Linke Krise - linke Perspektiven?

Richtungsstreit In der Linken kommt es nach dem verpatzten Ergebnis bei den Bundestagswahlen zu Diskussionen, doch um wieder Kraft zu schöpfen, müssten Gegensätze überwunden werden.

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4.9%. Den Einzug in den Bundestag gewissermaßen nur durch den Griff zum letzten Strohhalm erreicht. Das ist die bittere Bilanz der Bundestagswahl für die Linkspartei.
Lange Zeit hatte es während des Wahlkampfs nach einem eher mauen Ergebnis um die7% für die LINKE ausgesehen, das wohl auch für einige Diskussionen gesorgt hätte, aber nicht für jenen Schock, der dann tatsächlich eintrat. Führende Politiker der LINKEN zeigten sich vor laufenden Kameras zerknirscht, Patentlösungen hatte am Wahlabend verständlicherweise aber noch kaum jemand anzubieten. Mittlerweile hat der Kampf um die Deutung des fatalen Wahlergebnisses jedoch begonnen und zeichnen sich bereits gewisse Tendenzen ab.Dabei ist festzustellen, dass sich die einzelnen Strömungen der Partei und ihre jeweiligen Exponenten bisher wenig irritiert geben, sondern sich vielmehr in ihren grundsätzlichen Einschätzungen zur Situation der Linkspartei bestärkt fühlen. So darf denn der radikal-antikapitalistische Flügel noch einmal diagnostizieren, dass Rot-Rot-Grün schon immer eine gefährliche Schimäre gewesen sei, während eher sozialdemokratisch ausgerichtete Genossen darauf beharren, dass die Partei mit der Revolutionsromantik und dem in machen Kreise gepflegten „radical chic“ endlich Schluss sein müsse. Auch der leidige Streit zwischen Sarah Wagenknecht und ihrer Anhängerschaft einerseits und ihren vielen innerparteilicher Widersachern andererseits wird durch das schlechte abschneiden der LINKEN wohl noch befeuert.


Längst hat man das Gefühl, dass bei dieser alten Fehde alle wesentlichen Positionen mehrfach ausgetauscht seien. Wagenknecht sieht die Ursache für die Schwäche der Linken (nicht nur der Partei) bekanntlich in der Dominanz sogenannter Lifestyle-Linker, die sich nur noch um die Probleme von Minderheiten und Identitätspolitik kümmerten. Ihre Gegenspieler halten Wagenknecht im besten Fall für fehlgeleitet, im schlimmsten für eine verkappte Rechtsradikale. Die Polemik auf beiden Seiten hat im Laufe der Zeit stetig zugenommen. Wagenknechts Skepsis gegenüber den von ihr immer wieder hart kritisierten „Lifestyle-Linken“ ist über die Jahre hinweg zu einer Art Obsession mutiert, ihre Thesen fallen dabei mitunter aber eindimensional und unterkomplex aus. Der bisherige Höhepunkt dieser Entwicklung war die die Veröffentlichung des kontroversen Buchs „Die Selbstgerechten“ zu einem denkbar problematischen Zeitpunkt im (Vor-)Wahlkampf. Die Wagenknecht-Kritiker ihrerseits stehen fest auf dem Standpunkt, dass das Hinterfragen bestimmter Positionen, die sie für linken Common Sense halten, nicht akzeptabel sei und vielleicht sogar nach harten Sanktionen verlange – so läuft denn immerhin ein Parteiausschlussverfahren gegen Wagenknecht, wenn auch kein aussichtsreiches. Symptomatisch für den ganzen Konflikt erscheint , dass wieder einmal über Fragen von Habitus und Haltung gestritten wird, weniger hingegen auf konkret inhaltlicher oder wenigstens strategisch-taktischer Ebene, auch wenn die Frage nach den vermeintlich „richtigen“ Adressaten emanzipatorischer Politik den Kern der Auseinandersetzung bildet.

