Ode an das ländliche Idyll

Russland Die Corona-Krise hat einen Run auf Datschen im Moskauer Umland ausgelöst. Dieser Markt folgt ganz eigenen Regeln
Ausgabe 47/2020

Was, schon so lange in Moskau, und Sie haben noch keine eigene Wohnung?“ Mitleidiges Staunen bei allen Russen, mit denen ich über mein Leben in der hiesigen Hauptstadt spreche. Wer in den 2000er Jahren aus der Provinz nach Moskau zog, um Geld zu verdienen und Karriere zu machen, handelte schnell und konnte nach ein paar Jahren mit Hilfe von Krediten Besitzer der eigenen vier Wände sein. Eine 40-Quadratmeter-Wohnung in einem der Hochhäuser, die Moskaus Peripherien bevölkern, kostet umgerechnet 110.000 Euro. So viel Geld habe ich nicht. Und will man in diesen Rayons ein Leben als Ameise führen?

Dann doch lieber nach einem Häuschen an einem Ort suchen, der noch mit der Vorortbahn, der Elektritschka, erreicht werden kann. Nur begibt man sich mit diesem Ansinnen nicht allein auf Tour, weil das Interesse am Grundstückskauf im Moskauer Umland stets vorhanden und seit Ausbruch der Corona-Krise unbändig ist, auch wenn nicht wenige ihren Arbeitsplatz verloren haben und die Kaufkraft sinkt. Andererseits sind viele Angestellte seit Monaten ins Homeoffice verbannt und wollen am Wochenende auf Stadtflucht sein. Familien mit Kindern sind es außerdem leid, sich tagein, tagaus den strengen Hygiene-Regeln der Megastadt zu unterwerfen. Und in Datschensiedlungen tragen die Leute in der Regel keine Masken.

Parzelle für Veteranen

In Odinzowo, westlich von Moskau, fällt sofort auf, wie leger hier mit den Vorschriften umgegangen wird. In dieser Gegend hatten früher sowjetische Generäle ihre Anwesen, heute kosten entlang der Rubljowskoje Chaussee Minister, Oligarchen und Akademiker ihre Refugien aus. Einst galt die Siedlung als eine der Gartengenossenschaften, wie sie Mitte der 1980er Jahre überall entstanden. Unternehmen vergaben an Arbeiter und Angestellte Grundstücke mit einer Standardgröße von 600 Quadratmetern, auf denen sie bauen sowie Obst und Gemüse züchten konnten.

Mit der Datschen-Kultur wollten sowjetische Regierungen seit jeher die Ernährungslage verbessern. In den 1930ern bekamen erstmals Minister, Generäle und Schriftsteller die begehrten Häuser in der freien Natur. 1949 erließ der UdSSR-Ministerrat eine Anordnung, wonach es Arbeitern und Staatsangestellten erlaubt war, für den persönlichen Bedarf auf eigenem Acker Kartoffeln, Tomaten und Gurken anzubauen. Im Jahrzehnt danach – unter Parteichef Nikita Chruschtschow – erhielten Sowjetbürger ausnahmslos das Recht, sich Datschen zu bauen, die freilich ohne Keller und erste Etage sein mussten. Wen es trotz dieser Beschränkung oder gerade deshalb ins Grüne zog, der musste sich damit abfinden, dass es zumeist keine Innentoilette, sondern nur das Plumpsklo mit Sickergrube gab. Am 18. März 1966 – inzwischen regierte Leonid Breschnew – erließ der Ministerrat ein Dekret, das einmal mehr die Betriebe einschaltete, um Grundstücke an ihre Belegschaften zu verteilen.

Nach dem Ende der Sowjetunion schließlich folgte Mitte der 1990er Jahre in Russland das Gesetz für Afghanistan-Veteranen der Armee, die unter bestimmten Umständen Anspruch auf ein Datschen-Grundstück hatten, desgleichen Familien, die am Hindukusch oder im ersten Tschetschenien-Krieg (1994 – 1996) einen Angehörigen verloren hatten. Sie konnten bei den Regionalverwaltungen den Antrag auf eine kostenlose Parzelle stellen.

