Was haben eigentlich eine Reinigungskraft, eine freiberufliche Musiklehrerin und ein Büroangestellter gemeinsam? Nun, die meisten von ihnen verdienen mit ihrer Arbeit so wenig, dass sie davon kein nennenswertes Vermögen aufbauen können. Sie müssen Monat für Monat allein von ihrer – zunehmend prekären – Arbeit leben. Das betrifft in Deutschland immerhin 50 Prozent der Bevölkerung.
Dieser arbeitenden Hälfte der Gesellschaft hat die Journalistin Julia Friedrichs das Buch Working Class gewidmet. Sie hat Menschen begleitet und unterfüttert ihre Geschichten mit Experteninterviews, wissenschaftlichen Studien und essayistischen Passagen. Herausgekommen ist nicht nur das eindrückliche Porträt einer neuen Arbeiterklasse, die sich überhaupt erst als solche zu verstehen lernen muss. Es ist auch die Geschichte einer Generation, die es als erste in der Nachkriegszeit nicht besser haben wird als ihre Eltern.
der Freitag: Frau Friedrichs, Sie vergleichen den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft mit einer Leistungssportler*in vor dem Riss der Achillessehne. Wie nah sind wir dieser Verletzung?
Julia Friedrichs: Bei einer solchen schweren Verletzung reißt die Sehne auf einmal mit einem lauten Rumms, sodass es jeder mitbekommt. So etwas wird unserer Gesellschaft aber wohl nicht passieren. Vielmehr gibt es hier ganz viele kleine Verletzungen und Überdehnungen, deren Summe irgendwann dazu führen könnte, dass etwas auseinanderreißt. Das entspräche dann eher dem sogenannten „soccer’s ankle“, dem „Fußballergelenk“, bei dem unzählige kleine Risse im Laufe einer Karriere dafür sorgen, dass das Gelenk am Ende nicht mehr funktionsfähig ist. Einen solchen Karriereverlauf nimmt auch unsere Gesellschaft seit einigen Jahrzehnten.
Den größten Druck in dieser Situation muss die arbeitende Bevölkerung aushalten, die „Working Class“, für die es Ihrer Ansicht nach gar keinen richtigen deutschsprachigen Namen – und somit auch keine gemeinsame Identität – mehr gibt. Zeigt sich in dieser Sprach- und Identitätslosigkeit genau das Problem?
Absolut. Die Menschen, die ich für das Buch getroffen habe, begreifen ihr Ringen um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen als Einzelkampf. Es gibt kein geteiltes Bewusstsein dafür, dass man als nicht vermögende, arbeitende Bevölkerung in einer gemeinsamen Lage ist, aus der man sich auch gemeinsam herausbewegen müsste. Und ich glaube, das fängt tatsächlich bei der Sprachlosigkeit an. Der Begriff der „Arbeiterklasse“ ist in Deutschland bereits stark besetzt und verbraucht. Man spricht stattdessen von den „einfachen Leuten“ oder der „hart arbeitenden Mitte“. Mit der auch in den angelsächsischen Ländern unverbrauchteren Bezeichnung der „Working Class“ folge ich den US-Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman, die damit Menschen meinen, die allein von ihrer Arbeit leben müssen. Das betrifft in Deutschland immerhin 50 Prozent der Bevölkerung. Die Definition hat den Vorteil, dass sie auch Menschen ohne Vermögen umfasst, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht arbeiten, arbeiten können oder dürfen.
Zur Person

Foto: Andreas Hornoff/Piper Verlag
Julia Friedrichs, geb. 1979 in Westfalen, studierte Journalistik in Dortmund und Brüssel. Sie ist Autorin mehrerer erfolgreicher Sachbücher, darunter Gestatten: Elite. Auf den Spuren der Mächtigen von morgen (2008) und Wir Erben: Was Geld mit Menschen macht (2015)
Die Working Class, die Sie porträtieren, das sind Reinigungskräfte, Büroangestellte, Freiberufler. Wie kann eine so diverse Gruppe eine gemeinsame Klassenidentität entwickeln?
