Am Checkpoint Alexandrowka, westlich der Stadt Donezk, hat sich eine lange Autoschlange gebildet. Etwa 30 Pkw, die in die Ukraine wollen, warten auf ihre Abfertigung durch Grenzposten der „Volksrepublik Donezk“ (DNR). Der Kontrollpunkt liegt direkt an der „grauen Zone“ zwischen der „Volksrepublik“ und der Ukraine, aus der seit dem Minsker Abkommen von 2015 alle schweren Waffen entfernt sein sollten, es aber nicht sind. Als ich fotografieren will, raunzt mich ein Grenzer an, ich solle umgehend aufhören. Sergej, mein Begleiter vom Donezker Informationsministerium, kommt zu Hilfe und erklärt, ich sei akkreditiert. Nun darf ich fotografieren, das Gesicht des Postens bleibt mürrisch.
Für die Autofahrer aus der Ukraine haben sich die Grenzbeamten der „Volksrepublik“ etwas einfallen lassen. Auf einem der blauen Container, in dem sie ihren Dienst tun, steht eine Lenin-Büste mit Blickrichtung Kiew. Den Container dahinter drapiert ein großes Stalin-Poster, umrahmt von zwei roten Fahnen, eine davon ist die Kopie jener Regimentsflagge der Roten Armee, die Anfang Mai 1945 auf dem Reichstag in Berlin gehisst wurde. Offenbar sehen sich die Wächter der „Volksrepublik“ in der Tradition der Sowjetunion. Diese demonstrative Zurschaustellung von Erbgut habe einen ganz praktischen Zweck, höre ich, man wolle Untergrundkämpfer abschrecken, die aus der Ukraine anreisen.
Tief eingegraben
Sonst ist der Kontrollpunkt gut organisiert. Es gibt einen Kinderspielplatz, in einem Container findet sich eine Zweigstelle der „Donbass-Post“, wo Besucher aus der Ukraine eine SIM-Karte für den Donezk-Mobilfunk Feniks kaufen können. Im benachbarten Zentrum für soziale Hilfe können Personen, die im ukrainischen Teil des Donezk-Gebietes leben, Finanzhilfen bekommen. „Man kümmert sich dort um Rentner, Kriegsinvaliden, kinderreiche Familien, Kinder von Schwerbehinderten und Bergarbeiter mit gesundheitlichen Schäden“, erklärt Oxana, eine Mitarbeiterin des Zentrums. Das Hilfsprogramm trägt den anspruchsvollen Namen „Einiges Donbass“. Oxana nennt den Teil des Donezker Reviers, der nicht zur „Volksrepublik“ gehört, „zeitweise von der Ukraine okkupiertes Gebiet“. Alexander Sachartschenko, Präsident der „Volksrepublik“, wird mir später sagen, man wolle das gesamte Gebiet wiedervereinigen. Ein Frieden sei nur möglich, wenn die ukrainische Armee vollständig abziehe. Schließlich zerschneide die Frontlinie neben Ortschaften eine Industrieregion, in der Betriebe aufeinander angewiesen seien. Die Menschen in dem von der Ukraine kontrollierten Teil sehnten sich nach einem Ende der Herrschaft von Nationalisten.
Wie angespannt die Sicherheitslage ist, erlebe ich am Abend in der Stadt Donezk beim Gespräch mit einem Oberst vor der Unterkunft von DNR-Soldaten. Ich frage, warum ein Fenster im ersten Stock mit einer Holzplatte vernagelt ist. Vor ein paar Tagen habe „ein Terrorist“ das Fenster nachts beschossen, erklärt mir der Oberst. Zwar ist es schon schummrig, aber am Durchgang zur Kaserne sehe ich erneut ein Stalin-Plakat, auf dem der Satz zu lesen ist: „Jedes Problem hat einen Vor- und Familiennamen und eine Adresse.“ Man wolle damit die Soldaten ermahnen, wachsam zu sein, meint der Oberst. Sergej vom Informationsministerium erzählt mir, man müsse stets mit Anschlägen rechnen, besonders Autos würden zur Explosion gebracht und auf der ukrainischen Seite dafür sogar Kinder angeworben, ohne dass die Eltern etwas davon wüssten.
