Ist das Konservative tatsächlich zurück? Knapp drei Monate nachdem Alexander Dobrindt in bemerkenswerter Diskursverwirrung zur „konservativen Revolution“ aufgerufen hat, will es fast so scheinen. Besetzt doch ein bayerischer Heimatminister das Bundesinnenressort und will auch sogleich das angeblich christliche Abendland gegen den angeblich undeutschen Islam abriegeln. Verteidigt ein konservativer Hoffnungsträger als Volksgesundheitspolizist die hart arbeitenden Bürger gegen Hartz-IV-Empfänger und andere Globalisierungsgewinner. Und erklärt sich eine breite Front aus exlinken, liberal- bis nationalkonservativen und neurechten Intellektuellen im Minimalkonsens nun endlich für solidarisch mit denen, die seit bald drei Jahren gegen die Flüchtlingspolitik von Regierung und Parlament auf die Straße gehen.
Angesichts dieser unübersichtlichen Verhältnisse stellt sich inzwischen die Frage: Wo liegt eigentlich noch der Unterschied zwischen „konservativ“ und „reaktionär“? Jens Jessen hat letzte Woche in der Zeit versucht eine Antwort zu geben: „Der Grund für die Flüssigkeit der Begriffe liegt in ihrer Relativität. Einen konkreten Sinn haben sie nur in einer konkreten Situation?“ Ja, aber jetzt haben wir doch eine konkrete Situation! Wo also besteht der Unterschied zwischen einer Merkel-CDU und allem rechts davon? Ist Spahn schon ein Reaktionär oder noch ein Konservativer? Oder liegt das Problem vielleicht ganz woanders?
Letzteres könnte man mit dem amerikanischen Politologen Corey Robin annehmen. In seinem Buch The Reactionary Mind über Konservatismus seit Edmund Burke, dessen zweite, anlässlich der Trump-Wahl aktualisierte Fassung vergangenen Herbst erschien, sind „konservativ“ und „reaktionär“ erst einmal gleichbedeutend. Er verortet den Ursprung des Konservatismus historisch in der Reaktion auf die progressiven Ideen der Amerikanischen und vor allem der Französischen Revolution. Die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Solidarität hatten die alte Herrschaftsordnung zum Einsturz gebracht, und der gegenaufklärerische Versuch, sie wieder aufzubauen, betonte die über Jahrhunderte natürlich gewachsene Vielschichtigkeit einer sozialen Ordnung unversöhnlicher Widersprüche zwischen Herrschenden und Beherrschten gegenüber dem als „gleichmacherisch“ diffamierten Rationalismus der Liberalen.
Vermutlich ohne detaillierte Kenntnis dieser Tradition verkörpert Donald Trump diese Irrationalität beispielhaft. Dazu gehört nicht nur die Tatsache, dass er sich ständig selbst widerspricht. Ebenso wenig erschöpft es sich in der von vielen verneinten Frage, ob er überhaupt als Konservativer gelten könne. Für Robin ist etwa Trumps Rassismus nicht wesentlich extremer als derjenige der Konservativen, die in den 1960ern und 1970ern gegen die Bürgerrechtsbewegung kämpften. Nur sei Trumps Radikalisierung im Unterschied zu der damals gerade kein Zeichen von Stärke, sondern von der Schwäche des gegenwärtigen Konservatismus. Dessen Basis sei anfällig für den schrillen Sound, weil gemäßigtere konservative Angebote ressentimentbasierter Privilegien einfach nicht mehr ausreichten, um die wachsende Jobunsicherheit und die stagnierenden Löhne aufzufangen. Und nicht etwa, weil die Liberalen ihre Argumente besser verkaufen.