Am Ende teilen diese Menschen eben doch dasselbe Schicksal. Für sie alle ist es in den vergangenen Jahrzehnten deutlich schwieriger geworden, von ihrer Arbeit zu leben, geschweige denn dabei noch etwas anzusparen. Die prekarisierenden Veränderungen am Arbeitsmarkt – Lohnstagnation, Wegfall von Festanstellungen, Outsourcing, fehlende Anerkennung – sind etwas, das von Ungelernten bis hin zu exzellent Ausgebildeten im Grunde alle verbindet. Daher wäre es auch möglich, ein gemeinsames Bewusstsein aufzubauen, je mehr man über diese Dinge spricht und die verbindenden Mechanismen aufzeigt.
Warum haben wir eigentlich aufgehört, uns als Klassengesellschaft zu betrachten?
Ich glaube, dass wir gedanklich in den 80ern hängen geblieben sind und uns immer noch für die nivellierte Mittelstandsgesellschaft halten, die wir auch damals schon nicht wirklich waren. Und doch waren damals etwa die Aufstiegschancen so groß wie seither nie wieder. Die Unterschiede zwischen unterem und oberem Ende der Einkommensskala waren relativ gering. Seither haben sich die ökonomischen Rahmenbedingungen zwar eklatant verändert, aber in den Köpfen vor allem älterer Menschen – nicht zuletzt derjenigen, die heute den Diskurs dominieren und politische Entscheidungen treffen – bietet unsere Gesellschaft vermeintlich immer noch die gleichen Chancen wie damals.
Die Corona-Krise hat die Ungleichheitsrisse in unserer Gesellschaft noch einmal verschärft. Kann sie nun auch die kritische Masse für eine Trendumkehr erzeugen?
Ich weiß nicht, ob die Corona-Krise die Ungleichheiten wirklich verschärfen wird, sie hat sie aber auf jeden Fall offensichtlicher gemacht. Es war zwar im Grunde absurd, wie erstaunt zu Beginn der Pandemie viele Leute schienen, wie wenig Kassiererinnen und Krankenpfleger eigentlich verdienen – und ihnen dann vor lauter Rührung applaudiert haben. Ich war daher anfangs sehr zuversichtlich, dass das auch echte Veränderungen nach sich ziehen würde, aber wurde im Lauf der Buchrecherche schwer enttäuscht. Sait etwa, der trotz Pandemie jeden Tag weiter die U-Bahnhöfe putzen musste, bekam am Ende nur eine minimale Lohnerhöhung und keine Prämie, sondern gerade mal einen 20-Euro-Shopping-Gutschein für seinen Einsatz. Und inzwischen scheinen all die „systemrelevanten“ Arbeitsheld*innen schon wieder völlig vergessen zu sein.
Gibt es trotzdem Hoffnung für die Working Class?
Ja, ich glaube schon, dass sich langsam etwas tut. Den Anfang markiert hier die Einführung des Mindestlohns 2016, die den untersten Einkommensgruppen wirklich etwas gebracht hat. Der Mindestlohn ist mit derzeit 9,50 Euro natürlich noch viel zu niedrig, aber die Kompression der unteren Einkommen wurde immerhin nachweislich gestoppt. Ein nächster kleiner – aber wichtiger – Schritt könnte die Kindergrundsicherung sein, denn Kinder sollten nicht weiterhin das größte Armutsrisiko für Familien in Deutschland sein. Und es wundert mich schon, dass es nach einem Jahr Pandemie und Schulschließungen noch keine nationale Anstrengung gibt, dafür zu sorgen, dass die Kinder, die in prekären Verhältnissen ohnehin immer schon schlechtere Karten hatten, nicht ganz ohne Karten dastehen. Ja, das Thema Klasse kehrt zwar langsam zurück auf die Agenda, aber um die Dynamik der sozialen Ungleichheit zu stoppen, bedarf es einer viel größeren Entschlossenheit.
