Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Trump und Trudeau Der smarte Justin Trudeau gilt als die Anti-These zu Donald Trump. Doch haben beide einiges gemeinsam

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2016, als die Präsidentschaft von Donald Trump noch nicht mehr war als ein mögliches, aber doch eher unwahrscheinliches Schreckensszenario, erging sich die liberale Prominenz der Vereinigten Staaten in vollmundigen Ankündigungen. Stars wie Bryan Cranston oder Miley Cyrus dachten öffentlich darüber nach, ihrem Heimatland den Rücken zu kehren und auszuwandern, sollte der Milliardär tatsächlich ins Weiße Haus einziehen. Anders als im Fall des heute in Russland wohnhaften Gerard Depardieu, dessen französischer Patriotismus vor einigen Jahren auf fatale Weise mit den Steuererhöhungen der Regierung Hollande kollidierte, blieb es in Hollywood dann aber weitestgehend bei bloßen Drohungen. Von einem Massenexodus der amerikanischen Entertainment-Elite kann jedenfalls bislang keine Rede sein.


Interessant bleibt diese Episode trotzdem. Vor allem, wenn man sich in Erinnerung ruft, wohin sich die Blicke der US-amerikanischen Liberalen schon damals wandten und wohin man noch heute umso neidischer schielt: Nach Kanada.
Der nördliche Nachbar der USA steht gemeinhin im Ruf, das bessere, das zivilisiertere Amerika zu sein. Selbst der radikale Regisseur Michael Moore erklärte Kanada in „Bowling for Columbine“ zu einem der Länder, an denen sich die USA mit ihrem altbekannten Gewaltproblem ein Beispiel nehmen könnten. Zur unumstrittenen Lieblingsnation des liberalen Establishments wurde Kanada schließlich mit dem Amtsantritt von Justin Trudeau. Trudeau löste als Anführer der Liberal Party 2015 den Konservativen Stephen Harper im Amt des Premierministers ab. Im In- und Ausland deuteten viele seinen Sieg als Zäsur in der jüngeren Geschichte des Landes, vergleichbar vielleicht mit dem Wahlsieg Barack Obamas 2008, der in den USA das Ende der neokonservativen Bush-Ära bedeutete. Seitdem erfreut sich Trudeau überall größter Sympathien. Für einen Regierungschef ist er verhältnismäßig jung und vor allem gutaussehend. Beides hat er mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron gemein und auch mit dem gescheiterten italienischen Premier Matteo Renzi, die ihre jugendliche Hemdsärmeligkeit beide in Blair’scher Tradition geschickt in ein Narrativ von allgemeiner Erneuerung und der Beseitigung „verkrusteter Strukturen“ integrierten. Ging Renzi jedoch an der Ablehnung seines Großprojekts Verfassungsreform zugrunde und sind die Zustimmungswerke für den sich zunehmend abgehoben und pompös inszenierenden Macron mittlerweile in einem steilen Sinkflug begriffen: Trudeau ist zumindest für den Moment noch über alle Zweifel aus dem Lager der selbsternannten „Progressiven“ erhaben.
Auch hierzulande ist die Begeisterung für den smarten, kanadischen Premier in bestimmten Kreisen gesetzter Konsens. Zeitgenössischen „Feministinnen“, die der Welt an und für sich wenig zu sagen haben, das allerdings in rauen Mengen, gilt Trudeau als Figur mit messianischen Qualitäten. SPON-Autorin Margarete Stokowski hatte ihrem Idol etwa eine komplette Kolumne gewidmet, in der sie mit oberflächlicher Ironie notdürftig zu kaschieren versuchte, dass diese pubertäre Liebeserklärung in ihrer erstaunlichen Schlichtheit völlig ernst gemeint ist. Ständig, schrieb sie dort, sehe sie auf Facebook Feministinnen, die Trudeau am liebsten gleich heiraten würden. Unweigerlich drängen sich Vergleiche mit einem anderen kanadischen Justin auf, dessen weibliche Fangemeinde im Netz ähnliche Kommentare hinterlässt.


