Ein Fall für den Verbraucherschutz

Altenpflege Der sog. "Pflege-TÜV" ist ins Gerede gekommen. Ab 2016 soll ein Pflegequalitätsausschuss es besser machen. Doch Insider sehen den Verbraucher- schutz in der Pflicht.

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Stellen Sie sich vor, eine Firma will eine Position besetzen, die wirklich lebenswichtig ist für das Unternehmen. Auf ihre Ausschreibung hin bewerben sich so an die 11.000 Kandidaten. Und der Personalchef staunt nicht schlecht: Alle haben ein Abiturzeugnis mit einer Eins vor dem Komma. Doch er staunt noch mehr, als sein Blick jeweils an das Ende der erfreulichen Dokumente scrollt: Unterschrieben ist das Zeugnis von den Eltern der Schüler und teilweise von den Schülern selbst. Nee, nee: Nicht rechts in der Spalte "Kenntnis genommen". Links - bei "Unterschrift der Schulleitung".

"Mit einer Durchschnittsnote von 1,3", so headert der Deutschlandfunk eine Sendung der Reihe "Länderzeit" vom 13.05.2015 (Titel: Was kommt nach dem Pflege-TÜV?), "können sich hierzulande die Pflegeheime und ambulanten Pflegedienste schmücken - doch die Freude darüber hält sich in Grenzen. Seit Einführung der Pflegenoten 2009 steht das Bewertungssystem in der Kritik."

Nun solle der "Pflege-TÜV" reformiert werden. Bis zur Einrichtung eines neuen Bewertungssystems im Jahr 2018 sei die Ergänzung der Noten-Bewertungen durch einen Kurzbericht geplant. Ab 2016 werde ein Pflegequalitätsausschuss für mehr Partizipation und Transparenz sorgen. Doch seien in diesem Zusammenhang wichtige Fragen zu stellen:

  • Wie erhalten Pflegebedürftige und ihre Angehörigen in der Übergangszeit aussagekräftige Informationen über die Qualität von Pflegeeinrichtungen oder Pflegediensten? Wo sind sie z.B. am besten geschützt vor Stürzen oder vor dem Wundliegen?
  • Brauchen wir nicht dringend neue Untersuchungskriterien und -methoden?

Hauptkritikpunkt am gegenwätigen Bewertungssystem für die Betreuungsqualität in den rund 11.000 deutschen Pflegeheimen ist die Tatsache, dass hier weniger die Einhaltung bestimmter Qualitätsstandards in der Praxis bewertet wird als vielmehr die Qualität der Dokumentation der wie immer auch gearteten Routineabläufe. Überspitzt formuliert: Ein "sehr gut" bekommt eher diejenige Einrichtung, die das Wundliegen der Pflegebedürftigen lückenlos erfasst, als diejenige, die durch erhöhten Pflegeaufwand das Wundliegen verhindert. Oder um das Beispiel in der Einleitung nochmals zu strapazieren: Die guten Zeugnisnoten rühren daher, dass die Klassenbücher bestens geführt wurden, und lassen keinerlei Rückschlüsse auf erfolgreich gelöste Matheaufgaben oder fehlerfreie Turnübung am Reck zu.

Widersinniges Kontrollsystem

Wie, so fragt der gesunde Menschenverstand, konnte ein derart widersinniges und damit kaum aussagefähiges System der Qualitätssicherung im Bereich der Altenpflege überhaupt entstehen? Der Punkt ist allerdings der, dass man mit den Maßstäben des gesunden Menschenverstands an den Verhältnissen dieses Landes, das sich von einer Bananenrepublik nur noch durch die schlechten Wachstumsbedingungen für die fünfkantige Südfrucht unterscheidet, schlichtweg abprallt.

Die neoliberale Austeritätspolitik schwarzer, roter, grüner und blau-gelber Nullen hat nämlich dazu geführt, dass der schlank gesparte Staat für die notwendigen Kontrollaufgaben einschließlich derjenigen des Parlaments gegenüber der Regierung, der kritischen Begleitung von Gesetzgebungsverfahren oder der Politikfolgenabschätzung, schlichtweg kein Geld für die notwendige Zahl von Kontrolleuren mehr zur Verfügung stellt, von dem notwendigen Expertenwissen einmal ganz zu schweigen. Im freien Spiel der Kräfte des Marktes sind die amateurhaften Volksvertreter längst zum Spielball der Interessenvertreter der Privatwirtschaft und wirtschaftlich tätigen Großverbände (=> Kirchen!) geworden. Kostensparende, aber ansonsten vollkommen blödsinnige Idee: Am besten kontrolliert jeder sich selbst, dann ist an alle gedacht bzw. sind alle bewacht. Dem Gemeinwohl nach neoliberaler Auffassung wird ohnehin am ehesten dadurch Rechnung getragen, dass die Lobbyisten der Politik direkt in die Gesetzesentwürfe hineindiktieren bzw. das an "Expertenwissen" in die "Ausschüsse" (ja, die heißen tatsächlich so) implementieren, was den Banken und der Großindustrie am meisten nutzt und eben hierdurch (angeblich) Arbeitsplätze schafft. Die schlafmützigen oder auch in anstößiger Weise "ausgeschlafenen" Parlamentarier (das sind die mit den vielen Nebentätigkeiten und der Anschlussverwendung bei Gazprom, Allianz, Deutscher Bahn oder anderswo) verstehen sowieso meistens nicht, worüber sie abstimmen. Deshalb hebeln sie in Nachtsitzungen auch gern mal Kontrollmöglichkeiten der Öffentlichkeit aus. Dann fällt nicht so auf, dass rein gar nichts mehr unter Kontrolle ist und sie im Zweifelsfall nicht mal erklären können, worum es eigentich geht. Zur Vollendung des Irrsinns braucht es dann nur noch überangepasste Staatsdiener, die sich aber mal so richtig dumm stellen können beim Durch-die-Finger-Sehen. Dreh' dich nicht um, denn der Plumpsack geht herum. Wer sich umdreht oder lacht (und seine Arbeit richtig macht), wird in die Psychiatrie gebracht. Nein, kein Witz. Nur ungereimtes Gereimtes aus dem damals noch schwarz-gelben Hessen (siehe Steuerfahnder-Affaire).

