Heitmeyers Zustände, Schroeders Schema: eine Studie und ihr Kritiker

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Es gab schon Jahre, in denen die Ergebnisse der Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ mehr Schlagzeilen gemacht haben. Anfang der Woche hatte der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer die zehnte Folge vorgelegt und die Bilanz eines „entsicherten Jahrzehnts“ gezogen. Forscher haben es begleitet und mit ihren Zahlen eine Karte der politischen und sozialen Mentalitäten vorgelegt, die eine Landschaft aus sozialer Spaltung von oben, aggressiver Abwehr in der Mitte und vorurteilsbeladener Verunsicherung von unten zeigt.

In den vergangenen Jahren lagen die Schwerpunkte der einzelnen Auswertungen dabei immer einmal wieder auf einem anderen Aspekt – auch abhängig von „Signalereignissen“. Der 11. September 2001 zum Beispiel, „mit seinen Folgen für die Islamfeindlichkeit“ oder die Einführung von Hartz IV „mit den Auswirkungen auf die Desintegrationsängste in verschiedenen Sozialgruppen“ und nicht zuletzt „die verschiedenen Krisen seit 2008, also Finanz-, Wirtschafts-, Fiskal- und jetzt Schuldenkrisen“ mit ihren jeweiligen“ Effekten auf das, was die Gruppe um Heitmeyer als „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ bezeichnet. In der Forschung hat sich der Ansatz neben anderen auch als einer etabliert, der zur Analyse rechtspopulistischer und rechtsradikaler Einstellungen dienen kann.

Vor dem Hintergrund der Neonazi-Morde hat Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse auf die „fatale Aktualität“ der Studie hingewiesen. Man wird den Zusammenhang zwischen den weit verbreiteten Elementen einer Ideologie der Ungleichwertigkeit und rechtsradikalem Terrorismus nicht bestreiten wollen, überdehnen sollte man ihn aber auch nicht. Das hinter Heitmeyers Studie stehende Modell kann viel zur Aufklärung von Einstellungen in den verschiedenen Milieus, ihren zeitlichen Entwicklungsverlauf und das Wechselverhältnis zu aktuellen Ereignissen beitragen. Er leuchtet aber kaum die Bedingungen aus, die zur Bildung einer Bande wie der Zwickauer Zelle und ihrem Umfeld führen. Der Nachteil von sozialwissenschaftlichen Ansätzen, schreiben die Forscherkollegen Oliver Decker, Elmar Brähler und Norman Geißler in ihrer Studie „Vom Rand zur Mitte“, bestehe darin, „dass eine Statusunsicherheit sehr wohl zu einer rechtsextremen Orientierung führen kann, aber nicht muss. Damit bleiben notwendige Bedingungen rechtsextremer Orientierung im Dunkeln“.

Explosive Situation als Dauerzustand

Wenn die „Deutschen Zustände“ 2011, immerhin ein Fazit von zehn Jahren Forschung über die Verbreitung von rassistischen und homophoben Einstellungen, gegen Obdachlose und Behinderte gerichtete Vorurteile, von Sexismus und Islamfeindlichkeit, nicht so ein großes Echo hervorgerufen haben, mag das einerseits an der Dominanz anderer Nachrichten gelegen haben, andererseits wohl auch an einer gewissen Erkenntnis-Sättigung: Das haben wir in den vergangenen Jahren doch nun schon oft genug gehört. Vielleicht war das differenzierte Ergebnis aber auch zu wenig medientauglich – „es befördert einen zum Teil widersprüchlichen Komplex an Aussagen zutage. Einige sprechen für eine Liberalisierung der Gesellschaft, andere legen gegenteilige Schlussfolgerungen nahe“, schreibt die Rheinische Post. „Rassismus nimmt zu“, heißt es im Neuen Deutschland, „Deutsche finden Fremde gut“, titelte der Kölner Stadtanzeiger.

Heitmeyer und seine Kollegen zeigen, dass Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sowie die Abwertung von Obdachlosen, Behinderten und Langzeitarbeitslosen seit 2009 wieder signifikant angestiegen sind. Antisemitismus, Sexismus und Homophobie dagegen nehmen seit 2002 ab, die Islamfeindlichkeit bleibt gleich. Entscheidend ist aber gar nicht so sehr die Entwicklung einzelner Elemente der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, sondern die „neue Normalität“, die über die Jahre verschiedene Ausprägungen angenommen habe aber in einer Grundtendenz gleich geblieben sei: „Entsicherung, Richtungslosigkeit und Instabilität“ würden die Nervosität in allen sozialen Gruppen steigen lassen, es habe sich „eine explosive Situation als Dauerzustand“ etabliert.

Man könnte das zum Anlass nehmen, um sich über Solidarität und die notwendigen gesellschaftlichen Bedingungen dafür zu streiten; oder auch über die Aussagefähigkeit des theoretischen Modells und die möglicherweise auch bereits erreichten Aufklärungserfolge, von denen Stefan Reinecke in der Tageszeitung spricht. Klaus Schroeder, Professor an der FU Berlin und Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat, versucht in der katholischen Tagespost dagegen gleich die Studie an sich zu erledigen – wegen ihrer politischen Stoßrichtung. Forschungen wie die von Heitmeyer, seien „politisch motiviert und diffamieren die Mitte, indem sie faktisch behaupten, dass jeder, der nicht ihren linken Standpunkt teilt, bereits rechts oder rechtsradikal ist oder in Gefahr steht, es zu werden“. Dies, so Schroeder, sei „wissenschaftlich unseriös“, was er unter anderem mit dem Hinweis auf „suggestive Fragen“ und die von den Bielefeldern betriebene Generalisierung begründet.

