Internate: Renaissance eines Auslaufmodells?

Internatserziehung | Der Gedanke, den eigenen Kindern eine teure und bessere Ausbildung zu ermöglichen, ist wieder gesellschaftsfähig geworden. Können Internate von diesem Trend profitieren?

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Zu Anfang der 1990er Jahre herrschte Endzeitstimmung bei den Vertretern einer Institution, die sich einst des Rufs erfreut hatte, einen nicht unerheblichen Teil der geistigen Elite unseres Landes hervorgebracht zu haben: "Deutsche Internate vom Aussterben bedroht!" war ein Beitrag von Hans-Joachim Nöh in der WELT am SONNTAG (5. Juli 1992, S. 47) überschrieben, hatten doch die Allensbacher Meinungsforscher um Großdemoskopin Elisabeth Noelle-Neumann just in einer Umfrage herausgefunden, dass deutsche Führungskräfte in Wirtschaft, Politik und Verwaltung nur noch wenig von Internatserziehung hielten. Gerade noch jeder vierte Manager sei überzeugt, dass diese mehr sei als eine Notlösung bei Schul- und Erziehungs- sorgen und die Entwicklung von Kindern fördere.

Dieser Situationsbericht markierte den vorläufigen Höhepunkt eines langen Siechtums, das mit dem flächendeckenden Ausbau des weiterführenden Schulangebots in den 1960er Jahren eingesetzt hatte. Damit nämlich büßten die Internate ihre wichtigste Funktion ein, begabten Kindern aus unterversorgten ländlichen Regionen den Besuch eines Gymnasiums oder zumindest einer Realschule zu ermöglichen. Es blieben ihnen schließlich nur noch die Gescheiterten des staatlichen Bildungswesens und die Kinder aus problematischen Familienverhältnissen, die bis dahin vorzugsweise von den besonders teuren Instituten der reformpädagogischen "Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime" oder den zumeist ebenfalls hochpreisigen "Notenpressen" einzelner privater Schulunternehmer aufgefangen wurden.

"Pädagogische Mülleimer"

Uli Weyland schrieb Anfang der 1970er Jahre unter dem sarkastisch gemeinten Titel: „Internate –Eliteschulen der Nation?“ (ZEITmagazin Nr. 35, 1.September 1972, S. 4 f.):

„Abstellgleise für Schwierige", sagt Manuel, sein Freund Ulrich spricht gar von „pädagogischen Mülleimern". Da für viele Lehrer die Internate die letzte Station seien, da sie an Staatsschulen nicht lehren könnten, weil ihnen das zweite Staatsexamen fehle, seien An­stalten wie Schondorf, Salem oder Birklehof Orte, an denen oft mäßige Pädagogen schlechte Schüler unterrich­teten: Mülleimer der Pädagogik. “

Doch Mitte des Jahrzehnts hörte man ähnliche Klagen auch von den kirchlichen Internatsschulen und Schülerheimen. So war in "Deutsche Zeitung/Christ und Welt" vom 7. Mai 1976 zu lesen:

„Wie orientalische Lasten- oder Pack­esel müssen sich die Internatsleiter und -erzieher vorgekommen sein, als man ihnen noch eine weitere Last aufbür­dete. Früher, da wollten sie vielerorts eine katholische Elite heranbilden, manche gedachten auch so den nicht zuletzt aus den kinderreichen evangeli­schen Pfarrhäusern hervor-quellenden Bildungsvorsprung der Protestanten in etwa wettzumachen. Heute mehren sich die pädagogisch und schulisch schwierigeren Fälle; der Gedanke an eine Elite ist weitgehend passe. Die traditionelle Ausbildung der Erzieher reicht oft nicht mehr aus, be­rufsbegleitende Kurse werden stärker als bisher" ihren Stundenplan be-lasten. Sisyphus lässt grüßen.“

"Internate - Alternative oder Auslaufmodell?" lautete denn auch noch zu Beginn der Nullerjahre der fast besorgt klingende Titel eines Hörfunk-Features des NDR von Susanne Merkle und Hans Rubinich. Dort gab sich - trotz eines zwischenzeitlichen Anstiegs der Schülernachfrage - selbst die berühmte Schule Schloss Salem am Bodensee noch eher bescheiden als elitär, vermutlich weil das wieder zunehmende Interesse Ausdruck einer wachsenden Zahl von Problemkindern- und -jugendlichen war:

Sprecher: "Fast jeder hat den Namen schon mal gehört: Salem, das ist in den Köpfen immer noch die Schule für die ganz Reichen und ganz Prominenten: Der Mann der
englischen Queen, Prinz Philipp, ist hier zur Schule gegangen, Königin Sophia von Spanien, Golo Mann, Historiker und Sohn des Schriftstellers Thomas Mann,
oder auch die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher. Elitebildung vomBodensee, ein Image, das der Schule gar nicht immer Recht ist, erklärt Bernhard Bueb, der Leiter des Internats:

Zuspielung Bueb: „Ich behaupte immer, dass Salem die Schule in Deutschland ist, auf die das Volk seine Träume projiziert. Sie wollen gerne eine Schule haben, die
diesen Ruf hat. Wir können unternehmen, was wir wollen, wir können dagegen reden, wir werden diesen Ruf nicht los, deswegen haben wir eines Tages gesagt, dann leben wir eben mit dem Ruf, es hat keinen Sinn dagegen
anzugehen, Aber wir sind genauso für Reiche und Arme, wie andere Internatsschulen auch.“ [...]

Sprecher: "Es gibt für die Mittel- und Oberstufe mehr
Interessenten, als die Schule annehmen kann. Und schon bei der Auswahl seiner Schüler achtet Bueb nicht nur auf die schulischen Vorleistungen:

Zuspielung Bueb: „Ich möchte nicht eine Schule leiten, an der die Aufnahme an irgendwelche objektiven Kriterien gebunden ist. Also es muss einer ein Zeugnis haben von 1,5, sondern die Güte einer Schule bemisst sich ja auch danach, in wie weit man ein Kind von dem einen Ort zum anderen bringt, also wenn es in irgendwelchen Bereichen noch nicht so weit ist, es dann zu fördern, so dass es die Latte höher hängen kann, darin misst sich ja eigentlich die Güte einer Pädagogik und nicht daran ob man exzellente Schüler, die schon alles mitbringen, in ihrem Stadium noch bestätigt." [...]

Sprecher: "Die Schüler, die sich hier zum Mittagessen in der Kantine des Salem International College treffen, unterscheiden sich nicht unbedingt von ihren
Altersgenossen in staatlichen Schulen. Auch hier beklagt man mangelnde Ausdauer der Schüler, die häufig aber der Schule angelastet wird. Was dazu
führt, dass viele Kinder mittlerweile nicht mehr nur ein Internat in ihrem Leben besuchen, beklagt Lehrer Christoph Laumont."

Zuspielung Laumont: „Es ist doch auffällig, dass doch - glaube ich - heutzutage, als Reflex auf die soziale Mobilität, aber auch als Widerspiegelung von inneren Veränderungen, die Verweildauer in Internaten kürzer ist. Schülerkommen und gehen. Es kommt auch vor, dass Schüler sagen , das ist der falsche Ort, oder ich komme hier nicht rein. Oder dass man auch sagen muss wir müssen uns trennen, der passt nicht rein, das ist auch in Klasse 12 nicht zu leisten, erzieherisch. Oder wir können das medizinisch nicht leisten im Falle einer Sucht. Am schlimmsten ist Magersucht, es kommt vor, dass man magersüchtige Mädchen wegschicken muss, weil wir halt kein Sanatorium sind, keine Heilanstalt. Ich denke das hat sich leider doch gesteigert, aber auch da sind Internate keine Inseln.“

PR-Lüge "Imagewandel"

Nuller-Gate blieb Salem und Co. erspart. Dank einer beispiellosen PR-Kampagne, mit der man sich - wie einst der Baron Münchhausen - am eigenen Schopf aus dem Sumpf zog. Der Trick: Ungeachtet stagnierender Schülerzahlen und sinkender Schülerqualität zauberte man einen "Imagewandel" des Internats und einen Nachfrage-Boom seitens der "bildungsbewussten Mittelschicht" aus dem Hut.

In der SWR2 -Sendung "Impuls" vom 24.09.2007 mit dem Titel: "Warum Internate einen Imagewandel hinter sich haben" (Autor: Karl-Heinz Heinemann) behauptete der Salemer "Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit", Hartmut Ferenschild:

''Traditionell hängt uns dieses Klischee an, das Klischee, dass wir Reparaturbetriebe sind, Auffangbecken für Kinder und Jugendliche, die in irgendeiner Weise gescheitert sind, vielleicht auch für dumme, verwöhnte Kinder der Reichen. Das ist ein Klischee. Das mag vielleicht vor drei, vier Jahrzehnten auch mal so zugetroffen haben. Inzwischen gibt es 'nen Imagewandel, und die Eltern sind im Augenblick sehr stark damit beschäftigt, sich [nach] Alternativen zur - wie s i e meinen - schlechten staat-lichen Schule zu suchen.''