Doch auch der deutsche Mainstream hat in Trudeau mittlerweile seinen charismatischen „Anti-Trump“ gefunden. Die Unterschiede, so wird behauptet, könnten nicht größer sein: Auf der einen Seite der orangene alte Mann, der sich kaum Mühe gibt, seine bisweilen an Solipsismus grenzende Egozentrik, seine Ressentiments gegen Zuwanderer und Muslime oder seinen vulgären Sexismus vor der Öffentlichkeit zu zügeln. Auf der anderen Seite der junge Trudeau, der vielseitig begabte Verfechter von „Weltoffenheit“, Frauenrechten und erklärter Freund der LGBT-Community. Das demokratisch-liberale Politikverständnis ist ein dezidierter Moralismus. Satisfaktionsfähig ist, wer die im Sinne der politischen Korrektheit richtigen Einstellungen zu einigen Kernthemen hat und auf möglichst authentische Weise in der Öffentlichkeit zu performen versteht. In dieser Hinsicht ist Trudeau wirklich ein Meister. Den Forderungen nach einer Repräsentation von Frauen und Minderheiten in der Öffentlichkeit Politik kam er unter anderem dadurch nach, dass er mehrere Sikh in sein Kabinett aufnahm. Außerdem verkörpert er wie kein anderer Regierungschef den neuen Typus des „nahbaren“ Politikers. Waren die Helmut Kohls, Thatchers und Mitterrands früherer Generation größtenteils unnahbare, manchmal gar verstockte und distanzierte Gestalten, wird der nahbare Politiker als Aushängeschild eines empathischeren und deshalb per se humaneren Zeitalters gehandelt. In der Realität bedeutet das allerdings, dass nunmehr jeder Politiker unter Druck steht, eine anonyme Massenöffentlichkeit an seinem Privat- und Seelenleben teilhaben zu lassen. Sichtbar euphorisiert ließ sich Trudeau denn auch publikumswirksam bei seiner Teilnahme an einer Pride-Parade ablichten. Ob er es dort wirklich so grandios fand oder ob er nur wusste, dass er es grandios zu finden hatte, das lässt sich ebenso wenig beantworten wie die Frage, welche Gefühlsregungen in Castingshows oder Big-Brother-Containern nun „echt“ sind und welche doch nur der gezielten Manipulation des Zuschauers dienen.
Fast die gesamte Wertschätzung, die Trudeau derzeit erfährt, kommt auf diese Weise zusammen. Man freut sich darüber, dass er sich beim Yoga zeigt oder wenn er sich über soziale Medien mit Transgender-Menschen solidarisiert. Aber gerade hier liegt der kritische Punkt, an dem der behauptete Antagonismus zwischen Trudeau und Trump in sich zusammenfällt. Der Premier und der Präsident verkörpern zwei Spielarten der vollendet postmodernen Führungsfigur.
Schon Tucholsky schrieb über das Phänomen Adolf Hitler: „Den Mann gibt es gar nicht; er ist nur der Lärm, den er verursacht.“
So zynisch es zunächst klingen mag: Das Zitat könnte tatsächlich guten Gewissens auf beide Männer übertragen werden, auf Trump ebenso wie auf Trudeau. Als Politiker existieren sie nämlich tatsächlich nicht, das heißt: Ihre Politik mag zwar objektiv existieren und von Zeit zu Zeit auch noch Einzug in die Nachrichten finden, aber sie interessiert kaum mehr jemanden. Die liberale Opposition gegen Trump ist nicht zuletzt deshalb so impotent, weil sie fast so besessen vom Twitter-Account des Präsidenten ist wie dieser selbst. Schon im Wahlkampf wurde jeder von Trump veröffentlichte Nicht-Gedanke begierig durch die Medien aufgegriffen und eifrig diskutiert. An dieser unheilvollen Dynamik hat sich seit Beginn seiner Präsidentschaft erstaunlich wenig geändert. Noch immer inszeniert sich Trump als Rebell gegen missgünstige Demokraten und die ihnen angeschlossenen Medien, die „Fake News“, die seine fiktiven politischen Erfolge zu leugnen wagen. Und noch immer übt sich die vom höchsten Mann im Staate derart diskreditierte Presse in hyperventilierender Entrüstung statt präziser Analyse.


