Wahlhelfer Nawalny

Russland-Wahl Mit den gewohnten Klischees konnten deutsche Medien diesmal nicht über die erfolgreichen Kommunisten herziehen, was Gründe hatte
Ausgabe 38/2021
Wahlkabine in St. Petersburg: Deutlich wurde bei den Duma-Wahlen, dass die Regierungspartei Einiges Russland bei den Wählern Vertrauen eingebüßt hat
Wahlkabine in St. Petersburg: Deutlich wurde bei den Duma-Wahlen, dass die Regierungspartei Einiges Russland bei den Wählern Vertrauen eingebüßt hat

Foto: Olga Meltseva/AFP/Getty Images

Die Regierungspartei Einiges Russland kann immer noch gewinnen, so auch bei der Dumawahl, nach der ihr 49 Prozent der Stimmen zuerkannt werden. Doch gerät das Siegen schwieriger, beim Votum 2016 kam man noch auf 54 Prozent. Mittlerweile tritt die Konkurrenz stärker in Erscheinung. Die KP erreicht fast 20 Prozent, womöglich noch mehr, da die Partei eine lange Liste der Beschwerden an die Zentrale Wahlkommission geschickt hat. Auf jeden Fall legte sie in Sibirien und im Fernen Osten zu, im Gebiet Irkutsk, auf der Insel Sachalin und in Wladiwostok. Im nordrussischen Nenezki-Gebiet wurde mit 31 Prozent gegen Einiges Russland gewonnen.

Vertrauen verloren

Deutlich wurde bei den Duma-Wahlen, dass Einiges Russland bei den Wählern Vertrauen eingebüßt hat. Nicht nur die sozialen Belastungen wie Preissteigerungen und das erhöhte Renteneintrittsalters machen sich bemerkbar. Auch die immer wiederkehrenden Skandale mit Politikern der Partei Einiges Russland, die in Korruption verwickelt sind, haben zum Vertrauensverlust beigetragen.

Bedenklich stimmt die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung bei dem dreitägigen Wahlgang bei nur 45 Prozent lag. Bei den Abstimmungen 2016 und 2011 waren es noch 47 bzw. 60 Prozent. Die fallende Wahlbeteiligung ist Ausdruck einer Entpolitisierung der Bevölkerung und auch Ausdruck von Enttäuschung über die Regierungspolitik. Dass die Partei Jabloko, die zusammen mit der KP eine der ältesten Parteien des nachsowjetischen Russlands ist, bei den Duma-Wahlen nur 1,2 Prozent der Stimmen bekam, sagt viel über die Stimmung aus. Jabloko gehörte in den 1990er Jahren zu den Parteien, die den westlich orientierten Umbau von Staat und Wirtschaft vorantrieben. Sie war bis 2003 mit Abgeordneten in der Duma vertreten, scheiterte dann aber an der Fünf-Prozent-Hürde.

Trost für westliche Medien?

Der Trost ist schwach. Oder ist es ein Trost, dass die KP bei den Duma-Wahlen gut abgeschnitten hat und sich auch die linke Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ mit sieben Prozent behauptete? Direktkandidaten beider Parteien waren vom Nawalny-Team, das vom Ausland aus agierte, empfohlen worden. KP-Chef Gennadi Sjuganow machte allerdings nach der Wahl bei einem Briefing deutlich, dass er auf die Unterstützung von Nawalny pfeife. Der sei eine Kreatur, „die von Wladislaw Surkow geschaffen wurde“, eine Anspielung auf den Leiter der Präsidialverwaltung im Jahr 2013. Sjuganow spielte darauf an, dass Nawalny seinerzeit unter Billigung des Kreml bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau kandidierte und 27 Prozent der Stimmen erhielt.

Floskel vom „Müll“

Da es die Nawalny-Empfehlung gab, beschäftigte deutschen Medien in den vergangenen Tagen vermehrt die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF). Der Grund: Das Team Nawalny hatte sich liberal-westlich positioniert, mit der Initiative „Kluges Wählen“, was die 137 Direktkandidaten der KP einschloss. Da Alexej Nawalny im Gefängnis sitzt, die Organisation des Oppositionspolitikers verboten wurde und keine eigenen Kandidaten ins Rennen schickt, entschied sich das Team von Navalny, dass vom Ausland aus arbeitet, die Wahl von Direktkandidaten von Oppositionsparteien zu empfehlen. Ob diese eine kommunistische, liberale oder rechtspopulistische Richtung vertreten, spielte keine Rolle.

Einziges Kriterium, damit man auf die Liste von „Kluges Wählen“ kam: Der Kandidat musste bekannt und in der Lage sein, ein sehr gutes Ergebnis gegen einen Bewerber der Regierungspartei Einiges Russland einzufahren.