Info
Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können Julia Friedrichs Berlin Verlag 2021, 320 S., 22 €
Kommentare 24
- beschäftigungs-/anstellungs-verhältnisse,
in denen arbeits-kraft/arbeits-zeit-verausgabung nicht aus relativer armut rettet,
kinder-wünsche/ kulturelle teil-habe beschneidet, trübe aussichten
auf zeiten jenseits der schaffens-kraft bietet:
kennzeichnet die "prekäre lage" die engels in
"lage der arbeitenden klassen in england" (1845) beschreibt,
- und die global gesehen trotz ernorm gesteigerter arbeits-produktivität
und gesteigertem reichtum: sich die große mehrheit
(in spürbaren abstufungen) wiederfindet.
die hoffnung geht auf (mähliche) hebung der gegebenen einkommen,
im kampf gegen repression/(rassistische, geschlechtliche) restriktionen/
krisenhafte rück-schläge.
die entwertung weniger-qualifizierter arbeits-kraft-verausgabung
ist in dynamischen ökonomien durch rationellere arbeits-leistungen
immer gegeben.
gesellschaftliche verachtung menschen-unwürdiger arbeits-verhältnisse
ist spätestens seit dem --->abolutionismus(wikip.)
im (oft geschmähten) "werte-westen" eine kulturelle errungenschaft,
die sich gegen rück-schläge zu behaupten weiß.
Warum muss der Begriff "Arbeiterklasse" oder geschlechtsneutraler "arbeitende Klasse" unbedingt durch den Begriff "Working Class" ersetzt werden????? Wenn die Parteien, die sich als links verstehen, diese Menschen organisieren wollen, dann müssen sie frei nach Ignazius von Loyola auch die Menschen dort abholen wo sie stehen - auch bei der nichtakademischen Sprache.
„Working Class“ statt „Arbeiterklasse“ – so, so!
Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um deutsche Malocher handelt, die hier eine andere Bezeichnung erhalten sollen und die heutzutage jedoch vor allem durch eines gekennzeichnet sind, nämlich durch Ent-Solidarisierung der „Arbeiterklasse“, die durch Politik und Medien systematisch und gezielt betrieben wurde, in Deutschland seit etwa 1998 durch die Schröder-Clique, die sich schließlich im »Parteienkartell aus CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNEn« wiederfand und bis heute andauert. International hatte sie Vorläufer, die mit den Namen Ronald Reagan, Margaret Hilda Thatcher und „Tony“ Blair verknüpft sind.
Sie alle haben die Solidarität der „Arbeiterklasse“ für die Organisation von Billig-Arbeitsmärkten, die den Unternehmen und ihren Besitzern höhe Renditen einbrachten, bewusst zerstört. International agierende Konzerne halfen mit, die globale „Arbeiterklasse“ zueinander in Konkurrenz zu setzen.
NOKIA z.B. verlegte seine Produktion 2008 von Bochum nach u. a. Rumänien, in ein Land also, in dem im verarbeitenden Gewerbe 2014 EURO 4,20 gezahlt wurden. Natürlich hinterließ das Unternehmen in NRW auf diese Weise ungerührt soziale Not, hatte aber zuvor die Standortvorteile Bochums und die Fördergelder, die ihm auch das Land NRW gewährte, ausgelutscht.
Deutsche Regierungen des »Parteienkartells aus CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNEn« seit 1998 (und davor) zerstückelten und fragmentierten reguläre Arbeitsverhältnisse, so dass das seit 1960 nahezu unveränderte Arbeitsvolumen der BRD (ca. 57 Mrd. Stunden bis 61,1 Mrd. Stunden) seit 1960 von rund 26 Millionen auf heutzutage 45,5 Millionen Arbeitnehmer umverteilt wurde. Hierfür hat man eine neue Form der Wanderarbeiter kreiert, die z.B. zwar saisonal nach Deutschland oder in die Niederlande einreisen dürfen, um Erdbeeren oder Spargel zu ernten, die dann aber wieder verschwinden sollen.
Ich schreibe dies, um auf die gigantischen Dimensionen jener Entwicklung hinzuweisen, die die „Arbeiterklasse“ schlechter behandelte als das Vieh, das sie in den Schlachthöfen schlachten mussten.
Es ehrt Julia Friedrichs, dass sie das prekäre Leben jener „50 Prozent der Bevölkerung“ umtreibt, ihren Versuch einer neusprechlichen, anglistischen Namengebung betrachte ich allerdings als Ausdruck von Hilflosigkeit angesichts dieses gewaltigen Themas.
Ich frage mich, wenn es für "working class" keinen "deutschsprachigen Namen" gibt, welcher "englischsprachige Name" denn in einer Marx-Übersetzung für dessen Begriff "Arbeiterklasse" verwendet wird? Für eine Antwort auf diese drängende Frage wäre ich sehr verbunden.