Die Dreistigkeit dieser gezielten Desinformation erkennt man bereits bei einem Vergleich dieser Aussage mit den wenigen Zitaten des Textanfangs. Und noch augenfälliger hätte dies für die Medien sein müssen, die bei einem Blick in ihre Archive leicht hätten feststellen können, dass das Mantra, Internate stellten im Gegensatz zu früher jetzt die bessere Alternative zur öffentlichen Tagesschule dar, bereits seit Jahrzehnten immer wieder aufgetischt worden war. Und jede Wiederholung strafte die vorherige Lügen. Trotzdem sprang die Journaille praktisch geschlossen auf diesen Orientexpress aus 1001 Nacht auf.

"Internatserziehung ist in den besseren Kreisen wieder 'in'", jubelte im Jahr 2009 Eva Buchhorn im Schul-SPIEGEL, sah dies aber auch verbunden mit "wachsenden Ansprüchen an die so teuren wie alteingesessenen Anbieter privater Bildung". Es gehe nicht mehr "um ein paar schöne Jahre in guter Luft und reizvollen Schlössern, sondern um tolle Leistungen, super Noten und eine maßgeschneiderte Vorbereitung auf die globalisierte Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts. "

"Die besten Internate arbeiten hart daran", so glaubte Buchhorn, "sich auf diese neuen Ansprüche einzustellen".

Wie verlogen die Image-Kampagne von Salem & Co. (einschließlich des skrupellosen Bashings öffentlicher Schulen) war, lässt sich an den höchst widersprüchlichen Aussagen ihrer Akteure nachweisen.

Bereits 1996 hatte das Magazin "FOCUS folgendes Statement der Vereinigung Deutscher Landerziehungs-heime nachgebetet:

>> Mangelndes Lehrerengagement, Gewalt und Drogen, so eine Umfrage der Vereinigung Deutscher Lander-ziehungsheime, sind die Hauptkritikpunkte an öffentlichen Schulen. „Die Eltern bringen ihre Kinder in Sicherheit“, bestätigt auch Hartmut Ferenschild vom Nobel-Internat Salem am Bodensee. <<

Doch noch vier Jahre später bezeichnete LEH-Sprecher Dr. Ferenschild „Hinweise auf die öffentliche Schulmisere“, mit denen seine Kundschaft die Entscheidung für eine Internatsunterbringung ihres Nachwuchses gern begründe, in einem Anfall von Ehrlichkeit als „Tarnmotive“, hinter denen sich die „Erosion der Erziehungsinstitution Familie“ verberge (vgl. „Welt am Sonntag“ vom 27./28. 05.2000, S. B 19).

In dem bereits zitierten SPIEGEL-Beitrag von 2009, der fälschlich einen "Boom der Internate" behauptet, tritt wiederum Ferenschild als Kronzeuge auf:

"Pisa-Studien, Unterrichtsausfall, achtjähriges Gymnasium und Lehrermangel trieben besorgte Eltern scharenweise in seine Beratung, berichtet der frühere Salem-Lehrer Hartmut Ferenschild, der heute Eltern bei der Suche nach dem richtigen Internat berät."

Doch derselbe Hartmut Ferenschild, der hier die massenhafte Flucht anspruchsvoller Eltern aus der Misere des öffentlichen Bildungswesens bezeugt, vertritt in einem ebenfalls 2009 veröffentlichten Redebeitrag vor internem (!!!) Publikum genau die gegenteilige Einschätzung:

"Wie sieht der Markt für uns LEH-Internate aus? Da ist zunächst vom Privatschulboom zu reden. Es gibt ihn nicht! [...] Wo kein Boom ist, können auch Internate nicht an ihm teilhaben. Nein: Die Nachfrage nach Internats-plätzen in Deutschland hat sich in den letzten Jahren kaum bewegt. [...] Zugleich sind uns neue Konkurrenten erwachsen, etwa die englischen Internate, denen sich immer mehr Eltern auf der Suche nach überzeugenden Angeboten zuwenden, und die Ganztagsschulen, die zwar einen großen bildungspolitischen Etikettenschwindel darstellen, die aber im einen oder anderen Fall die Gründe hinfällig machen, aus denen Familien früher eine umfassende Internatserziehung gewählt haben. Hinzu kommt die quantitative Bedrohung durch das 8-jährige Gymnasium – ein ganzer Schülerjahrgang wird uns in Zukunft fehlen – und durch zurückgehende Schüler-zahlen insgesamt.