30 Jahre lang wurde Russlands KP von den deutschen Medien als „stalinistisch“ und faktisch „politischer Müll“ klassifiziert. Nun ist man gezwungen anzuerkennen, dass die Partei neben Einiges Russland die zweitwichtigste politische Kraft im Land ist. Medien wie das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) und Zeit Online waren gezwungen einzugestehen, dass die KP statt „Stalinisten“ längst andere Linke und vor allem viele jüngere Aktivisten vereint. Wie sich zeigte, passen die vorgestanzten Bilder nur so lange, wie Russland im Dunkeln liegt. Da muss ausgerechnet das Nawalny-Team kommen und zur Wahl von KP-Bewerbern aufrufen. Dann sind auch die deutschen Mainstream-Medien gezwungen, ihre stereotypen Urteile über ein politisch vielschichtiges Russland zumindest etwas zu korrigieren.

Für eine gemischte Wirtschaft

Programmatisch und auch in ihrer politischen Praxis ist die KP schon seit vielen Jahren eine patriotisch orientierte, eher sozialdemokratische Partei, die für eine gemischte Wirtschaft, aber verstaatlichte Schlüsselindustrien und Bodenschätze sowie eine stärkere Besteuerung von Millionären und Milliardären eintritt.

Aus der Sicht der Bild-Zeitung und der Parteien im Bundestag – bis auf die Linkspartei – riechen solche Forderungen nach „Kommunismus“ und sind deshalb abzulehnen. Wenn jetzt aber selbst der als Putin-Opfer gehätschelte Nawalny dazu aufruft, KP-Kandidaten zu wählen, stürzt dann das Zerrbild Kommunismus in sich zusammen? Wohl kaum, aber es bekommt Risse. Und deutsche Medien müssten jetzt eigentlich der Frage nachgehen, weshalb die KP bei der Duma-Wahl so gut abgeschnitten hat. Das hat nicht nur etwas mit dem Heraufsetzen des Rentenalters, der Kommerzialisierung des Gesundheits- und Bildungswesens und einer stagnierenden Wirtschaft, sondern auch etwas mit dem in Russland stark ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl zu tun. Der von Oligarchen und Spitzenbeamten zur Schau gestellte Reichtum verletzt viele Menschen, die keine Beziehungen „nach oben“ haben und nur davon träumen können, dass ihr Kind einmal eine Universität in Moskau oder im Ausland besucht.

Sehnsucht nach sozialen Standards

Was es in der Sowjetunion an sozialem und wirtschaftlichem Fortschritt gab, ist noch nicht völlig vergessen. Das Land konnte technologisch auf allen Gebieten mit dem Westen konkurrieren. Die erfolgreiche Industrialisierung in den 1930er Jahren war einer der Gründe, warum die Sowjetsoldaten die Hitler-Wehrmacht besiegten. Die Soldaten hatten etwas zu verteidigen. Nicht nur ihre Familien, sondern auch ihren sozialen Aufstieg. Jeder sowjetische Arbeiter hatte Anspruch auf Urlaub. Die Flugtickets waren so billig, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen durch das ganze Land in den Urlaub flogen. Die unter Stalin geschaffene Infrastruktur – Eisenbahnen, Straßen, Fabriken – hat in den 30 Jahren nach der Auflösung der Sowjetunion dazu beigetragen, dass Russland trotz fehlender Investitionen, weiter seine Menschen ernähren konnte und der Staat leidlich funktionierte. Ein großer Teil bestens ausgebildeter Sowjetbürger wurde von Universitäten und Instituten des Westens abgesaugt, ohne dass jemand „Danke, Russland“ sagte.

Trügerische Bilder

Wer in Russland heute KP wählt, will ein Ende der Korruption und Vetternwirtschaft, mehr Ordnung, mehr Gerechtigkeit, gleiche Chancen in der Gesundheitsversorgung und der Bildung für alle. Sicher gibt es unter KP-Wählern auch viele, die härteste Strafen für korrupte Beamte und sogar eine Säuberung des Staatsapparates fordern. Aber eine Kopie des Stalin-Systems mit Arbeitslagern und Todesstrafen für Andersdenkende, wollen weder die KP noch ihre Anhänger. Mit Stalin, der bei Umfragen über populäre Personen ganz vorn liegt, verbinden die Wähler der KP vor allem den Sieg im Zweiten Weltkrieg und die Befreiung von der Hitler-Wehrmacht.

Insofern könnten diese Wahlen für deutsche Korrespondenten ein Anlass sein, sich mit dem realen Fühlen und Denken der Russen zu beschäftigen und endlich von trügerischen Bildern wie „Nawalny gegen Putin“ oder „Diktator gegen Freiheitsheld“ wegzukommen.

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