Tricks mit der Steuer

Wer diese Geschichte des ländlichen Idylls zur Kenntnis nimmt, den wird kaum erstaunen, dass heute (nach offiziellen Angaben) in der Russischen Föderation 43 Prozent der Bürger über ein Grundstück außerhalb ihrer Städte verfügen. Immer häufiger findet sich dabei eine Datscha durch ein kleines Gewächshaus komplettiert, in dem Tomaten, Paprika, Gurken und Kürbis geerntet werden. Die Setzlinge zieht man in den Wintermonaten auf dem Fensterbrett, um sie im Mai in seinem Treibhaus einzupflanzen.

Zurück nach Odinzowo, ich besichtige ein einstöckiges Fertighäuschen, das um 1980 herum errichtet wurde und an den Längsseiten nur anderthalb Meter Abstand zum Zaun des Nachbarn hat, der durch Metallprofile jede Sicht versperrt. Man muss in den ersten Stock steigen, um den Wald zu sehen. Ein Haus weit draußen, und dann so eingezwängt? Der Grund für die Enge ist folgender: Der Vorbesitzer hatte das ursprünglich 600 Quadratmeter große Grundstück aufgeteilt, um darauf zwei Häuser zu bauen und mit Gewinn zu verkaufen. Einer der Käufer war derjenige, der mir nun eines der beiden Häuser angeboten hat. Er erzählt freimütig, er habe das Haus nach dem Erwerb erst winterfest machen müssen, indem er in alle Außenwände eine zusätzliche Schicht Dämmwatte eingelagert habe. Die Offenheit in allen Ehren, aber das klingt mir zu sehr nach Improvisation und ist nicht wirklich einladend.

Rings um Moskau folgt der Umgang mit Grund und Boden anarchischen Regeln. In den 1990ern wurden Ländereien und Gärten teilweise wild privatisiert. Bürger nutzten staatlichen Boden auf eigene Faust und setzten sich fest. Umgehend wurden auf dem handstreichartig erworbenen Gelände Datschen gebaut. Der Staat hat diesen Wildwuchs im Nachhinein größtenteils legalisiert und es ergeben hingenommen, wenn reihenweise Brunnen gebohrt und Gruben für die Fäkalien angelegt wurden.

Und womit wird eine Datsche geheizt? Nur wenige haben einen Ofen oder gar Kamin, sodass nur elektrische Heizgeräte bleiben. Allerdings ist Strom im Verhältnis zu Gas teuer. Allein die Wochenendhäuser der Nomenklatura, von Militärs, Politikern, Schauspielern oder angesehenen Wissenschaftlern, sind an das Gasnetz angeschlossen. Wenn in einer Verkaufsanzeige steht: „Gastrasse führt bis zum Grundstück“, täuscht das über die tatsächliche Lage hinweg. In der Regel muss eine Zuleitung vom Hauptrohr, das unter der Straße liegt, bis zum Haus erst noch installiert werden und kostet um die 8.000 Euro oder mehr. Der Preis ist so hoch, weil zwischen der staatlichen Gasgesellschaft und dem Hausbesitzer Vermittler agieren, die ebenfalls bezahlt sein wollen.

Zu beachten ist, dass ein Immobilienkauf in Russland einigen Besonderheiten unterliegt. Bei den einschlägigen Anzeigen fällt auf, dass es oft heißt: „Das Haus ist seit drei Jahren im Besitz des Eigentümers.“ Mit dieser Formulierung zeigt der Verkäufer an, dass die angegebene Verkaufssumme nicht fiktiv ist. Nach dem russischen Gesetz fallen für den Verkauf eines Hauses nur dann Steuern an, wenn der Besitzer es innerhalb von drei Jahren nach dem Erwerb wieder verkauft. Wenn es in der Immobilien-Anzeige keine Angabe dazu gibt, wie lange der Verkäufer Eigentümer des Grundstücks ist, deutet dies darauf hin, dass er einen Teil des in der Anzeige angegebenen Verkaufspreises gern in einem diskreten Briefumschlag erhalten würde, um so Steuern einzusparen.

