Angriff auf den Lenin-Sowchos

Russland Auf zwielichtige Weise wird versucht, dem Agrarunternehmer Pawel Grudinin seinen Vorzeigebetrieb an Moskaus Peripherie abzujagen
Ausgabe 33/2020

Wenn Pawel Grudinin über die Attacken der Immobilienhaie auf den von ihm geleiteten Lenin-Sowchos redet, bleibt er ganz ruhig. Dabei müsste er eigentlich laut, aufgeregt und empört sein, denn die Gerichtsvollzieher sind schon im Anmarsch. Wir sitzen auf einer Bank in einem Park mit russischen Märchenfiguren, den Grudinin hat bauen lassen. Was der Sowchos-Vorsitzende, der 2018 gegen Wladimir Putin in den Wahlkampf zog, mir erzählt, erinnert an Schlachten unter Feudalherren in vergangenen Zeiten. Jedenfalls könnte das Agrarunternehmen bald von der Endlichkeit seines Daseins erfahren. Am 6. Juli hat ein Schiedsgericht des Moskauer Gebiets gegen den Chef des Lenin-Sowchos wegen „schlechter Wirtschaftsführung“ eine Strafe von umgerechnet zwölf Millionen Euro verhängt. Geld, das Grudinin nicht hat, doch gibt er sich kampfbereit. Seinen Sowchos will er so entschlossen verteidigen „wie die Festung Brest im Juni 1941“, sagt der Mann, den ganz Russland kennt und den viele achten. Linkspatriotischen Internetmedien gibt Grudinin ständig Interviews. Aktivisten, Politologen und Journalisten, nicht nur aus dem linken, auch aus dem liberalen Lager, solidarisieren sich mit ihm. Die großen Fernsehkanäle wiederum tun so, als würde es Grudinin nicht mehr geben. Über die verhängte Geldstrafe verlieren sie kein Wort, geschweige denn über den sich abzeichnenden Genickbruch des Sowchos.

Der 59 Jahre alte Chef dieses Agrarunternehmens hat vor zwei Jahren bei der Präsidentenwahl als Bewerber der KP Russlands gegen Wladimir Putin kandidiert und mit 11,8 Prozent und 8,7 Millionen Wählern erstaunlich gut abgeschnitten. Und nun ist er urplötzlich keine Person des öffentlichen Interesses mehr?

Dreimal mehr Lohn

„Die Geldstrafe ist die Rache für das Wahlergebnis“, glaubt Grudinin. Erst hätten die regierungsnahen Medien seine Kandidatur nicht ernst genommen. Er könne nicht mehr Stimmen für die Kommunisten holen als deren – heute 76 Jahre alter – Vorsitzender Gennadi Sjuganow, hieß es allenthalben. Als Grudinin in den Wahlkampf eingestiegen war, zeigte sich hingegen, dass der Mann mit dem charakteristischen Schnurrbart auch bei manchem Putin-Wähler ankam. Er wirkte glaubwürdig, konnte am Beispiel seines Sowchos ganz praktisch erklären, wie er sich eine sozial gerechtere Gesellschaft vorstellt. Dabei bekannte sich Grudinin zu Lenin und Stalin, er sagte Sätze wie: „In Deutschland und Schweden gibt es schon Sozialismus.“ Er meinte damit ein Maß an sozialer Sicherheit, das für Russland nach Auflösung der Sowjetunion undenkbar ist. Nur in seinem Sowchos, erklärt der Agrarunternehmer, der 1995 zum Betriebsdirektor gewählt worden war, existierten noch Umgangsformen, wie es sie zu Sowjetzeiten gegeben habe. „Wer bei mir arbeitet, bekommt einen guten Lohn, umgerechnet und im Schnitt 930 Euro, das ist dreimal mehr als in anderen Agrarbetrieben.“ Und wer nicht arbeiten könne, wie Rentner und junge Mütter, der erhalte eine Unterstützung, zusätzlich zur staatlichen Hilfe. „Wer jedoch nicht arbeiten will, bekommt nichts.“

Nach 15 Jahren in diesem Betrieb können Mitarbeiter bei einer Eigenbeteiligung von 50 Prozent Eigentümer einer Wohnung werden. Schulbesuch, Schulessen, Kindergarten und medizinische Versorgung sind für die Mitarbeiter des Sowchos und ihre Kinder kostenlos. Derartige Standards sucht man anderswo in Russland vergebens. Einigen Oligarchen und den mit ihnen verbundenen Beamten sei der Lenin-Sowchos ein Dorn im Auge, meint Grudinin. „Wir sind ein zu gutes Beispiel – also muss man uns vernichten.“