Nicht weit vom Dorf Alexandrowka, am Rand eines Feldes, hat sich das Bataillon Schachtjorsk tief in die Erde eingegraben, offiziell 700 Mann stark. Im weitverzweigten System von Schützengräben und unterirdischen Ruheräumen sehe ich jedoch nur etwa 30 Soldaten. Die Stellung macht einen verschlafenen Eindruck. Über einem Holzfeuer hängt ein Kessel, ein Soldat schneidet Kartoffeln, zwei andere sägen Holz. Man hört einen Wasserwagen über den Feldweg näherkommen. Der Frieden täuscht, versichert mir ein Kommandeur, der auf den Kampfnamen „Baikal“ hört. Erst vor Kurzem hätte die ukrainische Armee einen Durchbruch versucht, den man abwehren konnte. „Baikal“, ein stämmiger Mann, trägt eine Schutzweste mit zwei alten sowjetischen Abzeichen, zwei kleinen roten Sternen. Was er in seinem früheren Leben gemacht habe? So manches. Zum Schluss sei er im Bauwesen tätig gewesen.
Auf die Beschießungen antworte man nicht, das sei laut Minsker Abkommen verboten. „Die wollen, dass wir Verluste haben und so von unseren Leuten möglichst viele sterben.“ Noch halte sich Russland mit Beistand zurück, meint „Baikal“. „Aber wenn es schwierig aussieht, denke ich, wird man uns, das Brudervolk, unterstützen.“
Oleg, der sich als „Sampolit“ vorstellt, das heißt so viel wie politischer Instrukteur, nimmt mich mit zu einem Gang durch die Schützengräben. Der hagere Mann mit dem grünen Soldaten-Käppi sagt, dass an anderen Frontabschnitten mehr los sei. Zu ständigen Schusswechseln komme es in der Industriezone von Awdejewka, in Spartak, am Flughafen von Donezk, bei der Stadt Gorlowka und im Umfeld der Orte Marinka und Dokutschajewsk. „Dort ist es ernster, bei uns hier gibt es hingegen einen Stellungskrieg. Manchmal wird es härter, besonders wenn die ukrainische Nationalgarde kommt. Die üben hier“, meint Oleg in verächtlichem Ton. Ob ein Soldat seine Stellung verlassen dürfe, wenn die Lage gefährlich oder gar aussichtslos sei, frage ich. „Nein, das kann er nicht selbst entscheiden. Das wäre Desertion“, antwortet Oleg. Und wenn Panzer kommen? „Haben wir etwa vor Panzern Angst? Am Flughafen von Donezk haben wir deutsche – ich meine ukrainische – Panzer gejagt. Das war lustig.“ Oleg kichert zufrieden in sich hinein.
Ich werde in einen Schlafraum geführt, in dem ein Abspielgerät für Filme steht. Die über den Zweiten Weltkrieg seien bei den jungen Soldaten besonders beliebt, teilt Oleg mit. „Manche sehnen sich nach dem Krieg. Sie wollen kämpfen. Mit diesen Filmen wurden wir noch in der Sowjetunion erzogen. Und sie erziehen auch jetzt. Die Filme vermitteln den Jungen, was sie brauchen: Kampfgeist.“
Der gewisse Unterschied
Auf dem Küchenplatz kommt es schließlich zum Gespräch mit „Konstantin“, dem obersten Kommandeur des Bataillons. Ich frage ihn, was geschehen müsse, damit es endlich Frieden gibt? „Wenn in England aus ungeklärten Gründen fünf Kinder sterben, spricht die ganze Welt davon. Aber wenn im Donbass Hunderte von Kindern getötet werden, schweigt die ganze Welt. Wenn es im Donbass Trauer gibt, sollte es in der ganzen Welt Trauer geben. Erst wenn es soweit ist, wird auch darüber nachgedacht, wie man den Krieg stoppen kann“, glaubt „Konstantin“. Von April bis Juli hätten die ukrainischen Truppen mehr als 10.000 Geschosse auf die „Volksrepublik“ abgefeuert. Neun Zivilisten seien dabei ums Leben gekommen. Natürlich habe man da entsprechend reagiert.
Danach fahre ich auf eigene Faust mit einem Taxi in den Ort Saizewo. Er liegt nördlich der Stadt Gorlowka am nordwestlichen Rand der „Volksrepublik“. Je näher wir dem Dorf kommen, desto lieblicher wird die Gegend, Obstbäume zu beiden Seiten der Straße, eine kleine Dorfkirche mit goldenen Kuppeln und ein Mann auf einem uralten Motorrad, der kurze Zeit vor uns unterwegs ist. Hinter den Baumalleen an der Betonpiste sieht man eine Tiefebene. Das sei schon gegnerisches Territorium, sagt der Fahrer.