Im Bereich der LEH-Internate kommen ein paar strukturelle Entwicklungen hinzu, die optimistische Anwandlungen auch nicht befördern. Sie berühren den Kern unserer Markenidentität – wenn Sie mir diese verbale Entgleisung ins Marketing-Deutsch erlauben. Es geht um die Gefährdung der Einheit von Schule und Internat. Das alte LEH-Personalmodell des Lehrer-Erziehers, also des Internatslehrers, der im Unterricht seine Fächer vermittelt und zugleich auch seinen Lebensalltag mit einer Gruppe von Schülern teilt, hat an Verbindlichkeit verloren. Solche Lehrer-Erzieher machen an unseren Internaten nur noch ca. 70% der pädagogischen Mitarbeiter aus, Tendenz abnehmend. Auffallend ist ferner eine stärkere Fluktuation. Für immer mehr Pädagogen sind die Landerziehungsheime keine Lebensform mehr, auf die man sich dauerhaft einlässt, eher eine berufliche Durch-gangsstation. Dem entspricht auf Schülerseite zweierlei: erstens auch hier eine abnehmende Verweildauer; zweitens die Metamorphose zum Tagesschüler. Die Zahl derer, die bei uns keine Internen sind, sondern nur noch tagsüber als Externe oder „Tagheimer“ an einem Teil unseres Programms teilnehmen, nimmt rapide zu, derzeit macht sie rund 50% aus, mit allerdings großen Unterschieden zwischen den einzelnen LEH-Internaten.
Unsere Idee von Internat als zweitem Zuhause, als Lebens- und Lernort für Lehrende und Lernende, ist zurzeit nicht besonders attraktiv. Wir halten uns zahlenmäßig so gerade eben auf Niveau. Es gibt in der LEH-Szene wohl niemanden, der die oben skizzierte Gesamtlage nicht mit gemischten Gefühlen betrachtet."

Ein Jahr später wurden die Gefühle dann allerdings noch gemischter, als die vermeintlichen Rettungs-Inseln , auf denen anspruchsvolle Eltern angeblich ihre Sprösslinge vor dem Morast staatlicher Schulen "in Sicherheit" zu bringen suchten, als Tatorte von sexuellem Missbrauch und Gewalt entlarvt wurden. "Wenn die Insel zur Hölle wird", titelte nun plötzlich FOCUS-Online (11/2010). Die journalistische Kampagne vom "Imagewandel" der Internate endete in einem totalen Fiasko.

Doch nur kurz waren Scham und Betroffenheit. Schnell sollte wieder Gras über den Skandal wachsen. "Denn", so stellte Jeanette Otto in der ZEIT vom 31.03.2010 fest, "Internate sind mehr als reformpädagogische Inseln, auf denen Schule als echter Lebensort ganz neu definiert werden sollte; sie sind vor allem Wirtschaftsunternehmen, die sich einen Ansehensverlust, wie er ihnen in diesen Wochen droht, schlicht nicht leisten können."

Heute - die Enthüllungen von 2010 sind längst noch nicht aufgearbeitet - lesen sich die von den PR-Abteilungen der Wohnschulbranche und den Sonderbeilagen der "Leitmedien" verbreiteten Geschichten aus der schönen Märchenwelt der Luxusinternate traumhafter denn je; so als hätten die Internatspropagandisten und ihre Medienknechte das lange Gras des Vergessens nicht nur über die Verbrechen der Vergangenheit wachsen lassen, sondern selbst geraucht.

Geändert hat sich seit dem "Annus horribilis 2010" nur wenig. Zu wenig. Stattdessen Beschönigungen voller Selbstmitleid, die üblichen Absichtserklärungen und zuweilen diskrete Entschädigungszahlungen an die Opfer. Nach dem Image-Gau der Missbrauchsskandale gelobte Internatswerber Ferenschild, man werde jetzt "kleinere Brötchen" backen (vgl. DIE ZEIT vom 03.02.2012). Kein Internat könne heute mehr sagen: Schau mal her, wie toll wir sind. "Wir müssen uns unseren Ruf erst wieder erarbeiten."