:-)
„Working Class Hero“ Green Day (Cover Version)
Die Arbeiterklasse sollte mal ein paar von diesen Spacken kielholen. Ich glaube es hackt. Was erlauben sich diese Spinnerinnen (ja, fast immer Frauen).
Zitat: "... ihren Versuch einer neusprechlichen, anglistischen Namengebung betrachte ich allerdings als Ausdruck von Hilflosigkeit angesichts dieses gewaltigen Themas."
Ja, das Thema ist gewaltig, aber für Frieden, Freiheit, Demokratie und den Zusammenhalt der Gesellschaft essenziell, jedenfalls dann, wenn man dies ernst nimmt und nicht nur davon faselt wie das viele "Qualitätsjournalisten" der Mainstream-Medien seit Jahren tun, die auch noch die beleidigte Leberwurst spielen, wenn man einmal die seltene Möglichkeit hat, das einem von ihnen direkt ins Gesicht zu sagen.
Schon aus diesem Grund muss man denen, die in den Mainstream-Medien keine Stimme haben und sprachlos sind, eine Stimme geben und für sie sprechen.
Das Sein bestimmt leider nicht immer das kollektive Bewusstsein. Wenn dies tatsächlich zutreffen würde, wie kann es dann sein, dass in einer Demokratie mit angeblich freien und gleichen Wahlen eine Hälfte der Bevölkerung vom Wohlstand ausgeschlossen wird, während auf der anderen Seite ein einziger sogenannter "Leistungsträger" fürs Nichtstun inzwischen mehr Dividende in einem Jahr kassiert als 1.000 Altenpfleger zuzammen?
Warum wird das Thema in den Mainstream-Medien unter den Teppich gekehrt? Und wenn die Thematik einmal angesprochen wird, dann wird das Problem in der Regel verharmlost.
Die pauschale Diffamierung des Sozialstaates als Ballast für die Wirtschaft hat nicht erst mit dem Pseudo-Sozialdemokraten Gerhard Schröder angefangen (Stichwort: Agenda 2010). Die neoliberale "Umerziehung" mündiger Bürger zu Untertanen (nach unten treten und nach oben buckeln) hat in Deutschland schon lange vorher begonnen nämlich mit der geistig-moralischen Wende eines gewissen Dr. Helmut Kohl von der CDU bzw. dem sogenannten Lambsdorff-Papier Anfang der 1980er Jahre. Wer heute 50 Jahre alt ist oder jünger, der kennt überhaupt nichts anderes als das neoliberal-konservative Geschwafel.
Sehr oft "proletariat" ...
https://en.wikipedia.org/wiki/Proletariat
Greetings. In solidarity.
Die ‘Deklassifizierung’ der Arbeiterklasse in Deutschland ist ein Teil des vorsätzlich geschaffenen Gründungsmythos der BRD nach dem II. Weltkrieg, und verkörpert den semantischen Kontext des von den West-Allierten auf die Schienen gesetzten CDU-Staates.
Eine ganze Reihe von Wortschöpfungen wurden durch das folgende ‚Wirtschaftswunder‘ propagiert und dienten als spachlich-mentale Verschleierungshülse für die BRD-Variente des sich neu formulierenden Kapitalismus, sie bedienten auch die Anwendung berüchtigter Ausgrenzungen und Berufsverbote.
Eine kleine Auswahl dieser ideologisch besetzten Sprache: Angestellte, Staatsbedienstete, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Selbständiger, Freier Unternehmer, Freie Marktwirtschaft, Gesetzgeber, die Polizei – dein Freund und Helfer, Bürger in Uniform, Gastarbeiter, etc.
Für viele dieser Kreationen gibt es im Englischen oft kein passendes Equivalent, oder die benutzte Übersetzung ruft Kopfschütteln und Unverständnis hervor.
Gegenwärtige, politisch-wissenschaftliche Literatur in Englisch ist daher oft präziser and analytisch klarer, als es bei der Anwendung von Deutsch eventuell der Fall wäre.
Im Verlauf der BRD-Geschichte hat auch das deutsche Wort ‚Arbeiterklasse‘ eine inhaltliche Entwertung erfahren, die die englische Übersetzung ‚working class‘ (noch?) nicht teilt.
A ‚working class hero‘ ist im Englischen eine wesentlich positivere (und teilweise auch andere) Erscheinung als der deutsche ‚Held der Arbeit‘...
https://www.youtube.com/watch?v=k5wMBW9smVU
Ach so. Dann wird also der Satz "Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein" übersetzt mit "The liberation of the proletariat...", und umgekehrt "Proletarier aller Länder, vereinigt Euch" mit "working classes of all countries..." ???:-)
"Warum muss der Begriff "Arbeiterklasse" oder geschlechtsneutraler "arbeitende Klasse" unbedingt durch den Begriff "Working Class" ersetzt werden?????"
Weil in der hiesigen akademischen Soziologie und Politologie der Begriff "Klasse" völlig entkernt wurde.
Aktuelles Beispiel: Der populäre, staatlich bestallte Soziologe Andreas Reckwitz (u.a. "Die Gesellschaft der Singularitäten") spricht von vier "Klassen", nachzuhören bei DLF Nova: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/klasse-und-schicht-der-soziologe-andreas-reckwitz-ueber-ober--mittel--und-unterschicht
Zusammenfassung des Senders: "Der Soziologe unterscheidet dabei wie folgt: Es gäbe eine kleine Oberschicht, darunter zwei Mittelschichten und eine Unterschicht. Bis in die 1970er Jahre hinein habe es nur eine Mittelschicht gegeben. Diese sei eine im Prinzip homogene Gruppe gewesen, die den Großteil der Bevölkerung ausmachte.
Dann sei der Wechsel von der Industrie- hin zur Dienstleistungsgesellschaft erfolgt, unter anderem begleitet von einer gewaltigen Bildungsexpansion. Die Gewinner und Gewinnerinnen seien die Hochschulabsolventen und -absolventinnen gewesen, die heute in Forschung und Entwicklung, in den Medien und Kreativberufen oder in Bereichen wie Medizin, Finanzen und Recht tätig sind. Sie alle wohnen in der Regel in größeren Städten und bildeten die neue Mittelschicht.
Die alte Mittelschicht hingegen lebe vor allem auf dem Land, habe Vorbehalte gegen die Globalisierung und verliere zunehmend an Prestige, so Andreas Reckwitz in seiner Analyse. Diese alte Mittelschicht sei hervorgegangen aus den Industriearbeitern, für die lokale Wurzeln, Disziplin und Fleiß noch immer hohe Werte darstellten.
Die Angehörigen der Unterschicht konnten bis Ende des vergangenen Jahrhunderts einigermaßen von dem leben, was sie als Geringqualifizierte durch harte körperliche Arbeit leisteten, so der Soziologe. Und heute? Andreas Reckwitz spricht von einem "Sich-Durchwursteln". Langfristige Planungen seien in dieser prekären Klasse nicht denkbar – wenn jemand dem Alltag Stand halte, sei das eine große Leistung."
Meine Kritik daran:
1. Reckwitz weicht den Klassenbegriff in unzulässiger Weise auf. Die drei von ihm postulierten „Klassen“ (die Oberschicht lassen wir mal beiseite) - alte Mittelklasse, neue Mittelklasse und Dienstleistungsproletariat - sind keine wirklichen Klassen, sondern Schichten innerhalb einer Klasse (also der working class im Sinne von J. Friedrichs), weil sie die gleiche Stellung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozess einnehmen.
2. Indem Reckwitz kulturelle Unterschiede zwischen den von ihm ausgemachten „Klassen“ hervorhebt, lenkt er davon ab, dass die drei Schichten objektiv gemeinsame Interessen haben, vielmehr werden in seiner Argumentation Differenzen vertieft, die von interessierten Seiten (Parteien, Verbände, Lobbyisten) für ihre jeweiligen Zwecke ausgenutzt werden können.
3. Sein kultursoziologisch angelegtes Klassenmodell vernachlässigt sämtliche Aspekte der Herkunft, wie soziales und kulturelles Milieu, ethnische Herkunft, Bildungschancen usf.
4. Bezeichnenderweise macht Reckwitz seine „Klassen“ nur innnerhalb der Gruppe der abhängig Beschäftigten aus. In seinem 3+1-Modell erwähnt er zwar die Oberklasse, klammert sie in der weiteren Darlegung aber völlig aus. Mehr noch, es fehlen kleine und mittlere Gewerbetreibende (einschl. Landwirte) und Freiberufler, aber auch Staatsbedienstete, die allesamt zur klassischen Mittelschicht gehören, ganz zu schweigen von der (wirklichen!) Klasse der Kapitaleigentümer.
5. Reckwitz erweist sich als (philosophischer) Idealist, denn an keiner Stelle seines Vortrags thematisiert er die materiellen Grundlagen gesellschaftlicher, sozialökonomischer oder kultureller Entwicklungen.
Es bewahrheitet sich mal wieder die marxsche Einsicht: "Es ist also hier absolutes Interesse der herrschenden Klassen, die gedankenlose Konfusion zu verewigen."
- reckwitz mal beiseite:
- der "klassenbegriff" hat einen unaufgeweichten,harten kern.
aber nur als akademisch-unpraktischer begriff in polit-ökonomischen
struktur-analysen.
- die konkreten, mehr oder weniger unterworfenen akteure im kapitalismus
hat nicht nur e i n objektives interesse:
sein interesse ist gespalten:
als verbraucher ist er an niedrigen preisen für seinen konsum interessiert,
als arbeitskraft-verkäufer ist er an einer sicheren einkommens-quelle interessiert.
als kommender rentier ist er womöglich kapital-anleger in einem pensions-fonds/
in einer lebensversicherung, die auf erträge aus produktivitäts-steigerungen/
rationalisierungs-maßnahmen angewiesen ist.
im bewußtsein, daß höher-qualifizierte arbeits-kraft sich besser vermarkten läßt,
sind ihm ausbildungs-chancen wichtig.
im bewußtsein, daß gesundheit schwinden kann:
isr er an möglichst günstigen umwelt-bedingungen/konsum-produkten
interessiert.
= aus diesem mix von interessen ergeben sich (soziologisch typisierend/
statistisch zusammenfassend): diverse "soziale lagen"*,
die als un-gleichheiten nicht ignorieren werden sollten.
---> "soziale lage"(wikipedia).
„…muss man denen, die in den Mainstream-Medien keine Stimme haben und sprachlos sind, eine Stimme geben und für sie sprechen.“
Aus genau diesem Grunde und der Renitenz der „Qualitätsmedien“ wegen habe ich vor genau drei Jahren meine persönliche Homepage eröffnet.
Volle Zustimmung zu dem, was Sie hier antworten, mit der kleinen Einschränkung, dass ich an die Wirksamkeit einer projektierten, neu erstarkten Arbeitnehmersolidarität nicht glaube. Es braucht Revolution. Doch die ist bekanntlich in Deutschland verboten.
zu den "unterworfenen akteuren im k-system"
gehören auch: (landwirtschaftlich-) klein-kapital-basierte existenzen,
hochspezialisierte dienst-leister im beratungs-bereich,
die untätigen kapital-eigentümer vor kosten(auch: steuern) bewahren,
deren betriebe leiten und/oder für lukrierende/gewinn-trächtige
kapital-anlagen sorgen.
die divers-stabilen selbständigen, auch handwerks-meister nicht zu vergessen...
es ist nicht so einfach,
sich eine sozio-ökonomisch-homogene volks-gemeinschaft
zusammen-zulügen, wie es die DDR-ideologen taten...
>>Die ‘Deklassifizierung’ der Arbeiterklasse in Deutschland ist ein Teil des vorsätzlich geschaffenen Gründungsmythos der BRD nach dem II. Weltkrieg, und verkörpert den semantischen Kontext des von den West-Allierten auf die Schienen gesetzten CDU-Staates.<<
Ja. Der Kaltkriegsstaat mit seinem "Konsumparadies" und dem kruden Antikommumismus führte zur Entsolidarisierung und schwächte im Laufe der Jahrzehnte die Gewerkschaften. Das Ergebnis sehen wir heute: Stetig zunehmende Prekarisierung der Arbeiterklasse.
---
Modische Anglizismen führen zu Diskussionen die vom Thema ablenken. Darauf springen Viele an, auch das sehen wir hier.
Ich kann die Arbeiterklasse immer noch Arbeiterklasse nennen, konnte mich selbst als Lohnarbeiterin bezeichnen, sah nie einen vernünftigen Grund, die Begriffe "Angestellte" und "gewerbliche Arbeitnehmer" zu benützen, und nenne ein Kriegsministerium auch nicht "Verteidigungsministerium". Oder Kapitalismus "freie Marktwirtschaft".