Die konservative Paradoxie besteht also darin, dass die eigene Schwäche nicht etwa der Stärke des Gegners geschuldet ist, sondern im Gegenteil von dessen Schwäche herrührt. Seit Nixon haben nämlich nicht nur konservative Präsidenten viele Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung wieder rückgängig gemacht, Segregation etwa und Wohlstandsgefälle zwischen Weißen und Nichtweißen sind heute größer als unter Nixon oder Reagan. Nicht zuletzt die Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in Charlotte und anderswo 2016 haben das wieder in den Fokus gerückt. Dass weder ein schwarzer Präsident noch starke soziale Bewegungen wie „Black Lives Matter“ daran viel verändern konnten, habe die Konservativen eher geschwächt als gestärkt.
Spirale des Gepolters
Robin zufolge braucht der Konservatismus einen starken Gegner, um die vielen Strömungen, die ihn ausmachen, für ein gemeinsames Ziel zu bündeln. Und um von ihm zu lernen. Was der Bürgerrechtsbewegung einst in letztlich tragischer Weise gelang – den Konservatismus wieder stark zu machen –, daran scheitern – anders tragisch – soziale Bewegungen von heute. Eine ähnliche These hat für Deutschland bereits in den 1970ern Martin Greiffenhagen vertreten. Das Dilemma des Konservatismus, seine Schwierigkeit nämlich, unabhängig vom „definitorischen Gegner“ eigene Prinzipien zu bestimmen, birgt die Gefahr der Radikalisierung. So war es zwischen den Weltkriegen, und so erscheint es – bei allen Unterschieden – auch heute.
Es ist auffällig, dass sich die jetzige Radikalisierung des Konservatismus in Deutschland gerade aus seiner scheinbar dekadenlangen Hegemonie von Kohl bis Merkel entwickelt hat. Diese hatte nur diesmal etwas zu viel vom Gegner gelernt. Nachdem in den späten 1990ern nicht nur in Deutschland Sozialdemokraten mit Konservativen darum wetteiferten, wer die neoliberalere Politik machte, war es auch angesichts der folgenden Krisen für die Konservativen – oder in Deutschland unter Merkel nicht mehr ganz so Konservativen – offenbar zu wenig, die Früchte der Vorgänger nur noch zu verwalten. Merkel mag sich als große Krisen-Pragmatikerin in anderen politischen Lagern Freunde gemacht haben, ihr eigenes begann zu bröckeln. Sie hat es zu Tode gesiegt. Die AfD entstand aus der Eurokrise und radikalisierte sich in der Flüchtlingskrise. Und es ist nicht erstaunlich, dass vielen gemäßigteren Konservativen nicht viel anderes einfiel, als auf den rechten Zug aufzuspringen und zu poltern. Das Ergebnis war eine in höchstem Maß besorgniserregende Eskalationsspirale. Sie hat den öffentlichen Diskurs immer weiter nach rechts gezerrt und dabei das Konservative, nach dem sich angeblich alle sehnten, durch die wachsenden Risse rieseln lassen: Werte wie Familie oder Heimat, die alle nur noch hochhalten, um die dahinter liegenden Ressentiments zu kaschieren.
Wenn es stimmt, dass der Konservatismus sich an einem starken Gegner aufrichten muss, warum kann er diesen Gegner nicht auch auf seiner rechten, reaktionären Seite finden? Weil der dort letztlich doch nur als Konkurrent erscheint, mit dem man wetteifern muss? Die Frage bleibt, ob es eine sinnvollere Strategie ist, stattdessen den untoten Geist eines politisch längst besiegten linken Gegners als Feindmythos zu beschwören, wie etwa Dobrindt es tat. Das Gespenst des Konservatismus wird so kaum wieder lebendig werden. Man sollte vielleicht doch einfach eine in Zukunft wieder starke und einigermaßen einige Linke wünschen, damit die traurigen Geisterbeschwörungen wie auch die Radikalisierungen möglichst bald ein Ende haben.
Info
The Reactionary Mind. Conservatism from Edmund Burke to Donald Trump Corey Robin Oxford University Press 2017, 352 S., 15,49 €
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