Doch inzwischen wurde uns demonstriert, dass man auch mit kleineren Brötchen den Mund reichlich voll nehmen kann. Es nötigt fast Respekt ab, wie die Schule Schloss Salem es verstanden hat, aus dem Missbrauchsskandal als "Sieger der Debatte" herauszukommen, sich nach sechsjähriger Leitungskrise mit dem von einem staatlichen Hochbegabteninternat in Sachsen-Anhalt abgeworbenen Bernd Westermeyer als "Marke des Jahrhunderts" zu inszenieren und die durch rückläufige Schülerzahlen erzwungene Umwandlung des erst im Jahr 2000 auf historisch kontaminiertem Baugrund (ehemaliges KZ-Außenlager Überlingen-Aufkirch) prunkvoll eröffneten "International Salem College" in ein "Postabiturienten-heim" für nicht studierfähige Schulabsolventen als zukunftweisendes "Leuchtturmprojekt" (Lokalpresse: "Salem-Akademie stärkt Übergang vom Abitur zum Studium. Das Projekt soll die 'Leuchtturm'-Qualität der Internatsschule untermauern.") zu verkaufen.

Herrlichen Zeiten entgegen?

Welche Zukunft haben die deutschen Internatsschulen und Schülerheime? Neugründungen von Internatsschulen blieben Ausnahmen. Unmittelbar nach der Wende wurden einzelne staatliche Institute für allgemein Hochbegabte oder Spezialbegabungen geschaffen (oder zumindest nicht geschlossen). Institute wie die Landesschule Pforta, St. Afra in Meißen, das Heinrich-Heine-Gymnasium in Kaiserslautern, das Landesgymnasium für Hochbegabte in Schwäbisch Gmünd oder das Oberstufeninternat Schloss Hansenberg im Hessischen Geisenheim gehören fast schon wieder zu den Etablierten. Das ambitionierte Projekte eines Elite-Campus mit zwei Internatsschulen auf der Insel Sylt scheiterte Anfang des Jahres 2012. Noch in diesem Jahr soll das erste deutsche United World College bei Freiburg eröffnet werden. Das Institut, das ausschließlich Stipendiaten aufnimmt, ersetzt aber praktisch nur das am Bodensee geschlossene "Salem International College". Derweil stellt still und leise ein kirchliches Internat nach dem anderen den Betrieb ein. Aus Kostengründen.

Einige Bewegung gibt es bei den Sportinternaten, die aber zumeist an öffentliche Schulen angegliederte Wohnheime sind. Nur wenige sind frei zugänglich. Wer aufgenommen werden will, muss bereits die Zugehörigkeit zu einem Leistungskader erreicht haben oder ein hartes Sichtungstraining absolvieren. Die sportlichen Erfolge, die mit Unterstützung solcher Sportinternate erzielt werden, sind gut für das Image des Internats allgemein. Aber sie bilden eine eigene Welt, die mit Internatserziehung im traditionellen Sinn wenig gemein hat.

Der Hauptwachstumsbereich der Wohnschulbranche liegt wahrscheinlich nicht bei den Luxusbezahlschulen für die Aristokratie der Bankauszüge. Hier scheint der Markt gesättigt, allem Werben um neue Mittelschichtkundschaft zum Trotz. Zuwächse sind am ehesten noch im Bereich staatlicher bzw. kommunaler Einrichtungen zu erwarten. Und hierbei dürfte es sich weniger um neue Internatsschulen handeln als um gemischte Wohnheime, die es erlauben, Schüler unterschiedlicher - zunehmend auch beruflicher anstatt allgemeinbildender Schulformen -an bestimmten Standorten zu konzentrieren. Denn durch die demografische Entwicklung wird praktisch die Zeit zurückgedreht. Hatte man einst die weiterführenden Schulen aufs Land gebracht, steht künftig so mancher Schulstandort zur Disposition. Wer dann in einer ausgedünnten Schullandschaft nach Höherem strebt oder in einem Nischen-Beruf der Berufsschulpflicht nachkommen will, ist auf eine zwischenzeitlich totgesagte Institution angewiesen: das gute alte Schülerwohnheim.

Chancen außerfamili- aler Erziehung - Inter- nate und Tagesinter-nate Prof. Dr. Heiner Barz

Missbrauch - Mobbing - Traumatisierung: Die unendliche Geschichte der Internatserzie- hung.

"Es war die grauenhafteste Zeit in meinem Leben": Sexuelle Übergriffe, psychische Erniedrigungen und schwere Züchtigungen - Kabarettist Michael Lerchenberg ist nach eigener Aussage als Schüler im katholischen Internat von St. Stephan in Augsburg mehrmals misshandelt worden.

Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 19.01.2014

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