Für die Immobilienhaie, in Russland „Raider“ genannt, ist der Sowchos wegen seiner Lage an der südlichen Peripherie von Moskau, dazu nicht weit vom Autobahnring, ein wahre Delikatesse. Die „Raider“ träumten davon, so Grudinin, auf den über 2.000 Hektar Fläche Wohnhäuser für eine zahlungskräftige Kundschaft hochzuziehen. Im Umland der Hauptstadt seien seit 1992 fast alle Sowchose aufgekauft oder in den Bankrott getrieben worden – bis auf den Lenin-Sowchos, der widerstehen konnte. Man habe in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten schon fünf „Raider“-Attacken überstanden. „Die sechste Attacke läuft seit zweieinhalb Jahren und ist bislang die schlimmste“, urteilt Pawel Grudinin in einem so gelassenen Ton, als habe er auch diesen Angriff schon hinter sich. „Auf Seiten der ‚Raider‘ stehen die Polizei und die Gerichte, wenn es darum geht, Arbeiter zu entlassen und sich in den Besitz von Bauland zu bringen.“ Dass der Sowchos-Chef derart entspannt wirkt, hängt augenscheinlich mit dem Rückhalt zusammen, der ihm durch die etwa 12.000 Menschen zählende Einwohnerschaft der Gegend rings um den Sowchos zuteilwird. An vielen Fenstern der unter Grudinin gebauten modernen Hochhäuser flattern rote Stofflappen als Zeichen des Protests und des Widerstandes gegen die „Raider“.

Schon zu Sowjetzeiten war der Lenin-Sowchos für seine ertragreichen Erdbeerfelder berühmt. Heute werden vor allem Kartoffeln und Gemüse angebaut. Auf Plantagen werden Äpfel oder Birnen geerntet und zu Saft verarbeitet. In einem Milchbetrieb sind automatische Melkanlagen im Einsatz. „Die ehemaligen Melker wurden bei gleichem Lohn in andere Abteilungen versetzt“, berichtet Grudinin. Man habe viel modernisiert, sodass die Belegschaft über die Jahre von 800 auf 300 verkleinert worden sei. Während der Erntezeit werde der Betrieb um 500 Saisonkräfte aufgestockt. Rationalisierung liege für die Landwirtschaft im Trend, meint der Sowchos-Chef, da müsse man mithalten. Es gebe außerdem eine Käserei, die einen deutschen Joghurthersteller beliefere, der in Russland ein Tochterunternehmen betreibe.

Igor Schamonin, ein Agronom, der für die Erdbeerschläge des Sowchos zuständig ist, zeigt mir eines der Felder, das gerade von einer Gruppe Usbekinnen und Usbeken abgeerntet wird. Igor beteuert, dass man bei der Düngung keine Chemie, sondern nur natürliche Nährstoffe benutzt. Ich komme mit Schasor, einem 26 Jahre alten usbekischen Pflücker, ins Gespräch. Er erzählt, dass für die Saisonarbeiter Wohnen und Essen auf dem Anwesen kostenlos seien. Im Augenblick wohne man zu viert in einem Zimmer. Im Monat verdiene er gut 47.000 Rubel (480 Euro) und sei zufrieden. Seit sechs Jahren komme er nun schon zur Saisonarbeit hierher.

Wohnung statt Villa

Bei einigen Gebäuden des Sowchos haben die Architekten bekannte westliche Bauwerke imitiert. Ein Kindergarten erinnert mit seinen spitz zulaufenden Türmen an das bei russischen Touristen beliebte Schloss Neuschwanstein in Bayern. Ein Schulhort weist mit seinen strengen Linien und den achteckigen Türmen Ähnlichkeiten mit Landhäusern aus dem England des 19. Jahrhunderts auf. Der Park, in dem Kinder per Knopfdruck russische Märchenfiguren in Bewegung setzen, hat ein Eingangsportal, das in seiner Verspieltheit den Stil des katalanischen Architekten Antoni Gaudí aufzunehmen scheint.