Rechtspopulisten wollen eher links wählen

Ein einleuchtendes Argument hat Schroeder aber offenbar nicht parat, jedenfalls verrät er es der Tagespost nicht, sondern kritisiert einen „konstruierten“ Zusammenhang, den die Studie selbst gar nicht herstellt: „Nicht jeder, der eine differenzierte und auch kritische Betrachtung etwa der Integration von Ausländern oder von Ausländergewalt anmahnt, ist rechtsradikal und schon gar nicht legitimiert er Rechtsterroristen.“ Das ist so richtig, wie es als Kritik an der Heitmeyer-Studie nicht taugt, denn diese geht von einem weit allgemeineren Nexus aus. „Tatsächliche, realisierte Gewalt lässt sich nicht durch Umfragen erfassen“, heißt es darin. „Wohl aber das Ausmaß, in dem Gewalt in der breiten Bevölkerung toleriert oder gar befürwortet wird.“ Die Studie zeigt zudem an anderer Stelle, wie sich zumindest rechtspopulistische Einstellungen und Wahlverhalten in eine ganz andere Richtung verändern: Dieses Potenzial tendiert immer stärker dazu, linke Parteien zu wählen, während die elektorale Anbindung an die Union in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen hat.

Auf der einen Seite wächst die politische Entfremdung bei denen mit rechtspopulistischen Einstellungen. Heute stimmen über 92 Prozent von ihnen voll oder eher zu, sie hätten „sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut“ – bei den anderen ist dieser Wert auf unter 60 Prozent gesunken. Zugleich zeigt sich eine Verschiebung auf den parteipolitischen Parkett: Gaben 2003 noch 39,5 Prozent des rechtspopulistischen Potenzials an, nicht zu wählen oder unentschlossen zu sein, hat sich der Anteil bis 2011 auf knapp über 30 Prozent verringert. Vor allem aber wird eine deutliche Verschiebung in Richtung linkes Lager bei denen sichtbar, die eine Wahlabsicht angeben: 2003 hätte nicht einmal jeder fünfte Befragte mit rechtspopulistischen Einstellungen SPD, Grüne oder Linke gewählt. 2011 sind es dagegen schon 41 Prozent, wobei der Anstieg bei der Linken am größten ist (von 0,9 auf 10,4 Prozent).

Das spricht einerseits für die Integrationsfähigkeit dieser Parteien, deutet aber andererseits auch darauf hin, dass unter ihren Wählern immer stärker Auffassungen Verbreitung finden, die mit dem programmatischen Kern im rot-rot-grünen Lager eigentlich nicht kompatibel sind. Es wäre einmal spannend zu erfahren, wie diese Widersprüche individuell gesehen und verarbeitet werden: Warum wählt jemand, der bei der Aussage „Es leben zu viele Ausländer in Deutschland“ zustimmt, die Linkspartei und wie reflektiert er deren einwanderungspolitisches Programm? Welchen Unterschied gibt es zur SPD, und wie hat sich deren Umgang mit Thilo Sarrazin niedergeschlagen? Wie gelingt es etwa der Linkspartei, Anhänger mit klassischer Protesthaltung, bei der am Ende unabhängig von politischen Inhalten jene Partei gewählt wird, die am wenigsten als etabliert betrachtet wird, zu inhaltlich motivierten Sympathisanten zu machen? Und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein relevanter Teil des rechtspopulistischen Potenzials sich für eine „sechsten Partei“ entscheiden würde – und unter welchen Voraussetzungen? Immerhin ist unter ihnen der Anteil derer, die sich für Union, FDP oder eine der Rechtsparteien entscheiden würden, von 2003 (40,4 Prozent) bis 2011 (29 Prozent) deutlich zurückgegangen.

Linke Hegemonie?

Dafür interessiert sich Klaus Schroeder jedenfalls nicht. Seine Polemik gegen die Heitmeyer-Studie wird selbst von einem Vorurteil gestützt: die Halluzination einer linken Hegemonie. „In Deutschland gibt es keine rechte Hegemonie, hier ist die kulturelle Hegemonie schon seit geraumer Zeit eindeutig links“, antwortet der FU-Mann der Tagespost. „Die Linken aller Schattierungen besetzen die Themen und bestimmen allgemein gültige Maßstäbe, die ihre eigenen sind, zur Beurteilung anderer. Wer ihre Positionen nicht teilt, der wird sogleich diffamiert.“ Das sei, bekräftigt Schroeder das bekannte Schema, „ein sehr durchsichtiges Spiel, das hier von linker Seite betrieben wird“. Welche Themen Schroeder meint und welche Linken sie besetzen, wie das institutionalisiert ist und welche medialen Transmissionsriemen dabei helfen; worin sich überhaupt die angebliche linke Hegemonie ausdrückt und was eigentlich in diesem Zusammenhang links sein soll, dass verrät Schroeder nicht. Ebenso wenig, wie er wenigstens ein Beispiel dafür gibt, wie sich diese kulturelle Hegemonie so verändert hat, dass sie „seit geraumer Zeit eindeutig links“ ist.

Vor ein paar Tagen hat Forsa-Chef Manfred Güllner auf die Frage, „ist Links der neue Mainstream, eine Begleiterscheinung des politischen Zeitgeists?“ geantwortet: „Die Zahlen geben das nicht her.“

auch erschienen auf lafontaines-linke.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tom Strohschneider

vom "Blauen" zum "Roten" geworden

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden