„Gespräch über die Trauer“ von Olga Martynova: Eine Art von Trost in Neapel
Verlust Vier Jahre lang schrieb die Dichterin Olga Martynova an ihrem Buch „Gespräch über die Trauer“: Es geht um den Sprachverlust angesichts des Todes eines geliebten Menschen und den Trost, den die Autorin in Neapel fand
Vier Jahre lang schrieb die Dichterin Olga Martynova an ihrem Buch „Gespräch über die Trauer“
Foto: Gaëlle Deleflie
Zu den großen Stärken der Erzählerin und Lyrikerin Olga Martynova gehört seit Jahren, dass sie das Schwere leicht werden lässt, ohne es zu vereinfachen. Dazu gehören Disziplin und die Bereitschaft, sich zu wundern, sprich: nicht das letzte Wort haben zu wollen. In ihrem in Italien abgeschlossenen vierjährigen Trauer-Journal erweist sich diese Bereitschaft als Gabe. Wenn es nicht so abgedroschen klänge, könnte man schreiben, es sei ein Buch über das Wundern, das aus einer sich nicht schließenden Wunde resultiert – eine Reise in die Welt des Unglücklichen, die laut Wittgenstein eine andere ist als die des Glücklichen. Olga Martynova sagt es so: „Warum bleiben, wenn man weint, trockene Tropfenspuren an den Brillengl&
gläsern, wie der vergangene Regen an der Frontscheibe, obwohl die Tränen nach unten gleiten und die Gläser nicht berühren?“Ein Schock, der andauertAm 5. Juli 2018 starb in Frankfurt am Main der vielfach ausgezeichnete deutsch-russische Dichter Oleg Jurjew, Olga Martynovas Mann. Obgleich er seit Langem schwer krank war, traf sein Tod die Menschen um ihn unvorbereitet. Begraben liegt er auf dem jüdischen Friedhof in St. Petersburg. Dass seine Frau und der gemeinsame Sohn, der Übersetzer Daniel Jurjew, als Regimegegner das Grab nicht mehr besuchen können, fügt sich zu einem Phantomschmerz, der auch den russischen Überfall auf die Ukraine zu einer persönlichen Angelegenheit macht, zu einem Teil jenes „Schocks, der andauert“. Das Gespräch reagiert darauf als tagebuchartiges Selbstgespräch, als Versuch, Zeit und Ort ins Lot zu bringen. Immer wieder wird es unterbrochen von den Zeitablauf sprengenden Aus- und Rückblicken, Essays, gesondert gruppiertem Material. Dazwischen gibt es Gedichte, die meisten von Oleg Jurjew, aber nicht ausschließlich. „Zum Wasser will / alles. / Wasser will weg. / Ich nicht.“ Hier legt sich die Autorin Worte von Paulus Böhmer in den Mund.Die da spricht, will dem Tod standhalten, wenn sie ihn schon nicht aufhalten kann. Sie errichtet einen Damm, um einen Balkon draufzusetzen. Oder einen Leuchtturm. Die Trauer wirft ihr ganz eigenes Licht, am Tag wie in der Nacht, und so wird die Trauernde zur Sammlerin. Wie im Mythos von Orpheus und Eurydike ist es ihr unmöglich, sich nicht umzudrehen, doch je länger man in Gedanken bei den Toten verweilt, umso mehr empfindet man sein Schuldig-Sein, umso mehr wird man schuldig: „Orpheus wusste nach dem Umblicken, dass Eurydike tot ist. War dieses Wissen sein Fehler?“Man könnte, gerade bei einem Buch, in dem so viele Dichter auftreten, meinen, Trauer sei der Modus des sich vergewissernden, intensiven Selbstgesprächs. Dann würde man Trauer als etwas heftigere Melancholie auffassen, die angeblich den Künstler erst zu seinen Werken befähigt, ihn seine spezifische Genauigkeit lehrt. Man denke bloß an den berühmten Stich von Albrecht Dürer. Auch der französische Literaturtheoretiker Roland Barthes, der in Martynovas Buch mehrmals vorkommt, hat der Trauer großen Platz eingeräumt, ja, die Trauer um seine Mutter war Teil seiner „Vorübungen“ für einen Roman, in dem auf inhaltlicher Ebene das Begehren der Zeichen nach ihrer unerreichbaren Bedeutung – als Quelle der Lust an der Sprache sowie der Trauer darüber, dass wir nur sie besitzen – durchgespielt werden sollte. Die Trauer, die Klage würden so gesehen die Bedingung des Sprechens selbst artikulieren: den Umstand nämlich, dass stets etwas fehlt. Aber genau dann fehlte es doch der Sprache an nichts. Wäre dann die Trauer der Dichterin nicht schlicht ihr Tribut an die Sprache?Auf derlei ästhetische Befriedung und voreilige Versöhnung lassen sich die Eintragungen Olga Martynovas nicht ein. Am nächsten steht ihr vermutlich Elias Canetti, der über jeden Tod untröstlich war und die Bewältigung des Todes, den gelungenen Abschied, verwerflich fand. Er empfahl, „sehr darauf zu achten, dass man sich mit dem Toten nicht einsperrt (…). Man soll, ohne aufdringlich zu sein, zu Menschen von ihm sprechen und ihn nicht durch Isolierung entstellen.“ Dass man ohne den Anderen sich jemals ganz fühlen könne oder Erleichterung in der repräsentierten Trauer fände, verneinen Canetti wie Martynova. Die Leerstelle, die der Tote in uns gräbt, hält uns besetzt – Befreiung gibt es nur, indem der Skandal seines Todes unser Skandal wird. Dafür aber gilt es die Grenze zwischen Lebenden und Toten immer neu zu durchlöchern.Die Sprache der LiebeEin solches Ineinander des Anwesenden und Abwesenden (nicht bloß des Abwesenden im Anwesenden, auch umgekehrt), und damit vielleicht doch eine Art Trost, entdeckt die Autorin schließlich in Neapel. Oder sie wünscht es dort zu sehen. Neapel präsentiert sich selbst gern als Stadt mit einem privilegierten Zugang zur Unterwelt, wie ebenfalls St. Petersburg. Zudem gibt es in Neapel einen Totenkult, der sich seit mehreren Jahrhunderten im rituellen Umgang mit anonymen Schädeln manifestiert. Diese werden im Traum „erkannt“, adoptiert und als Avatare für den Umgang mit jenseitigen Mächten eingesetzt. Sie können einen auch zu den eigenen Toten führen. Sie halten die Stadt in der Schwebe zwischen dieser und einer anderen Welt, und sie erinnern daran, dass jede Fortschrittsideologie in erster Linie eine Unhöflichkeit gegenüber den Toten begeht.„Neapel, wo ich von einer nicht russischen und nicht deutschen Sprache umgeben bin, passt zum Sprachverlust, der Olegs Tod für mich ist.“ Olga Martynova hat in Italien auch auf Italienisch zu schreiben begonnen. Ist es nicht ohnehin so, dass ein Schriftsteller mit jeder Sprache einen literarischen Umgang pflegt? „Hauptsache, man schreibt. Egal in welcher Sprache.“Die Trauer ist keine Sprache. Aber sie ist vielleicht doch eine Weise, in der sich die Sprache selbst kundgibt – als Sprachverlust, das heißt, als Verlust der Sprache an jemanden, als Sprache der Liebe.Placeholder infobox-1
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