Die 30 Aktionäre des Sowchos hätten nie Dividenden bekommen, versichert Grudinin. Die Gewinne seien nicht wie bei russischen Oligarchen in Jachten und ausländische Immobilien investiert worden. Er selbst lebe nicht in einer Villa, sondern im gleichen Hochhaus wie Arbeiter des Sowchos. Später zeigt mir der Agronom Igor dieses Gebäude – ein gewöhnlicher mehrgeschossiger Bau.

Regierungsnahe Medien versuchen, Leben und Leistungen des Lenin-Sowchos zu zerreden. Seit Grudinin vor zwei Jahren bei den Präsidentschaftswahlen kandidiert hat, läuft eine Diffamierungskampagne, die in der Unterstellung gipfelt, der Agrarunternehmer habe schwarze Konten und Häuser im Ausland. Dass seine Söhne Anton und Artjom Latifundien in Spanien und Lettland besitzen, sei deren Sache, so Grudinin. „Sie haben ihr eigenes Einkommen.“ Er sei 2018 nach akribischer Prüfung seiner Einkommensverhältnisse durch die Zentrale Wahlkommission zur Abstimmung zugelassen worden. Wozu also sollten die immer wiederkehrenden Verdächtigungen gut sein?

Grudinins Gegner hatten noch einen weiteren Pfeil im Köcher. Sieben Minderheitsaktionäre reichten 2018 Klage gegen ihn ein. Sie warfen ihm vor, ein vor elf Jahren getätigter Verkauf von neun Hektar Boden des Sowchos an ein bekanntes schwedisches Möbelhaus habe nicht den erwarteten Gewinn erbracht. Man hätte das Gelände vor dem Verkauf als Gewerbefläche klassifizieren müssen, dann hätte sich mehr Geld fordern lassen. Am 6. Juli gab das Schiedsgericht des Moskauer Gebietes den Klägern recht. Gegen Grudinin wurde „wegen schlechter Wirtschaftsführung“ eine Strafe von umgerechnet zwölf Millionen Euro verhängt. Ein schwerer Schlag für den Sowchos-Chef war es gleichfalls, dass seine einstige Ehefrau Irina, mit der er seit neun Jahren nicht mehr zusammenlebt, im Kampf um den Betrieb die Seiten gewechselt hat. Bereits 2018 hatte Irina Grudinina per Gerichtsentscheid eine Eigentumstrennung mit ihrem Ex-Mann durchgesetzt, um danach, am 1. Februar 2019, bei der zuständigen Behörde einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderte einzureichen. Dem Ansinnen wurde erstaunlicherweise noch am gleichen Tag stattgegeben. Normalerweise dauert die Bearbeitungszeit für solche Begehren mehrere Wochen. Weil Irina Grudinina nun als Schwerbehinderte registriert ist, sprach ihr ein Moskauer Gericht im April 2019 nicht die Hälfte, sondern 66 Prozent des gemeinsamen Vermögens zu. Pawel Grudinin verwaltete bis zu diesem Gerichtsentscheid den Großteil der Sowchos-Aktien. Doch es kam noch schlimmer. Irina Grudinina übergab 42 Prozent der Sowchos-Aktien der Immobilienfirma Rota-Agro, die sich dafür mit 19,3 Prozent der Aktien einer der Rota-Firmen bedankte, die Grudinina überschrieben wurden. Durch diesen Austausch von Eigentum wurde einmal mehr deutlich, dass die Kampagne gegen den Agarunternehmer Grudinin allein darauf zielt, ihm die ökonomische Existenz zu rauben. Das Immobilienunternehmen Rota-Agro gehört dem Abgeordneten Dmitri Sablin, der für die Regierungspartei „Einiges Russland“ in der Duma sitzt.

Ob der Lenin-Sowchos als „Insel des Sozialismus“, wie er sich selbst sieht, weiterbestehen kann, werden die nächsten Wochen zeigen. Die Anwälte des Sowchos-Chefs haben gegen die Entscheidungen des Moskauer Schiedsgerichts Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht. Ende Juli weihte Grudinin zusammen mit KP-Chef Gennadi Sjuganow das neue Schwimmbad des Sowchos ein. Die großen Moskauer Zeitungen nahmen davon keine Notiz. Wen wundert es? Für soziale Wohltaten ist allein Wladimir Putin zuständig, und an diesem Renommee darf nicht gerüttelt werden.

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