Sparen wir uns doch das Wortgeklingel und reden Klartext, das ja schon mal möglich.
>>...das ja schon mal möglich.<<
=
das war ja schon mal möglich.
"Es gibt kein geteiltes Bewusstsein dafür, dass man als nicht vermögende, arbeitende Bevölkerung in einer gemeinsamen Lage ist, aus der man sich auch gemeinsam herausbewegen müsste."
Als ob das jemals anders war, nur der Organisationsgrad war mal etwas mehr oder etwas weniger. Deshalb den Begriff Arbeiterklasse zu entsorgen ist Wichtigtuerei oder soziologisches Bigwallawalla.
Natürlich hat sich die Zusammensetzung der Arbeiterklasse geändert. Wo früher hunderte gemeinsam am Stahlofen oder am Fließband standen, sind sie heute auch in neue, meist in Kleinstgruppen oder alleine arbeitende partikularisiert. Die gesellschaft hat sich massiv verändert, aber deshalb ist die Arbeiterklasse nicht verschwunden.
Deshalb ist es richtig, wenn die Autorin bei den Interviewten objektiv gleiche Interessen entdeckt - aber neu ist das nicht!
Ja, neu ist es fürwahr nicht. Und die Zahl derer, die mangels anderer Einkommensquellen vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben hat in den vergangenen 100 Jahren zugenommen und keineswegs ab.
Zugenommen hat die Zahl der Lohnarbeitenden mit sehr geringem Einkommen und Aussicht auf Armutsrente, diese Entwicklung geht weiter.
Und zugenommen hat der gesundheitsschädliche Leistungsdruck.
Dazu kommen sich verschlechternde Lebensbedingungen durch Umweltschäden und Klimawandel.
"Was haben eigentlich eine Reinigungskraft, eine freiberufliche Musiklehrerin und ein Büroangestellter gemeinsam? Nun, die meisten von ihnen verdienen mit ihrer Arbeit so wenig, dass sie davon kein nennenswertes Vermögen aufbauen können..... Dieser arbeitenden Hälfte der Gesellschaft hat die Journalistin Julia Friedrichs das Buch Working Class gewidmet."
Sind die Analysen von Marx wirklich so unbekannt heutzutage? Aber okay, man kann alle Menschen, die schuften und wenig verdienen, einfach alle als "Working Class" bezeichnen, von Kleinbauern über freiberufliche Musiklehrerinnen, Schriftstellerinnen, Tätowiererinnen, Putzmänner usf. . Nur sollte man sich bewusst sein, dass man auf diese Weise mit einigen Merkmale der kapitalistischen Oberfläche genauso oberflächlich soziale Klassen, Schichten von Personen bildet, ohne deren tieferen Abhängigkeiten, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Grundwidersprüche zwischen Kapital und Arbeit als Triebkräfte der historischen Entwicklung zu verstehen. (Ich beziehe mich jetzt nur auf das hier Vorgestellte aus dem Buch.) . Da ich das Buch nicht gelesen habe, möchte ich jetzt auch nicht spekulieren, wo ein Aufbegehren einer solcherart definierten "Working class" enden kann und wer das auszunutzen weiss.
Mich stört die andauernde Verwendung von Anglizismen durch die Lifestyler, weil damit die Verständlichkeit für die Betroffenen schwindet. Das Soziologengeschwurbel des Herrn Reckwitz ist was anderes.
Mit dem Begriff „Klasse“ oder „Class“ kann doch kaum jemand etwas anfangen.
Die größte benachteiligte Gruppe im Land, das sind die Arbeitskraftvermieter, die von der kleinen Gruppe der Arbeitskraftmieter ständig über den Tisch gezogen wird.
Nun muss man nur darauf hinweisen, dass in der Regel die Vermieter die Preise und die Miet-Bedingungen bestimmen. Kennt man von Wohnungsvermietern, Fahrzeugvermietern, Körpervermietern (Prostituierte) usw. Und wenn dem interessierten Mieter das nicht passt, läuft nichts.
Problem nur: Der schlechte Organisationsgrad der Arbeitskraftvermieter. Ihre Vereinzelung. Es braucht mehr Arbeitskraftvermieter-Bewusstsein!