Bei Trudeau ist es nicht viel anders, nur die Vorzeichen sind verschieden. Die wenigsten von denen, die ihn außerhalb Kanadas verehren, dürften detaillierte Kenntnisse seiner politischen Agenda besitzen. Trudeau ist für sie ein Leuchtturm in dunklen Zeiten, weil es jenseits ihrer Vorstellungskraft liegt, dass zwischen seiner professionellen, maßgeschneiderten öffentlichen Inszenierung und dem von ihm und seiner Partei de facto verfolgten politischen Kurs ein Abgrund klaffen könnte. Dieses seltsame Phänomen war bereits bei Barack Obama zu beobachten. Gerade in Deutschland scheinen mitunter bis heute zwei Barack Obamas zu existieren: Der Idealist Obama, der angetreten war, Amerika nach Bush komplett umzugestalten und dabei einen jungenhaften Charme versprühte und der Mann, der sich danach als Kopf der Regierung der Vereinigten Staaten für Drohnenkrieg und globale Überwachung in ungeahnten Dimensionen verantwortlich zeichnete. Beide sind sich nach gängiger Vorstellung wohl nie begegnet oder hatten zumindest nicht allzu viel miteinander zu tun. Keineswegs aber kann es sich um dieselbe Person handeln. Trudeau wiederum hat bei genauerem Hinsehen ebenfalls manche Leiche in seinem Keller, doch für die interessiert man sich umso weniger, weil das verschneite Kanada nicht das politische Gewicht der Supermacht USA besitzt. Man fragt sich, was vermeintlich fortschrittliche Trudeau-Cheerleader dies- und jenseits des Atlantiks dazu zu sagen haben, dass ihr Angebeteter auf das Freihandelsabkommen CETA mindestens so versessen war wie so viele bedeutend weniger smarte und attraktive Politiker in Europa. Man fragt sich weiter, was sie dazu zu sagen haben, dass Trudeau sich auch in der Flüchtlingsfrage gern als personifizierte Anti-These zu Trump präsentiert, obwohl sich diese Selbstdarstellung einfach nicht mit der Realität deckt. So hat Trudeau anfangs symbolträchtig einige zehntausend Flüchtlinge in Kanada angesiedelt, danach aber keine Anstalten mehr gemacht, die relativ restriktive Politik seines Vorgängers Harper grundsätzlich aufzugeben. Die zehntausenden Menschen, die von Süden her illegal die kanadische Grenze passieren, werden in Kanada zudem mit der gleichen Abschreckungsrhetorik davon abgehalten, die man in exakt dieser Form schon von dutzenden anderen Staats- und Regierungschef kennt. Gleichzeitig hält Kanada auch der außenpolitischen Linie des Westens die Treue und unterhält wie die Trumps USA gute Beziehungen mit Saudi-Arabien, das auch unter Trudeau mit kanadischen Waffen versorgt wird. Schwule und Lesben in Kanada liegen Trudeau also am Herzen, bis in die arabische Halbinsel hinein reicht diese Solidarität dann aber nicht. Die Toleranz des aufgeschlossenen Trudeaus endet außerdem abrupt beim Thema Israel. 2016 ließ er die Kampagne Boycott Divest Sanctions (BDS) öffentlich veurteilen.


Man sieht deutlich: Misst man Trump und Trudeau nicht bloß nach ihren Images, die sie aufwändig hegen und pflegen, verschwindet die Kluft zwischen ihnen vielleicht nicht vollständig, wird jedoch bedeutend kleiner. Trump und Trudeau stehen in Reinform für die beiden großen Alternativen, zwischen denen sich der Wähler in den heutigen Demokratien des Westens zu entscheiden hat: Die permanente Explosion der Kloake gegen den sterilen Saubermann, die primitive Freude am Überschreiten gesellschaftlicher Normen oder ihre Internalisierung bis zum vorauseilenden Gehorsam. Beide sind sie Teil eines Diskurses, der sich den politischen Konflikt nur noch als permanenten Krieg der Kulturen vorstellen kann, dessen nicht enden wollende Schlachten um Gender-Toiletten und vermeintlich rassistische Halloween-Kostüme geschlagen wersden. Das Getöse, das diese Auseinanderetzung erzeugt, lenkt nur davon ab, dass beide Seiten in vielen Fragen noch immer ein grundsätzlicher Konsens verbindet. Für die USA und Kanada bleibt nur zu hoffen, dass diese Trumpdeau-Galaxis möglichst bald in ihrer Gesamtheit herausgefordert wird. In Amerika ist noch immer nicht klar, ob Bernie Sanders zum Bruch mit den Demokraten bereit ist oder nicht. In Kanada existiert links von der Liberal längst die sozialdemokratische NDP, die noch zu beweisen hätte, dass sie nicht ganz so nutzlos ist wie die Mehrzahl ihrer europäischen Pendants. Anlass zu besonderem Optimismus mag aktuell nicht geboten sein. Die Hoffnung stirbt aber zuletzt.

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