dass sich Migranten auf einem Stück Buschland im Industriegürtel aufhalten können. Ein neuer Dschungel? Wer so fragt, kennt nicht die Praxis der Behörden, innerhalb eines strikten Regimes absurde Zwischenräume zu kreieren. „Nein, das würde die Regierung nie zulassen. Aber vom Nachmittag bis zum nächste Morgen wird nicht mehr geräumt“, sagt Sylvain de Saturne.

Man kann solche Konzessionen als indirektes Eingeständnis des französischen Staates deuten, dass Räumung und Repression auf Dauer keine Lösung sind. Fakt ist auch, dass ein Teil der Migranten nach der Gewalt vom Februar in den Großraum Paris ausgewichen ist. Auch der Hafen von Ouistreham, 350 Kilometer südwestlich in der Normandie gelegen und per Fähre mit dem englischen Portsmouth verbunden, ist zu einem Schauplatz der Transitmigration geworden.

Mit dem Ende des Winters könnten auch die Flüchtlingszahlen in Calais wieder steigen. Oder die belgische Stadt Ostende wird erneut zum Hot Spot, wenn dort Ende April nach einer jahrelangen Pause die Fähre nach Ramsgate wieder auslaufen wird. Im benachbarten Zeebrugge ist man inzwischen dem Vorbild aus Calais gefolgt und beteiligt britische Beamte an den Kontrollen. Unlängst reisten hochrangige Mitglieder der belgischen Regierung zum Gespräch mit der britischen Innenministerin Amber Rudd nach London. Es könnte demnächst einen Flüchtlingsgipfel aller Kanal- Anrainer geben.

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