Geschichtsstunde mit Putin

Russland Ein Artikel des Präsidenten über die sowjetische Vergangenheit der Ukraine stößt in Kiew auf Kritik
Ausgabe 30/2021

Russen und Ukrainer sind ein Volk“, diese Aussage von Wladimir Putin in einem Artikel, Mitte Juli auf der Website des Kreml veröffentlicht, erregt die Gemüter. Die Kernbotschaft lautet: Russen, Ukrainer und Weißrussen haben eine gemeinsame Geschichte, Sprache und Religion. Man werde es niemals zulassen, dass Russischstämmige in der Ukraine gegen Russland eingesetzt würden. Wie kann er sich nur erdreisten, so der Unterton deutscher Russlandexperten. Der Historiker Andreas Kappeler meint, Putins Aussagen seien nicht völlig neu, er habe sich aber „radikalisiert“. Der Kreml-Chef drohe „mehrfach mit einem Eingreifen Russlands in der Ukraine, was er dann historisch und anderweitig legitimieren“ wolle.

Tatsächlich liest sich Putins Text wie eine verbale Warnung an den Westen, in der Ukraine rote Linien nicht zu überschreiten, und ist als Appell zu verstehen, eine immer aggressivere Regierung in Kiew zu zügeln. Mit einer Militäraktion droht Putin zwar nicht, doch dürfe man nicht tatenlos zusehen, sollten die Menschen in den Regionen Donezk und Lugansk weiter beschossen werden. Wörtlich heißt es: „Die Ukraine wird Schritt für Schritt in ein gefährliches Spiel gezogen. Das Ziel ist es, sie zu einer Barriere zwischen Europa und Russland und zu einem Aufmarschplatz gegen Russland zu machen.“ Für Millionen Menschen in der Ukraine sei es „nicht hinnehmbar“, sollte aus ihrem Land ein „Anti-Russland“ werden. „Als wahrer Patriot gilt heute in der Ukraine nur, wer Russland hasst.“

Derzeit vergeht kein Quartal, ohne dass in Kiew neue Maßnahmen gegen die russische Kultur und Sprache fällig sind. So wurde auf Initiative von Präsident Selenski in der Rada jüngst ein „Gesetz über die indigene Bevölkerung“ verabschiedet. Dazu zählen fortan nur noch Bevölkerungsgruppen, die von ihrer Nationalität her keinem Staat außerhalb der Ukraine zugeordnet werden können. Das heißt, Russen, Rumänen, Polen und Ungarn zählen nicht mehr zur „eingesessenen Bevölkerung“, selbst wenn ihre Vorfahren über Jahrhunderte in der Ukraine gelebt haben. Anfang 2021 trat überdies ein Sprachengesetz in Kraft, das dazu verpflichtet, in der Öffentlichkeit nur noch Ukrainisch zu sprechen. Die russisch-orthodoxe Kirche, sofern sie dem Moskauer Patriarchat untersteht, wird in ihrem Wirken massiv eingeschränkt.

Ukrainische Politologen nennen Putins Aufsatz eine „Geschichtsfälschung“ mit „manipulierten Fakten“. Selenski-Berater Michail Podoljak schreibt im Internet-Portal Insider, die Ukraine und Russland seien „zwei sich fremde Länder, welche die Geschichte und den eigenen Platz in der Geschichte völlig unterschiedlich bewerten“. Man kenne die Praxis, dass die russische Führung „historische Klischees benutzt, auf welche schon die sowjetische Macht“ zurückgegriffen habe. Russlands Elite verstehe nicht, was die Ukraine eigentlich sei, dies führe „zu Angst, Aggression und kriegerischen Handlungen“.

Die Donezk-Kirow-Republik

Völlig unbeachtet bleiben Textpassagen bei Putin, die nicht ins Klischee vom „aggressiven Russland“ passen. So schreibt er zur 1991 getroffenen Entscheidung der Ukraine, die Sowjetunion zu verlassen: „Alles ändert sich. Auch Länder und Gesellschaften. Und natürlich kann sich ein Teil eines Volkes – wegen einer Reihe von Gründen und historischen Umständen – in einem bestimmten Moment als eigene Nation empfinden und sich dessen bewusst werden. Was ich davon halte? Die Antwort kann nur lauten: Meinen Respekt. Wollen Sie einen eigenen Staat gründen? Bitte!“

Putin vergleicht die heutige mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als sich die Ukraine 1918 für unabhängig von Russland erklärte. Eine Delegation der Rada, des Parlaments in Kiew, habe seinerzeit einen Vertrag mit Deutschland und Österreich-Ungarn unterschrieben, die versorgt sein wollten und ukrainisches Getreide brauchten. „Um große Lieferungen zu garantieren, konnten sie Truppen und technisches Personal in die Ukrainische Volksrepublik schicken. Faktisch nutzten sie dies zur Okkupation.“ Als schließlich die Ukraine der 1922 gegründeten Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) beitrat, habe deren Gründer Lenin eine Politik des „nationalen Liberalismus“ verfolgt, weil er durchsetzte, dass jede Republik das Recht besaß, jederzeit aus der Union auszutreten. Putin: „Dadurch wurde eine Bombe mit einem Zeitzünder hinterlassen. Sie explodierte prompt, als es mit der führenden Rolle der KPdSU vorbei war – es keinen Sicherheits- und vorbeugenden Mechanismus mehr gab. Es begann die ‚Parade der souveränen Staaten‘.“

Putin erkennt an, dass die Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren mit ihrer Politik der Förderung nationaler Kulturen viel „zur Stärkung der ukrainischen Kultur, Sprache und Identität beigetragen hat“. Nur sei damals die „Ukrainisierung gegen einen großrussischen Chauvinismus teilweise auch denen aufgezwungen worden, die sich nicht als Ukrainer bezeichneten“. Die Bolschewiken seien mit ihrer „Ukrainisierung“ schlichtweg zu weit gegangen.

Als Beispiel führt Putin die 1918 im südrussischen Zentrum der Schwerindustrie von russischen Bolschewisten gegründete Donezk-Kirow-Republik an, die sich eigentlich Sowjetrussland anschließen wollte. Doch seien die Anhänger dieser Republik, in der immerhin sieben Millionen Menschen lebten, davon überzeugt worden, eine „sowjetische Ukraine“ zu bilden. Dahinter stand vermutlich die Absicht Lenins, einer sowjetischen Ukraine ein stabiles ökonomisches Fundament wie eine jederzeit enge Anbindung an Sowjetrussland zu geben.

Dass Putin die Donezk-Kirow-Republik so ausführlich behandelt, hat wohl damit zu tun, dass er verdeutlichen will: Russland kann historische Gründe geltend machen, die Menschen in den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk zu schützen.

€ 4,95 statt € 14,00 pro Monat

nur heute am Geburtstag von F+

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden