Gefährliche Experimente

Entgrenzung Erschöpfte Menschen: Schöne neue Arbeitswelt oder strukturierte Verantwortungslosigkeit? Warum wir der Gefahr einer „Reproduktionslücke“ begegnen müssen

Die Finanzkrise, derzeit im Zentrum gesellschaftlicher Debatten, sowie die Abstiegsängste der Mittelschichten dürfen nicht dazu führen, dass wir die Konsequenzen übersehen, die sich aus dem entgrenzten Arbeiten und Wirtschaften im Lebenslauf junger Erwachsener und im Alltag erwerbstätiger Eltern ergeben. Es ist kein Zufall, dass „Erschöpfung“ zur Leitchiffre postmoderner Befindlichkeit geworden ist.

Klar ist, dass jede soziologische Zeitdiagnose, von der Risiko- über die Erlebnis- bis hin zur Beschleunigungsgesellschaft, immer nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtgeschehen erfassen kann. Dies gesagt, wird im Folgenden auf eine Kennzeichnung der Lebensverhältnisse von Menschen in ihrem privaten und beruflichen Bereich in der späten Moderne zurückgegriffen, die diese als von vielfältigen Prozessen der Entgrenzung geprägt sieht. Diese Formel von der „Entgrenzung“ hat in den letzten Jahren in der soziologischen Debatte über den Wandel von Unternehmensorganisationen und Arbeitsbeziehungen einen prominenten, durchaus kontroversen Stellenwert gewonnen.

Unübersehbar und prototypisch dokumentieren sich Prozesse der daraus folgenden neuen Anforderungen in den Trendsetter-Branchen und Wirtschaftssektoren; also in der Kultur- und Medienwirtschaft, den Finanzdienstleistungen, der IT-Branche und der Biotechnologie sowie bei den vielfältigen Spielarten von Alleinselbständigen. In vielen anderen Branchen und Sektoren ist derzeit aber Ähnliches, mit je eigenen Ausprägungen, bis in die breiten Mittelschichten- und Facharbeitermilieus hinein zu beobachten. Festzuhalten ist insgesamt, dass es nicht „die Entgrenzung“ und „die Ökonomisierung“ gibt, die auf alle Branchen und Individuen gleich wirkt, sondern sich jeweils spezifische Konstellationen herausbilden.

Im Überblick gesehen bedingen Prozesse der Entgrenzung des Wirtschafts- und Arbeitssystems, dass gegenüber dem Referenzzeitraum der sechziger bis achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts erstens der relative Anteil von Arbeitsplätzen mit den Merkmalen Autonomie und Komplexität der Anforderungen gestiegen ist – verknüpft mit jeweils spezifischen Mischungen von Vor- und Nachteilen. Daneben dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass es auch noch einen erheblichen Anteil von Arbeitsplätzen gibt, die mit den Merkmalen Monotonie und Fremdbestimmung verbunden sind. Aber: Der „Unternehmer seiner selbst“ wird immer mehr zur Leitfigur, was sich auch in den Orientierungen von Arbeitsvermittlern nachweisen lässt.

Tendenz zur Selbstüberforderung

Zweitens hat sich die Qualität von Arbeitsanforderungen mit Blick auf das Subjekt verändert. Dabei geht es zuerst darum, dass erwerbstätige Personen ihre subjektiven Potenziale mehr als bisher systematisch in die Arbeitsprozesse integrieren müssen – sprich Kreativität, Verantwortlichkeit und Innovativität müssen von den Personen mehr als bisher eingebracht werden. Arbeitende haben mehr und tiefgehender als bisher Anteile ihres persönlichen Potenzials in sich freizulegen und einer ökonomischen Verwertung im Arbeitsprozess zur Verfügung zu stellen. Das Anforderungsprofil lautet, Bereitschaft und die Kompetenz zur aktiven Selbststeuerung in und für Arbeit in erweiterter Form zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen. Die auf den ersten Blick gestaltungsoffeneren Arbeitsbedingungen, beispielsweise in Form des Verzichts auf eine offizielle Dokumentation der Arbeitszeiten, führen nicht selten dazu, dass die Erfüllung der Arbeitsaufgaben im Sinne einer subjektiv als wichtig eingeschätzten persönlichen Leistung Tendenzen der systematischen und chronifizierten Selbstüberforderung beinhaltet.

Oftmals werden dann Erwerbsarbeit und Privatleben nicht mehr getrennt, Privat- und Arbeitsleben entgrenzen sich also, ohne dass dies, wie in machen Branchen der Kreativindustrie auch ausdrücklich von den Erwerbstätigen, so gewünscht wäre. Fehlt dann noch die Anerkennung durch Kollegen und den Arbeitgeber, ist die Wahrscheinlichkeit von Krankheit drastisch erhöht. Im Verbund mit weiteren Anforderungen an heutige Erwerbstätigkeit, beispielsweise durch die Notwendigkeit von Mobilität sowie die ebenfalls entgrenzungsforcierenden Kommunikations- und Informationstechnologien, ist ein auch zusehends die Sozialmedizin beschäftigendes Phänomen, nämlich die permanente Erschöpfung bis hin zum Burnout, der immer mehr junge Erwerbstätige betrifft, eine Konsequenz der „schönen neuen Arbeitswelt“.

Identität und Nützlichkeit

Stichwort junge Leute: die zweite Konsequenz der neoliberalen Umbauten des Wirtschaftens und Arbeitens in Form der „entgrenzenden Erschöpfung“ ist die damit einhergehende Verknappung der Arbeitsplätze und der ständig präsenten, massenmedial verbreiteten Botschaft, dass es eine besondere Gnade und Pflicht zugleich darstellt, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Dies führt zu den Verzögerungen in der Einmündung in den Arbeitsmarkt. Zwar gelingt es den höher qualifizierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen immer noch besser, einen Fuß in die Erwerbswelt zu bekommen – aber auch sie müssen Umwege, unbezahlte Praktika und weitere Zumutungen auf sich nehmen. Härter trifft es all jene, die über einen gering bewerteten oder gar keinen beruflich qualifizierenden Abschluss verfügen – sie haben kaum Chancen, in den regulären Arbeitsmarkt zu kommen und resignieren schon früh. Ohne die auch hierzulande sehr stark ausgeprägte familiale Solidarität würde sich hier ein massives soziales Protestpotenzial aufbauen.

Beide Entwicklungen – die durch Entgrenzungen forcierte Erschöpfung im Alltag von nicht wenigen Erwerbstätigen und die Verzögerung der auch für die Definition eines erwachsenen Lebens so wichtige Aufnahme einer (gut bezahlten) Erwerbsarbeit könnten in nicht allzu ferner Zukunft eine mehrfache „Reproduktionslücke“ schaffen, die dem Wirtschaftssystem selbst Schritt für Schritt die Grundlagen entziehen wird: erschöpfte Erwerbstätige sind nämlich erstens nicht nur höchstens eingeschränkt fähig, Selbstsorge zu betreiben, sondern können auch nur noch sehr eingeschränkt Fürsorge für andere betreiben.

Junge Erwachsene, die von der Gesellschaft einerseits mit einem Dauerbombardement der Botschaft belegt werden, wie wichtig die Erwerbsarbeit, welcher Art auch immer, für Identität und Nützlichkeit in der Gesellschaft sind und denen die Hürden für einen Eintritt in die solche immer höher gelegt werden, verschieben aus guten Gründen die Familiengründung immer weiter – bis zu einem Punkt, an dem sie dann gar nicht mehr realisiert wird. Das Experiment, wie lange sich eine Gesellschaft und ihre politische Elite eine „strukturierte Verantwortungslosigkeit“ der Finanzmärkte im Verbund mit einer mittlerweile empirisch nachgewiesen sich vertiefenden Polarisierung der Einkommen und Vermögen und damit das Wegschmelzen der Mittelschicht leisten können, die immer stärker auch durch die Erwerbsbedingungen und Sorgen um die Zukunft der eigenen Kinder belastet wird, sollte man schleunigst beenden!

Andreas Lange ist Soziologe und Psychologe, hat mit einer Arbeit zum Kinderleben auf dem Lande promoviert. Seit 2003 arbeitet er am Deutschen Jugendinstitut in München als Grundsatzreferent für Familienwissenschaften. Zum Weiterlesen: Jurczyk, Karin/Michaela Schier/Michaela Szymenderski/Andreas Lange/Gerd Günter Voß (2009). Entgrenzte Arbeit - entgrenzte Familien. Grenzmanagement im Alltag als neue Herausforderung, erschienen bei edition sigma. Der oben stehende Beitrag ist auch auf der Seite des freitag.de-Kooperationspartners Progressives Zentrum erschienen.

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