Ansonsten gilt: Auf Datschenland wird so gebaut, wie es der Eigentümer will. Es gibt so gut wie keine staatliche Aufsicht. Bei einem Haus, das ich als potenzieller Käufer besichtigte, ist nur die erste Etage als Wohnraum amtlich registriert, die zweite Etage keineswegs. Von diesem Detail steht jedoch nichts in der Immobilien-Anzeige. Bei einer anderen Datscha, in einer Gartengenossenschaft anderthalb Autostunden östlich von Moskau, hat der Besitzer die Küche in den Flur verlegt, um aus der ursprünglichen Kochstube ein großes Badezimmer mit einer runden Wanne zu machen. Dafür habe er das Fundament des Anwesens extra verstärken lassen, erzählt der Besitzer stolz. Eine solche Offenbarung gibt Anlass zur Skepsis, da solche Umbauten in der Regel ohne Genehmigung der Aufsichtsbehörden und anschließende Kontrolle vorgenommen werden – allein der bürokratische Aufwand wäre riesig.

Überraschend ist auch, was ich in einem unbewohnten einstöckigen Haus an einem anderen Ort zu sehen bekomme. Im ersten Stock steht auf dem Balkon ein 500-Liter-Behälter. Wie mir die Eigentümerin erklärt, diene er als Wasserreservoir, falls die Pumpe im Brunnen nicht genügend Wasser zutage fördere. Ihr Mann, ein Kaukausier, habe immer Gäste zuhauf, und da gebe es einen großen Wasserbedarf. Ein weiteres Aufmerken gibt es im Garten, als ich das Haus verlassen will. Über den Beeten liegt der Geruch von Fäkalien. Mit fragendem Blick deute ich auf den Deckel der hauseigenen Sickergrube. Die Besitzerin schüttelt energisch den Kopf und meint: Auf keinen Fall – der Geruch komme nicht von dort, sondern von Leuten in der Siedlung, die gerade ihre Sickergruben leeren und den Inhalt irgendwo auf Freiflächen oder ins Gebüsch pumpen würden. Das komme hin und wieder vor, weil man das Geld für den Entsorgungsdienst einer Firma sparen wolle. Das ist ein freimütiges Bekenntnis, immerhin wird mir die unangenehme Wahrheit nicht vorenthalten.

Die Exkursion durch das schöne Moskauer Umland mit seinen sanften Hügeln, verstreuten Waldflecken und abgeernteten Kornfeldern im Herbst hinterlässt einen ernüchternden Eindruck. Zwar ist es still und die Luft viel besser als in der Stadt. Aber sollte man nicht ebenso schätzen, was Moskau zu bieten hat, mit seinen Geschäftsstraßen, der Metro, den Theatern und Cafés, in denen man sich schnell mit jemandem verabreden kann, der auf dem Weg nach Sibirien oder in die Ukraine ist? Plötzlich erscheint mir Moskau ganz passabel. Bürgermeister Sergei Sobjanin – seit 2010 im Amt – hat alle in den 1990er Jahren illegal errichteten Verkaufspavillons der Innenstadt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geschleift. Etliche Viertel gewannen wunderschöne Plätze zurück, der Blick auf alte Häuser wurde buchstäblich freigelegt.

Auch in meinem Quartier. Schon lange wohne ich dort zur Miete in einem viergeschossigen Plattenbau, erbaut in den 1960er Jahren, leider durch das „Renovazia“-Programm ab 2025 vom Abriss bedroht. Mit dem Appartement bin ich zufrieden, man blickt auf einen großen Hof mit Linden, Ahorn und einem Spielplatz. Für das Frühjahr und den Sommer lebe ich also schon jetzt im Grünen. Warum in die Ferne schweifen?

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