„East Coast Floods“: 1953 starben bei Flutwelle an Nordseeküste 1.836 Menschen
Zeitgschichte Beim Wiederaufbau nach dem Krieg werden die Deiche vernachlässigt. Das soll sich bitter rächen, als 1953 ein Orkan auf Südwestküste der Niederlande trifft
Rettungskräfte erreichten die Opfer der Flutwellen erst Tage später
Foto: Dominique Berretty/Gamma-Rapho/Getty Images
„Guten Morgen, liebe Zuhörer, hier ist Hilversum, Niederlande. Heute ist der 1. Februar 1953. An verschiedenen Orten im Westen des Landes ist eine Notsituation entstanden durch abnormal hohe Wasserstände.“ Mit dieser Meldung, verlesen in ruhigem Tonfall, werden an jenem Sonntag Tausende von Radiohörern zwischen Maastricht und Groningen wach. Was das vor Ort, im südlichen Teil der Küste und dessen Hinterland bedeutet, darüber können sie sich freilich keine Vorstellung machen. Dass in der Nacht zuvor die größte Naturkatastrophe des Jahrhunderts über die Niederlande hereingebrochen ist, wird außerhalb des davon heimgesuchten Gebiets nur langsam bekannt.
Von „gefährlich hohem Wasser“ spricht der Sturmflut-Warndi
lut-Warndienst des Meteorologischen Instituts bereits am frühen Abend des 31. Januar. Der Grund – „ein schwerer Sturm, der über dem nördlichen und westlichen Teil der Nordsee wütet“. Dieser ziehe nach Süden und Osten weiter und werde wohl die ganze Nacht anhalten. Besonders betroffen sei die Region Rotterdam, dazu Willemstad und Bergen op Zoom, kleine, im Küstenhinterland gelegene Städte in der Provinz Nordbrabant. Südwestlich schließt sich die Provinz Seeland an, durchzogen vom Mündungsgebiet der Maas, der Schelde und des Rheins, mit Meeresarmen, die tief ins Land hineinreichen. Dass sich draußen im Nordatlantik etwas zusammenbraut, ist den Meteorologen klar.„Wir hatten den Sturm schon seit Tagen im Auge“, wird Klaas Rienk Postma, der Leiter des Wetterdienstes, später sagen. Ein Tief zwischen Island und Schottland verursachte, so Postma, „wahnsinnige Windgeschwindigkeiten“. Am Morgen des 31. Januar trifft der Sturm in Schottland auf Land und zieht über Großbritannien hinweg. In England brechen Deiche. Teile Londons stehen unter Wasser, neun Schiffe sinken vor der Küste. 307 Menschen sterben in den Fluten, die als „East Coast Floods“ bekannt werden sollen.Auf der anderen Seite der Nordsee ist man vor allem ob der Windrichtung sehr besorgt. „Ein für uns desaströser Kurs“, beschreibt es Postma. Tatsächlich tobt der schwerste Nordweststurm seit Jahren, riesige Wassermassen werden Richtung der niederländischen Küste gedrängt. Um sie abzuführen, ist der Ärmelkanal viel zu schmal. Postma und seine Kollegen, zuständig für die oben erwähnte Warnung, erwarten, dass der Sturm mit der Windstärke elf auf die Niederlande trifft, Dächer abdeckt und Bäume entwurzelt. Was sie nicht wissen: Die Deiche im Südwesten sind dem, was sich anbahnt, nicht gewachsen. Jahre, in denen die Reparatur von Kriegsschäden im Vordergrund stand, haben den Hochwasserschutz vernachlässigen lassen. Am Abend vor der Katastrophe wissen die Menschen in der Region, dass ein schwerer Sturm heranzieht, nur ist dies in der Gegend nichts Außergewöhnliches. Dass es eine Springflut geben kann, nimmt man zur Kenntnis, doch der Abend verläuft wie immer. Familien sitzen zusammen, Nachbarn besuchen sich, man spielt Karten, hört Radio. Wenn danach Augenzeugen schildern, was passiert ist, wird immer wieder der Satz auftauchen: „Irgendwann sind wir einfach schlafen gegangen.“ Das Radioprogramm der Sender Hilversum 1 und Hilversum 2 schließt um Mitternacht mit der Nationalhymne. Im Meteorologischen Institut versuchen Postma und sein Kollege Herman Bijvoet vergeblich, einen der Sender für den nächtlichen Notfall im Äther zu halten. Ihn habe, erinnert sich Postma, „ein entsetzliches Gefühl von Ohnmacht“ überwältigt.Für die Nordsee hat inzwischen die Ebbe eingesetzt, der Wasserstand aber sinkt nicht. Der Sturm ist stärker als die Gezeiten. Gegen Mitternacht durchbricht das Wasser die ersten Deiche. An mehreren Orten sind Bürgermeister und Deichgrafen zur Stelle. Sandsäcke werden herangeschleppt, um schwache Stellen zu verstärken. Allerdings gibt es keinen Katastrophenplan, keine festgelegte Prozedur zur Evakuierung, keine zentrale Koordination. Vielerorts werden die Menschen davon wach, dass an ihre Türen geschlagen wird oder die Kirchenglocken läuten. Da steht bei manchem das Wasser schon im Haus. Mittlerweile liegt der Pegel viereinhalb Meter höher als gewöhnlich. Die Flut setzt ein, die Deiche halten endgültig nichts mehr aus. Rund vier Fünftel der Region im Südwesten sind betroffen. Die Inseln Schouwen-Duiveland in Seeland und Goeree-Overflakkee werden fast vollständig überflutet. In der Provinz Nordbrabant brechen die Schutzdämme in Willemstad, Heijningen und Fijnaart. Menschen flüchten sich in höher gelegene Teile ihrer Orte oder versuchen, das Binnenland zu erreichen – entkommen können sie dem Wasser kaum mehr.Von den Fluten eingeschlossen, bleiben nur die Speicher der Häuser als Zuflucht, schließlich die Dächer als letzte Rettung. Zahlreiche Gehöfte halten den Wasserdruck nicht aus, brechen zusammen und werden weggespült. Die Bewohner versuchen sich an irgendetwas festzuklammern. Ina Mackloet, ein neunjähriges Mädchen aus dem Dorf Oude-Tonge, rettet sich mit ihrer Familie auf ein vorbeitreibendes Dachstück, das zum Floß wird. Allein in ihrer Straße ertrinken 65 Menschen, 305 sind es im ganzen Dorf – fast jeder Zehnte. Eine zweite Flutwelle am Sonntagnachmittag fordert weitere Menschenleben, noch mehr Deiche brechen, immer mehr Häuser verschwinden. Insgesamt sterben 1.836 Menschen in der Flut. Mehr als 20.000 Kühe kommen um, Tausende Pferde, Schweine und Haustiere. Eine Fläche von 200.000 Hektar ist überschwemmt. Für den Rest des Landes wird das Ausmaß der Katastrophe erst nach und nach deutlich, auch weil viele Telefonverbindungen unterbrochen sind. Allein rund um die fast vollständig überflutete Insel Schouwen-Duiveland ist keinerlei Kommunikation mehr möglich. Noch für Tage sind Tausende von Überlebenden nicht erreichbar.Entsprechend mühsam kommen die Rettungsmaßnahmen in Gang. Zunächst sind es hauptsächlich lokale Fischerboote, die Menschen im anhaltenden Sturm in Sicherheit bringen. Helfer sind pausenlos und ohne zu schlafen unterwegs. Am Rand der Katastrophenzone sind Militärs und das Rote Kreuz im Einsatz, und es entstehen erste Auffanglager. Eigeninitiative und Selbstschutz sind gefragt. Luftaufnahmen zeigen eine Wasserwüste, aus der hier und da Hausdächer oder Kirchtürme herausragen. Auf dem überschwemmten Schouwen-Duiveland müssen die Überlebenden bis zum Montag ausharren, dann endlich kann ein Schiff durch den gebrochenen Deich das Dorf Ouwekerk erreichen.Vielerorts ist eine Rettung nur aus der Luft möglich. Doch verfügt der niederländische Notdienst lediglich über einen einzigen Helikopter, sodass ausländischer Beistand angefordert werden muss. Engländer, Belgier und US-Amerikaner springen ein, teils mit Militärhubschraubern. Durch 442 Flüge werden in den Tagen nach der Katastrophe 1.510 Menschen gerettet. Erst am dritten Tag nach dem Inferno haben alle Überlebenden eine sichere Unterkunft. Zehntausende werden zu Gastfamilien in andere Provinzen gebracht.Nach der Flutwelle verändert sich das Gesicht der niederländischen Küste enorm: 1954 beginnt man mit dem Bau eines weltweit einzigartigen Schutzsystems aus Sturmflut-Wehren, Dämmen und Schleusen. 1958 ist die erste Stauanlage bei Rotterdam fertig. In den Jahren darauf folgen zwölf weitere im gesamten Überströmungsgebiet. Mehrere Meeresarme werden damit abgetrennt, die anfällige Küstenlinie von 700 Kilometern wird auf 80 Kilometern befestigt. Erst 1997 sind die „Delta-Werke“, die den Niederlanden weltweite Bewunderung einbringen, abgeschlossen. Man geht davon aus, dass sie den Menschen im Südwesten einhundert, im Idealfall zweihundert Jahre Schutz bieten. Angesichts eines steigenden Meeresspiegels änderte sich diese Perspektive inzwischen. Frank Spaargaren, der wenig später verstorbene Ingenieur des ikonischen Osterschelde-Wehrs, erklärte 2010, dieses sei auf einen um 40 Zentimeter erhöhten Pegel ausgerichtet. „Steigt er um einen Meter, kann man es abschreiben.“
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