Diese Negativbilanz über das Kontrollieren und die Kontrolleure in der Bananenrepublik Deutschland darf die Verantwortlichen und sich mitverantwortlich Fühlenden natürlich nicht davon abhalten, weiterhin über die Qualitätssicherung in der Altenpflege und darüber nachzudenken, wie denn die Einhaltung der entwickelten oder neu zu entwickelnden Qualitätskriterien wirksam zu überprüfen wäre. Die DLF-Sendung "Was kommt nach dem Pflege-TÜV?" gab hier einige wichtige Anregungen.

Verbraucherschutzorganisationen stärker einbeziehen!

Die Vorschläge, die die zur Gesprächsrunde um das Hörfunk-Mikrofon versammelten Experten vortrugen, waren trotz der gebotenen Nüchternheit bei der Entwicklungs von Beurteilungsmaßstäben sicht- oder besser hörbar von dem Zorn über die zum Teil alarmierenden Mängel in der Altenpflege inspiriert. Einige ihrer Kernforderungen zur Weiterentwicklung des als "Pflege-TÜV" bekannten Systems der Qualitätsbewertung seien hier zusammengefasst:

  • Die Politik muss endlich die Weichen stellen, damit wir zu einem besseren Pflege-Transparenz-System kommen. Eine Verbesserung der Pflegequalität wird nur gelingen, wenn wir die Entscheidungsstrukturen verändern.
  • Die Leistungserbringer der Pflege dürfen mitreden bei der Bestimmung der Prüf- und Bewertungskriterien, sie dürfen aber nicht mit entscheiden. Hinzuzuziehen sind dagegen Verbraucherschützer und Betroffenen-Vertreter.
  • In gewissen zeitlichen Abständen sollten die zu Pflegenden selbst und deren Angehörige über anonymisierte Fragebögen dem MDK direkt über die Qualität der in Anspruch genommenen Pflegeleistungen berichten können.
  • Den Angehörigen von Pflegebedürftigen, die oft sehr kurzfristig mit der Aufgabe konfrontiert sind, nach einem Unfall oder bestimmten Krankheitsereignissen die richtige Pflegeeinrichtung auszuwählen, müssen staatlicherseits belastbare Basisinformationen für diese Auswahlentscheidung zur Verfügung gestellt werden.
  • Die Art der Veröffentlichung der Prüfungsergebnisse von Pflegeeinrichtungen muss grundlegend verbessert werden, denn diese genügt bisher in keiner Weise den Anforderungen an Vergleichbarkeit und Verständlichkeit. Wer heute zwei oder drei Heime vergleichen will, muss sich fünfseitige Listen mit 77 Prüffragen ausdrucken und aus diffusen Antworten oft selbst seine Schlüsse ziehen. Dies kann nur verändert werden, indem die Daten der Bewertung von Pflegeeinrichtungen nicht im System der Kassen verbleiben, sondern auch den Verbraucherorganisationen wie z.B. BIVA oder den Verbraucherzentralen zur Verfügung gestellt werden, damit diese hieraus verbraucherfreundliche Informationsportale erstellen können, die dann die Beantwortung von Spezialfragen oder allgemeine Rankings erlauben und hierdurch die Auswahlentscheidung erleichtern.
  • Zusammen mit Nutzerinformationen im o.g. Sinne könnte aus den veröffentlichten Prüfungsergebnissen eine zentrale Datenbank entstehen, die von Verbraucherseite, und nicht aus dem System der Anbieter und Kostenträger gesteuert wäre. Bei aller Kritik an der bisherigen Datenerhebung, dem Schulnotensystem u.a.m. könnten so auch aus dem bisherigen Datenaufkommen wesentlich präzisere Schlüsse gezogen werden.
  • Trotz aller denkbaren Verbesserungen im Bereich der Erfassung und Dokumentation der Qualität von Pflegeleistungen liegt der Schlüssel zu der Beseitigung unübersehbarer Mängel in einer Aufstockung des Personalbestands.
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