Wie die Rinde am Baum
In Saizewo selbst erzählen die Leute, früher hätten in dieser Gemeinde gut 3.000 Menschen gelebt. Aber nun liegt der Ort inmitten der „grauen Zone“ zwischen „Volksrepublik“ und Ukraine. Viele Bewohner seien deshalb in die Stadt Gorlowka umgezogen. Im Dorfzentrum treffe ich Anna Schidkowaja. Die 55-Jährige – früher hat sie als Technologin in einem Institut für Bergbau gearbeitet – ist gerade auf dem Weg zu ihrer Datscha, um Tomatenpflanzen einzusetzen, die sie zu Hause gezogen hat. Ob sie damit in der „grauen Zone“ nicht ihr Leben riskiere, frage ich. „Sicher, aber wir riskieren unser Leben schon aus Prinzip. Die Leute, die sich aus Angst abgesetzt haben, tun mir leid. Besser, ich sterbe hier auf meiner Erde, weil ich diese Erde liebe und auf ihr geboren wurde. Hier sind meine Verwandten begraben. Ich will nirgendwo sonst hin. Selbst wenn es eine Möglichkeit gäbe, würde ich nicht von hier weggehen.“
Ihr Wohnhaus in Saizewo wie ihre Datscha seien schon von Geschossen getroffen worden, erzählt Anna, aber anderen sei es noch viel schlimmer ergangen. „Wenn der Krieg einmal zu Ende sein wird, dann ist alles zerstört.“ Anna sagt das mit ruhiger Stimme, fast ungerührt und ohne klagenden Unterton. Fast beiläufig erwähnt sie, dass ihr Sohn bei den Freiwilligen für die „Volksrepublik“ kämpfe. Er sei immer woanders stationiert. Sie sehe ihn nur noch selten.
Soll Donezk unabhängig sein, zur Ukraine oder zu Russland gehören? – frage ich noch. „Im Augenblick wäre die Unabhängigkeit das Beste, wenn Poroschenko von uns sagt, wir seien Separatisten, Alkoholiker und Drogenabhängige, weil wir nicht unter seiner Herrschaft leben wollen. Vielleicht wird es schwer für uns, denn das Gebiet von Donezk und Lugansk ist nicht groß. Die Ukraine ist größer.“ Ob man sich dann nicht besser mit Russland zusammenschließen sollte? „Mit Russland waren wir immer verbunden“, meint Anna, „das ist wie die Rinde an einem Baum. Ich glaube, wären wir vereinigt, ließe sich das Leben etwas besser an. Eine Familie ist immer dann vollständig, wenn es Mutter, Vater und Kinder gibt. Sind die aus irgendwelchen Gründen voneinander getrennt, dann ist das keine vollständige Familie. Genau so ist es bei uns.“
Im Dorfzentrum, direkt vor einem in kräftigem Blau, Grün und Rot restaurierten Denkmal zum Großen Vaterländischen Krieg, treffe ich Raja, die etwa Anfang fünfzig sein dürfte. Als sie merkt, dass sich da jemand für ihr Schicksal interessiert, platzt aus ihr heraus, was sie zuletzt erlebt hat. „Ich war in einem Geschäft und wollte nach Hause. Bis zur Kreuzung waren es nur noch ein paar Meter. Aber ich konnte nicht. Du bückst dich, und kaum stehst du auf, schlagen die Kugeln hinter dir ein. Ich bin nur mit größter Mühe vorangekommen, wäre fast vor Angst gestorben und kam ganz hysterisch nach Hause. Und das geht nun schon vier Jahre so. Im Februar werden es fünf sein.“
Raja wohnt neben der Dorfschule, direkt in der „grauen Zone“. Wann das letzte Mal ein Dorfbewohner getötet wurde? Sie denkt kurz nach. Das sei am 19. Mai gewesen. „Ein Mann und seine Frau seien in ihrem Garten gewesen, um ihre Tomatensetzlinge einzupflanzen, und die Frau wurde von einer Kugel getroffen.“ Die Scharfschützen würden schießen, wie sie wollen. Im Jahr zuvor seien Arbeiter zur Reparatur eines Daches nach Saizewo geschickt worden. „Plötzlich gerieten auch sie unter Beschuss. Die Arbeiter schafften es gerade noch, vom Dach zu springen – bis auf einen, den hat die Kugel am Kopf erwischt.“
Wenn sie früh aufwache und die Augen öffne, warte sie schon, ob und wie die ukrainische Armee „Guten Morgen“ sage. Manchmal beginne die Beschießung schon gegen fünf Uhr. „Die meisten Leute hier haben es sich angewöhnt, wegen der ständigen Unsicherheit im Keller zu übernachten.“
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