Das Problem dabei ist auch: Beide Seiten bringen in der Debatte mitunter berechtigte Kritik an der Position der jeweils anderen Seite vor und haben durchaus ein Bewusstsein für deren blinde Flecke, aber eben nicht für die eigenen. Das Lager um Wagenknecht und Lafontaine ist keine Ausnahmeeinung in der westlichen Linken. Es ist als eine Art Gegenbewegung zu dem entstanden, was Wagenknecht mit dem wenig klaren Terminus des „Lifestyles“ zu fassen versucht; in Abgrenzung zu einer Art neuen Orthodoxie, die als hegemonial mindestens bei jüngeren Linken und Progressiven überall im Westen gelten darf. Vielerorts haben sich mittlerweile „dissidente“ Linke hervorgetan , die den Themenkomplex „Wokeness“ als das zentrale Problem der gegenwärtigen Linken schlechthin ausgemacht zu haben glauben. Als „woke“ gilt dabei jene elitäre Attitüde eines ganz bestimmten links-liberalen oder alternativen Milieus, das sich gegenseitig immer wieder der eigenen Sensibilität gegenüber jeglichen Formen von Diskriminierung vergewissern muss und die kritische Haltung gegenüber Gott und der Welt wieder und wieder demonstrativ performt. . Woke Linke, so das Klischee, werfen sich gern mit einer Menge Energie in die vielen aggressiv geführten Kulturkämpfe unserer Zeit, fechten publizistische Duelle mit den „alten weißen Männern“ vom liberal-konservativen Feuilleton aus oder fordern lautstark mehr Repräsentation diverser Gruppen in den Medien. Zur Masse der Bevölkerung hielten sie hingegen intuitiv eher Abstand, weil sie die Arbeiterklasse in der Theorie vermutlich noch befreien wollten, in der Praxis dann aber doch nur Ekel und Ressentiment für die Schattenseiten des real existierenden Proletariats hegten. Es ist nicht abzustreiten, dass dieses bierernste Kulturkriegertum sich spätestens irgendwann nach der Jahrtausendwende als die dominante Ideologei bestimmter junger, oft durchaus idealistisch gestrickter Menschen durchgesetzt hat. Insofern ist die „Wokeness“ natürlich kein exklusiv linksradikales Phänomen, sondern sehr viel eher Ausfluss einer im Grunde (links-)liberalen Ideologie, die die radikale Transformation der Gesellschaft im altmodischen sozialistischen Sinne aufgegeben hat zugunsten eines technokratischen Micro-Managements sozialer Probleme, das auf den Eckpfeilern von zwei Imperativen beruht: „Reflektiere dich!“ (u.a. „Check your privilege!“) und „Halte dich dann an bestimmte Umgangsformen, die wesentlich davon abhängen, in welche identitären Kategorien dein gegenwärtiges Gegenüber fällt!“. Identität wird so zur Schlüsselkategorie für die radikale Wokeness und ihre Vertreter, weil sich aus ihr im Sinne einer vulgären Intersektionalitätstheorie scheinbar alles folgern lässt, was man über Menschen und ihre gesellschaftliche Stellung zu wissen braucht: Sind sie etwa weiß und hetero oder People of Color und dazu vielleicht noch homosexuell? Explizit oder implizit steht stets die Annahme im Raum, dass die moralische Reinheit einer Person sich tendenziell nach dem Grad ihrer Abweichung von einer vermeintlichen gesellschaftlichen Normalität bemisst, weil „Norm“ und „normal“ grundsätzlich als böse, die Transgression von Normen und Normalität aber als subversiv gilt. Ironischerweise bemüht sich das woke Denken zugleich aber auch die Formulierung neuer Verhaltensstandards, über die zu diskutieren man oft kaum gewillt ist. Argwöhnisch wird die Sphäre der Alltagswelt wieder und wieder auf potentiell „problematische“ Praktiken hin untersucht, in denen sich unreflektierter Sexismus, Rassismus oder andere Spielarten diskriminierenden Weltbilder manifestieren. Um dem entgegenzuwirken, werden dann klare „Dos“ und Don'ts“ im Umgang mit den Betroffenen festgelegt, die manchmal sinnvoll seien mögen, in vielen Fällen aber weit über das anvisierte Ziel hinausschießen und zudem vielfach das Potential haben, das alltägliche Miteinander zu einer ziemlich steifen, aseptischen Veranstaltung zu degradieren, bei der die Nicht-Irritation des Anderen über allen anderen Belangen thront.

Ihre Gegenspieler hatte die Wokeness oder auch „Woke Culture“ zunächst natürlich vor allem in der Intelligenzija der bürgerlichen und der radikalen Rechten, die seit jeher allzeit ist, vor dem Untergang des Abendlandes zu warnen und denen die „Woke Culture“entsprechend nur als nächster Schritt im Prozess der linken Unterwanderung westlicher Kultur gilt. Mit der Herausbildung einer mehr oder weniger dezidiert anti-woken Linken ist in den letzten Jahren aber eine weitere Fraktion auf den Plan getreten, die der Wokeness die Zerstörung des organischen Bandes zwischen sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien und ihrer traditionellen Wählerschaft bei den Arbeitern vorwirft. „Rückkehr nach Reims“, der autobiographische Hybrid aus Roman und soziologischer Denkschrift von Didier Eribon, ist von einigen in diese Richtung interpretiert worden: Als eine Kritik an einer Linken, die mit ihrer elitären Verachtung das klassische Arbeitermilieu verprellt und im Extremfall sogar in die Hände rechter Nationalisten treibe. Im deutschen Raum wird diese These deutlicher dezidierter und nachdrücklicher von Christian Baron vorgetragen, auch hier mit Bezug auf die Reflexion der eigenen Lebensgeschichte als Kind der Arbeiterklasse.
Tenor der linken Wokeness-Kritik war dabei lange auch, dass die Dominanz kultureller Themen zugunsten einer Wiederentdeckung selbstbewusster Klassenpolitik und einer Renaissance des Ökonomischen gebrochen werden müsse. Das erscheint tatsächlich schlüssig und mittlerweile zecihnen sich in Deutschland mit dem Erfolg von Online-Formaten wie dem Podcast „Wohlstand für alle“ sogar Tendenzen in diese Richtung ab. Ein Teil der Wokeness-kritischen Linken aber scheint sich parallel dazu fortwährend weiter zu radikalisieren und in der monothematischen Obsession mit den den bösen Lifestyle-Linke seine eigenen Pathologien auszubilden. Statt dem hysterisch geführten Kulturkampf eine Absage zu erteilen, wird sie zusehends selbst Partei in diesem Konflikt und erkennt damit mindestens implizit das Primat des (Alltags)Kulturellen für den politischen Kampf und die Bewusstseinsbildung an. Wenn Sarah Wagenknecht einen „linken Konservatismus“ fordert, ist diese Entwicklung auch bei ihr zu erkennen. Wohin dieser Weg führt, wenn man bereit ist, ihn konsequent zu Ende zu gehen, davon zeugen andere Beispiele. „Blue Labour“ etwa, eine Gruppierung innerhalb der sozialdemokratischen Labour Party im Vereinigten Königreich, steht explizit für eine Synthese aus bestimmten konservativen Positionen (blau ist in Großbritannien traditionell die Farbe der konservativen Torys) und traditioneller sozialdemokratischer Sozial- und Wirtschaftspolitik. Obwohl sie bei letzteren Fragen wohl mehr oder weniger auf einer Linie mit den linken Anhängern des geschassten linken Ex-Labour-Chefs Jeremy Corbyn liegen dürfen, hat sich Blue Labour doch nie wirklich mit ihm und seinen Anhängern, den sogenannten „Corbynistas“ gemein gemacht. Der Grund: Die Mehrzahl der Menschen, die wegen Corbyn voller Enthusiasmus in die Partei strömten, war jung, akademisch und beinhart pro-europäisch geprägt. Bei Blue Labour hingegen tummeln sich patriotisch veranlagte Gewerkschafter wie der Feuerwehrmann Paul Embery, die den Brexit zu einem linken Protestprojekt gegen die neoliberale EU machen wollten. Blue-Labour-Gründer Maurice Glasman ging dabei soweit, seinen Ansatz mit dem Slogan „Faith, Family and Flag,“ - „Glaube, Familie und Flagge“ zu umschreiben. Die Arbeiterklasse firmiert in der Vorstellunsgwelt dieser konservativen oder kommunitaristischen Sozialdemokraten nicht länger als jenes Ansammlung doppelt freier Lohnarbeiter, die die Ketten der alten Welt sprengen könnten, um eine neue zu errichten. Sie werden konzipiert als verwurzelte Menschen, Bewohner einer konkreten Lebenswelt und eines verbindlichen Wertekanons, der ausdrücklich bejaht wird. Die Linke soll nicht mit einer abgehobenen internationalistischen Rhetorik und der ständigen Problematisierung von Alltagsrassismus und dergleichen den Eindruck erwecken, sich über diese „einfachen Menschen“ erheben zu wollen. Wo also die von Wagenknecht kritisierten„Lifestyle-Linke“ nur die eigenen Werte gelten lassen und alle anderen Bevölkerungsgruppen von oben herab an diesen messen, soll die geerdete, konservative Linke die Menschen dort abholen, wo sie stehen. Genau hier aber liegt der problematische Gehalt dieses anti-woken Ansatzes: Den einseitigen Avantgardismus abgehobener linker Akademiker wird eine ebenso einseitige Fetischsierung traditioneller Arbeitermilieus entgegengehalten. Die Strategie der systematischen Anbiederung hat mit einem kritischen Dialog auf Augenhöhe allerdings im Grunde genauso wenig zu tun wie der abschätzige Paternalismus der Woke Culture. Die Lohnabhängigen und die ihnen pauschal zugeschriebenen kulturellen Attribute werden entweder problematisiert oder romantisiert, in jedem Fall aber traut man ihnen nicht zu, sich im konstruktiv-kritischen Dialog mit der organisierten Linken selbst zu transformieren. Es mag sein, dass die Arbeiterschaft, wie Lenin meinte, von sich aus und ohne entsprechende Anleitung nur zu einem „Gewerkschaftsbewusstsein“ kommen könnte, nicht aber zu einem Verständnis seiner potentiellen Rolle bei der weitreichenden Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Emanzipation bedarf aber doch immer auch der aktiven Mitarbeit derer, die es zu emanzipieren gilt.Dazu ist es nötig, die vermeintlichen „einfachen Menschen“ ernst zu nehmen und nach Formen der Auseinandersetzung mit ihnen zu suchen, die sie in ihrer ganzen menschlichen und auch ideologischen Ambivalenz anerkennen, ohne dabei kritische Worte zu scheuen. Ein organisches Band zwischen einer erneuerten Linken und den Lohnabhängigen – ob in Deutschland oder anderswo - wird sich jedenfalls nur knüpfen lassen, wenn die Linke aufhört, ihre potentielle Klientel entweder auf ihre Defizite zu reduzieren (die nichts weiter sind als die zu erwartenden Ergebnisse eines beschäftigten Lebens unter kapitalistischen Vorzeichen) oder sich rückwärtsgewandten Utopien hinzugeben, in denen der Klassenbegriff zunehmend auf kulturelle Folklore reduziert wird und sich der Spielraum für notwendige radikale Politik damit notwendigerweise reduziert, weil man auch hier niemanden mit unangenehmen Fragen zu Themen wie Ökologie und Nachhaltigkeit zu sehr belästigen möchte.
Die größte Pointe der innerlinken Auseinandersetzungen zwischen „woken“ und „anti-woken“ Linken und den vielen parallel verlaufenden Diskussionen liegt dabei darin, dass der inhaltliche Konsens in wichtigen Fragen eigentlich noch immer weitestgehend vorhanden ist, zumindest ist das die Situation in der Bundesrepublik. Statt sich also abermals zu zerfleischen, könnte die deutsche Linke die kommende Legislatur auch dafür nutzen, endlich eine gemeinsame Position zu finden, die die Einseitigkeiten und Verzerrungen in den Ansichten der konkurrierenden Lager synthetisch überwindet. Vor allem muss sie ihre Inhalte in Zukunft auch mit der angemessenen Mischung aus realistischem Pragmatismus und schamloser Radikalität kommunizieren. Die Linkspartei wie auch die Linke im weiteren, internationalen Sinne, können im 21. Jahrhundert weder glaubhaft ihr Heil in der Erneuerung des alten Wohlfahrts-Keynesianismus suchen, noch darf sie in den parlamentarisch-demokratischen Staaten der westlichen Welt mit ihren nach wie vor vorhandenen sozialstaatlichen Strukturen und Umverteilungsmechanismen hoffen, dass ein demonstrativ zur Schau gestellter Anti-Kapitalismus zum Selbstläufer wird, wenn man ihn nur selbstbewusst genug verkauft. Die schwierige Aufgabe für die Zukunft lautet, nicht länger Robin Hood zu spielen und stattdessen mit großer Ernsthaftigkeit die Systemfrage zu stellen, ohne sich dabei im Abstrakten zu verlieren. Es gilt der Öffentlichkeit nicht nur konsequent aufzuzeigen, welche Missstände der Mainstream der bürgerlichen Politik produziert, sondern auch, welche davon sich langfristig nicht ohne eine grundlegende Transformation unserer Wirtschafts- und Lebensweise lösen lassen. Auf dieser Basis muss es möglich sein, eine Allianz zwischen den verschiedenen, disparaten Sektoren der lohnabhängigen Klasse zu schmieden, statt mit stereotypen Zuschreibungen (Minderheiten hier, traditionelle Arbeiterschaft und Mittelschichten dort) noch zu verschärfen. Nicht zuletzt gehören auch die viel kritisierten Akademiker längst in weiten Teilen zum Prekariat der Gegegenwart, auch wenn ihr Standesbewusstsein sie in der Tat noch immer allzu oft auf Distanz zu denen gehen lässt, die nicht die gleichen Bildungsqualifikationen vorweisen können wie sie selbst.

Erst, wenn die Einsicht in die grundsätzliche Vernünftigkeit radikaler Politik und die gemeinsamen politischen Interessen bei der Masse der Bürger überwiegt, können Parteien wie die LINKE hoffen, ihren Status als Splitterpartei an der Peripherie ihrer jeweiligen politischen Systeme zu überwinden und der erstarkenden Rechten wie dem bürgerlichen Zentrum endlich effektiv Paroli zu bieten.

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